Mein jüngerer Bruder, Realschüler, und ich, Student, befanden uns in meiner 1-Zimmer-Wohnung. Es war spät abends geworden, wir saßen auf unseren Sofas und schauten ein Fußballspiel an, dessen Übertragung über Sky lief. Das Sky-Komplettpaket hatten wir erst kürzlich bestellt und uns den Luxus „gegönnt“, obwohl wir beide weder viel fern schauten, noch Interesse an irgendeinem Fußballspiel hatten, ohne dafür einen Tippschein abgegeben zu haben. Deshalb hatten wir beide auch für diesen Abend einen Tippschein, die Einsätze betrugen jeweils 100 EUR, die Gewinnchance lag ungefähr bei 500 EUR. Beim Abpfiff des Spiels war ich um 400 EUR reicher. Der Donnerstag schien ein schönes Ende zu haben. Doch mein Bruder wollte Geld abheben gehen. Illegal erwirtschaftetes Geld von einem gefälschten Bankkonto, oder in der Szene auch bekannt als „Bankdrop“. Ich hingegen meinte, dass ich zu später Stunde nicht raus will, und dass ich morgens Vorlesung habe. Verstrahlt vor lauter Glück durch den gewonnen Wettschein, erwischte mich mein Bruder an meiner Schwachstelle: „Lass uns doch deinen Wettschein einlösen und dann können wir auch gleich 1.000 EUR abheben, sonst geh‘ ich morgen früh alleine abheben, während du in der Vorlesung bist.“ Ich war am Überlegen: „Bist du verrückt, du kannst doch nicht alleine gehen, warte einfach auf mich, wir gehen am Wochenende das gesamte Guthaben abheben.“ Er war wieder überzeugend: „Bruder, ich hab‘ kein Geld, was soll ich den ganzen Tag machen bis du kommst, entweder wir gehen jetzt, oder ich geh morgen alleine.“

Ich ließ mich oft von ihm überreden, obwohl ich der ältere von uns beiden war. Er war derjenige, der den Schal um den Hals und Mund wickelte, die Sonnenbrille trug und den Motorradhelm aufsetzte. Um dem ganzen Auftreten noch einen „Motorradfahrer“-Look zu verpassen, hatten wir eine Motorradlederjacke besorgt. Die Handschuhe, die er trug, dienten dazu, keine Fingerabdrücke auf der Bankkarte zu hinterlassen, falls diese vom Automaten eingezogen würde. Zur Sicherheit desinfizierten wir die Karte vor jedem Abhebevorgang. Der Schisser von uns beiden war ich, denn ich stand nur Schmiere. Ziemlich nutzlos war das Schmiere-Stehen. Was sollte es schon gegen ein dutzend LKA-Beamten nutzen Schmiere zu stehen?! Dies erkannte ich an diesem Abend. Mein Bruder hob 1.000 EUR ab, kam in meine Richtung, knapp 150 Meter stand ich entfernt von Ihm. Wir waren am Marktplatz unserer Stadt. Keine Menschenseele war zu sehen. Außer dieser eine Typ, der mit seinem Rücken an der Außenfassede eines Gebäudes angelehnt war und auf sein Handy starrte. Mein erster Gedanke war, dass er auf einen Kumpel wartet, der wohl in der Kneipe, welche gegenüber lag, seinen letzten Drink kippte.

Mein Bruder übergab mir den Helm, die Bankkarte und die abgehobenen 1.000 EUR. Er zündete sich eine Zigarette an, ich war und bin Nichtraucher. Paranoia war stets normal und üblich bei uns, genau wie dieses Mal, als wir Richtung Tipico-Laden liefen und ein Mann mit einem schnelleren Schrittempo uns zu verfolgen schien. Ich wusste nicht, ob ich zu paranoid war, ich blickte immer wieder nach hinten: „Verfolgt der uns?“ flüsterte ich meinem Bruder beim Gehen zu. Er warf seine Zigarette weg, blickte nach hinten: „Keine Ahnung, vielleicht schieben wir Paranoia“. Wir liefen etwas schneller, doch der Mann hielt mit uns mit. „Lass uns in ne Gasse gehen, folg mir einfach.“ Eine spontane, undurchdachte Entscheidung. Wir bogen rechts ab, der Mann, der uns zu verfolgen schien, ging auf die andere Straßenseite rüber. Er wollte wohl nicht, dass wir noch mehr Verdacht schöpfen. Nun trennten den Mann und uns eine Hauptstraße. Dennoch gingen wir in eine dunkle Gasse rein. Was für ein Zufall, es war tatsächlich eine Sackgasse, bzw. der Innenhof eines Hauses. Doch es war sicherlich kein Zufall, dass aus dem Nirgendwo ein weiterer Mann in die Gasse/dem Innenhof rein kam. Das wurde uns schnell bewusst. Wir verließen den Innenhof, der Mann kam uns entgegen, doch lief nur an uns vorbei. Als wir aus dem Innenhof wieder auf die Straße gelangten, läuteten unsere Alarmglocken. Der Mann, der uns von Anfang an verfolgt hatte und auf die gegenüberliegende Straßenseite gegangen war, stand direkt vor uns. Doch er tat dennoch so, als sei nichts Ungewöhnliches dabei gewesen. Mein Bruder und ich liefen in eine andere Gasse rein und rannten. Wir rannten so schnell, da hätte Forest Gump mit uns nicht mithalten können.

Nach einigen Minuten kamen wir irgendwo in der Innenstadt dann zum Stehen und verschnauften erst einmal. Wir beredeten die ganze Situation und kamen zu dem dummen Entschluss, dass es keine Polizisten gewesen sein können, da wir sonst nicht hier stehen würden und die uns verhaftet hätten. Zudem hatten wir gedacht, dass es nicht so leicht sein kann, den Polizisten zu entwischen. Auch Sirenengeräusche waren nicht zu hören, wir waren zu entspannt. Es war 00:03 Uhr, als sich mein Bruder erneut vermummte und diesmal von einem anderen Geldautomaten nochmal 1.000 EUR abheben wollte. Denn es gab ein tägliches Abhebelimit in Höhe von 1.000 EUR, ab 0.00 Uhr konnten wir also erneut 1.000 EUR abheben.
Doch der Geldautomat schien defekt zu sein. Er kam wieder zu mir her, ich war erneut Schmiere gestanden. Wir entschieden uns nach Hause zu gehen und es nicht erneut bei einem anderen Geldautomaten zu versuchen. Vor allem war noch ein mulmiges Gefühl aufgrund der Ereignisse von vor einer halben Stunde da.
Mein Bruder holte sich noch eine Schachtel Zigaretten vom Automaten und wir liefen in die Richtung, in der auch der Geldautomat war, bei dem wir schon heute abgehoben hatten.

Ich fällte eine Entscheidung, die meine nächsten 3 Jahre verändern sollte.
„Komm, wir gehen jetzt wieder zu dem Geldautomaten dort, da hat alles funktioniert.“

Mein Bruder war ganz verdutzt: „Willst du mich verarschen, lass uns einfach nach Hause gehen, will da nicht hin. Wir haben schon 1.000 EUR abgehoben.“ Ich war derjenige, der diesmal Überzeugungsarbeit leistete: „Als ob das Bullen waren, die hätten uns doch längst erwischt und verhaftet. Wir laufen seit ner halben Stunde in der Stadt herum. Komm jetzt einfach, dann müssen wir nicht Freitagabend wieder abheben gehen.“ Er rauchte seine Zigarette zu Ende, wir liefen in Richtung des Geldautomats. Der Motorradhelm war in meiner Hand, die Karte bei meinem Bruder.
Als wir uns dem Geldautomaten näherten, sahen wir eine rothaarige, ältere Frau. Sie sah uns an, als hätte sie einen Geist gesehen. Tippte irgendwas in ihr altes Handy (war nämlich kein TOUCH-Handy) und auf einmal raste ein Auto in unsere Richtung, machte eine Vollbremsung und ein Mann stieg aus. Ehe ich begriff, was geschehen war, rannte mein Bruder schon los. Der Mann schrie: „Stehen bleiben! Polizei!“.

Ich rannte los, meinem Bruder hinter her. Über die Brücke, zu einem Park. Mein Bruder rannte nach links, ich entschied mich nach rechts zu rennen. Als ich hinter mich blickte, sah ich fast ein Dutzend Leute, Beamte wohl gemerkt, hinter mir her rennen. Keiner verfolgte meinen Bruder. Dies lag wohl daran, dass ich den Helm in der Hand hatte und somit der Hauptverdächtige war. Diesen Helm ließ ich fallen, ein Beamter stürzte. Später wurde mir vorgeworfen, ich hätte den Helm absichtlich auf den Beamten geworfen. Doch ich ließ den Helm nur fallen, da dieser Ballast beim Rennen war. Lustigerweise schaffte es ein einziger Beamter mit mir mitzuhalten. Ich muss zugeben, normalerweise renne ich nicht schnell, doch in diesem Moment habe ich mich selbst übertroffen. Der Beamte war dicht hinter mir, ich versuchte eine ruckartige rechts Bewegung zu machen, dabei fiel er um, berührte mich jedoch an meinem Rücken. Dies brachte mich aus dem Gleichgewicht und ich fiel um. Nachdem ich mich aufgerappelt hatte, stand ich regungslos da. Hatte keine Energie mehr mich zu bewegen. Ich war wie gelähmt. Keinen Augenblick später warfen sich 3 LKA-Beamte auf mich. Zückten ihre Ausweise und der erste Satz hieß: „Sie sind verhaftet! Verstehen Sie mich?! Können Sie deutsch?“