Endlich, die Ermittlungen hatten ein Ende. Die Anklageschrift glich meinem Geständnis, die darin aufgezählten Informationen und Erkenntnisse hatten sie mehrheitlich unseren Geständnissen zu verdanken. Die Beweise hatten sie alle auf dem Rechner gefunden, denn ich war derjenige gewesen, der das Verschlüsselungspasswort genannt hatte. Ich war sauer, dass die sogenannten Ermittlungen sich so in die Länge gezogen hatten und schlussendlich doch nur in der Anklageschrift das stand, was ich schon vor Monaten der Bundespolizei München mitgeteilt hatte. Gedanken, wie „Hätte ich kein Geständnis abgegeben, wäre ich nun wahrscheinlich frei“ – machten sich in meinem Kopf breit. Nachdem ich mich in meiner Zelle beruhigt hatte, und die Glocke zur Freizeit läutete, begab ich mich mit der Anklageschrift zu den Türken. In der Hoffnung, dass sie mir sagen konnten, was für ein Urteil ich mit dieser Anklageschrift zu erwarten habe, reichte ich die Anklageschrift von Häftling zu Häftling weiter. Jeder wusste seinen Senf dazuzugeben. Das Ergebnis gefiel mir in der Bilanz jedoch überhaupt nicht. Zwar waren viele verschiedene Meinungen dabei, jedoch nicht jene, die ich mir so sehr gewünscht hatte: „Du wirst bei deinem Geständnis auf jeden Fall beim Gerichtstermin entlassen.“ Dennoch bekam ich von Tayfun einen heißen Tipp: „Beantrage doch eine Telefongenehmigung, dann kannst deine Familie einmal die Woche für 10 Minuten anrufen. Wenn die Ermittlungen zu Ende sind, werden die dir das genehmigen, da du ja quasi nichts mehr verraten kannst.“

An diesem Abend zückte ich meinen Stift und schrieb an die Staatsanwaltschaft, mit der Bitte um eine Genehmigung für Telefongespräche mit meiner Familie. Im Zuge dessen verfasste ich meinen ersten Brief an meinen Bruder Cem, der noch in Stammheim saß. Die überaus emotionalen Zeilen, die ich verfasste, waren mir zu diesem Zeitpunkt keineswegs peinlich. Während ich versuchte, ihm näher zu bringen, dass es mir in der JVA richtig gut ging, und ich dem Brief sogar eine Zeichnung des Teiches beilegte, entschuldigte ich mich bei ihm für seine missliche Lage und versicherte ihm, dass bald alles besser werden würde.

Es verging einige Zeit, bis ich eine Antwort von Cem bekam. Er sorgte dafür, dass ich jede meiner Zeilen an ihn bereute und in mir das Gefühl aufkam, ich hätte ebenso für die Mülltonne schreiben können: „Heul nicht wie eine Schwuchtel“, stand zu Beginn des Briefes. Ein paar seiner selbstgetexteten Rap-Zeilen hatte er mitgeschickt, ansonsten hatte er nicht viel mitzuteilen, außer, dass es in Stammheim „hart“ zu Sache ginge.

Meine kleine Schwester hingegen schickte mir immer wieder wunderschöne und kindliche Zeichnungen zu, und bezeugte mir immer wieder in ihrer süßen, krakeligen Schrift ihre niemals endende Geschwisterliebe.

Nach einigen Tagen kam endlich die Telefongenehmigung der Staatsanwaltschaft an. Auch, wenn ich wöchentlich meine Eltern sah, waren die 30 Minuten Besuchszeit keineswegs genug. Die zehn Minuten Telefonat pro Woche zusätzlich waren da ein willkommenes Entgegenkommen. Sofort vereinbarte ich mit dem Beamten einen Termin während der Freizeit: „Es wird nur Deutsch gesprochen und wir müssen mithören“, wies mich der Beamte an, bevor er die Festnetznummer meiner Eltern wählte und ich zum Hörer greifen durfte.

Meine Mutter ging ran und war positiv überrascht, mich am Telefon zu hören. Nachdem ich ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte und sie auf das Zeitlimit hingewiesen hatte, fragte ich etwas beschämt: „Ist die Kleine da?“

Ich hörte, wie meine Mutter nach ihr rief und ihr sagte: „Emre Abi ist am Apparat.“

Es war viel zu lange her, dass ich das letzte Mal ihre Engelsstimme gehört hatte: „Emre Abi?“, ertönte sie. In dem Augenblick wurden meine Augen feucht, ich bekam Gänsehaut und war sogar leicht aufgeregt: „Mein kleiner Engel! Wie geht es dir?“ Ich war auf einmal überfordert mit dem Gespräch, was sollte ich ihr bloß auf die Frage antworten, wo ich bin, wenn sie fragen würde? Sie antwortete mir auf Türkisch, dass es ihr gut ginge und begann, vom Kindergarten zu erzählen. Auf den Hinweis, dass sie doch bitte Deutsch reden möge, reagierte sie kurz, indem sie die folgenden Sätze auf Deutsch begann. Doch sie fuhr immer wieder auf Türkisch fort. Der Mimik des Beamten, der an einem anderen Hörer unser Gespräch mithörte, entnahm ich, dass er die türkische Sprache tolerierte – wahrscheinlich, weil es sich um ein kleines Kind handelte. Sie war in Erzähllaune, für mich ein Genuss für die Ohren, und ihre phantasievollen Erzählungen projizierten wie von selbst die Bilder dazu in mein Gehirn. Die Zeit verging so schnell, dass ich sie leider mitten im Satz unterbrechen musste: „Engelchen, ich muss jetzt leider auflegen. Ich liebe dich sehr! Ich werde hoffentlich bald daheim sein, aber ich habe aktuell sehr viel zu tun in der Uni.“ Es fiel mir schwer, ihr ein Versprechen zu geben, dessen Einhaltung nicht in meiner Macht lag. „Ich liebe dich auch, Emre Abi! Komm bald, ich vermisse dich!“, und mit einem Knutschgeräusch und einem quietschvergnügten „Tschüss!“ verabschiedete sie sich von mir.

Die Tage vergingen, und ich wartete darauf, dass endlich meine Gerichtstermine eintrudelten. Und er kam – viel zu schnell, und vor allem unspektakulär: mein erster Geburtstag in Haft. „Alles Gute Bruder, ich hoffe, Du musst keinen weiteren Geburtstag mehr hier drin verbringen“, war grundsätzlich das, was ich von meinen Mithäftlingen zu hören bekam, wenn sie von meinem Geburtstag erfuhren.

„Herr Nils, Sie hatten Recht, ich werde wohl Weihnachten hier verbringen!“ Das musste ich auch mir selber langsam eingestehen. Immerhin war es schon der erste Dezember. Herr Nils grinste nur: „Ich hoffe für dich, dass es auch dein letztes Weihnachten in Haft wird.“

Ich schrieb einen Brief an meine Zwillingsschwester, sie hatte ja schließlich auch Geburtstag. Wenigstens der Briefverkehr mit ihr war intensiv, sie schrieb mir fast wöchentlich. Der nächste Besuch stand auch wieder an. Ich machte mich frisch, indem ich mich in die Dusche begab, mir Creme auf das Gesicht schmierte und etwas Haarwachs in die Haare gab. Bei jedem Mal wurde ich besser darin, und so sah meine Frisur inzwischen recht ansehnlich aus – verglichen mit meinen Anfangsversuchen mit irgendwelchen Tiegeln und Töpfchen der Haarkosmetik. Mit meiner Jogging-Hose und meiner Trainingsjacke ging ich dann wie ein richtiger Kanake in den Besucherraum. „Draußen“ wäre ich so niemals vor die Leute getreten, doch vor allem an meiner Kleidung konnte ich nichts ändern, da nur solche „Schlabberklamotten“ erlaubt waren. Ich konnte meinen Augen genauso wenig trauen, als ich sie sah, wie sie ihren, als sie mich sah: Nicht meine Eltern, sondern meine Zwillingsschwester stand zuerst vor mir! Erneutes Gefühlschaos füllte die Stimmung des Raumes, sieben Monate waren vergangen, seit ich meine Zwillingsschwester zuletzt gesehen hatte. Wir umarmten uns so fest, wie ich meine Mutter zu Anfangszeiten immer umarmt hatte. Tränen flossen aus den Augen meiner Schwester: „Schwesterchen, hör auf zu weinen. Engel weinen doch nicht.“ Dies sagte ich in einem humorvollen Ton, sodass sie lächeln musste. Meine Mutter war auch dabei, die ich ebenfalls fest drückte. Sie schien auch von dem Wiedersehen ihrer Zwillinge gerührt zu sein. Der Tisch war bedeckt mit mehreren Süßigkeiten und Kaffee: „Wir haben heute eine Stunde Besuch und werden nicht mehr akustisch überwacht, nur noch optisch“, wies mich meine Schwester auf die neuen Regelungen hin, als ich nach dem fehlenden Beamten im Besucherraum Ausschau hielt. „Wir dürfen dann türkisch reden?“, wollte ich wissen. Auch wenn es keiner von uns dreien richtig beantworten konnte, so war die Antwort wohl klar. Endlich konnte ich mit meiner Mutter auf einer Wellenlänge reden, endlich konnte sie mir besser erzählen, wie es ihr ging, endlich konnte ich meine Gefühle besser zu Ausdruck bringen und endlich konnte ich ihre türkische Stimme hören, die familiäre Nähe besser spüren, die sich eindeutig auch sprachlich manifestierte. Die deutsche Sprache wurde selten in unserer Familie zur Kommunikation benutzt, umso stärker war das Fremdheitsgefühl, wenn wir uns in deutscher Sprache unterhielten. Mit meiner Zwillingsschwester jedoch kommunizierte ich zum Großteil auf Deutsch. „Es tut mir so leid, dass ich dich bisher nicht besuchte habe, Emre! Papa hat es nicht zugelassen, er redete etwas vonwegen ich solle deinen Zustand nicht sehen, es würde mir nicht guttun. Doch dich gar nicht zu sehen, hat mir auch nicht gutgetan. Als ich dann erfahren habe, dass die Ermittlungen beendet sind und ihr immer noch drin seid, habe ich meinem Vater klipp und klar gesagt, dass ich euch endlich besuchen will.“ Ich konnte mir gut vorstellen, welche abstrusen Gedanken mein Vater in dieser Hinsicht geäußert hatte und auch, weshalb meine Schwester eine Weile gebraucht hatte, bis sie sich durchsetzen konnte. Doch all das war mir egal, sie stand vor mir, genauso wie ich sie in Erinnerung hatte. Während sie von ihrem Studium erzählte, beneidete ich sie und bereute es, dass ich so leichtsinnig die Freiheit des Studiums gegen die Gefangenschaft im Knast eingetauscht hatte. Schon oft hatte ich das Gespräch zu Beamten und Sozialarbeitern, aber auch zu meinem Rechtsanwalt aufgesucht, und nach Möglichkeiten zur Aufnahme eines Studiums während der Haftzeit gefragt. Ich war stets erfolglos. Lediglich ein Fernstudium an der Uni Hagen würde für mich in Frage kommen. Doch auch erst, wenn ich in Strafhaft wäre. Die eine Stunde Besuchszeit fühlte sich kaum länger an als die bisherigen 30 Minuten. Nachdem meine Mutter mir zum Besuchsende die zwei üblichen Schokoladentafeln überreicht hatte, ging ich glücklich in meine Zelle zurück und verschlang sofort eine ganze Tafel. Die andere verzockte ich dann während des Pokerns beim Umschluss am Wochenende.

Weihnachten rückte immer näher und somit auch Silvester, es würden harte Tage auf uns zukommen. Wie ich mitbekommen hatte, würden wir weniger Freizeit haben. Stattdessen  gab es nur Umschluss und auch die Hofgangszeiten würden sich ändern.

Die Besuchstermine standen auch nur eingeschränkt zur Verfügung. Umso mehr freute ich mich auf den nächsten Besuch und auf das nächste Telefonat. Desto größer war dann die Enttäuschung, als niemand am anderen Ende der Telefonleitung ranging. Der Beamte bot mir an, es in einer halben Stunde noch einmal zu versuchen. Aber der Telefonanruf schlug auch fehl. Leider musste ich dann auf das Telefonat in dieser Woche verzichten und durfte mich „lediglich“ auf den Besuch diese Woche freuen. Die Freude hielt sich aber in Grenzen, da ich vermutete, dass mein Vater wieder dran war mich zu besuchen, worauf ich gar keine Lust hatte. Der Besuchstag stand an und ich befand mich diesmal länger als üblich im Warteraum. Leider hatte ich kein Zeitgefühl und auch keine Uhr. So erkannte ich nicht, dass sich meine Besuchszeit bereits dem Ende zugeneigt hatte und ich mich noch immer im Warteraum befand. Ich zögerte erst ein wenig, doch dann drückte ich den Notruf im Warteraum:

„Ja, bitte?“, ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern.

„Ja, hier Ates. Ich bin schon die ganze Zeit im Warteraum. Ich hätte eigentlich Besuch um 9:00 Uhr gehabt, wie viel Uhr haben wir?“

„Wir holen Sie ab.“

Eine Beamtin kam und entschuldigte sich, sie hätten mich vergessen, aber mein Besuch wäre nicht gekommen. „Vielleicht stecken sie im Stau, können wir nicht noch ein bisschen warten?“, fragte ich besorgt. „Es ist schon kurz nach halb zehn, auch wenn die jetzt ankommen, dürfen sie nicht rein.“ Enttäuscht wurde ich zurück in mein Stockwerk gebracht und suchte sofort den Beamten im Büro auf, in der Hoffnung, er wisse vielleicht mehr. In der Tat war es wohl so, dass meine Eltern den Besuch kurzfristig abgesagt hatten. Ein unwohles Gefühl machte sich breit. Was wohl passiert war?

Auch, wenn ich meist ein unangenehmes Kopfkino in der Haft hatte, hatte ich in diesem Fall wenige besorgte Gedanken. Vielmehr dachte ich, dass sie es zeitlich nicht geschafft hatten.

Es war noch nicht Mitte Dezember, als ein Brief vom Gericht eintraf. Ich zerriss den Umschlag und sah, dass ich  demnächst einen Gerichtstermin hatte! „Bruder, Du kommst auf jeden Fall raus! Wenn die nur einen Termin angesetzt haben, wollen die dich sicherlich auf Bewährung rausholen“, war die Meinung von Savas. Mich überkam eine Welle des Glücks. In den nächsten Tagen würde ich endlich rauskommen! Kurzfristig hatte mein Anwalt auch einen Termin in der JVA vereinbart. Sogleich holte er mich von Wolke 7 wieder herunter: „Herr Ates, ich muss Sie leider enttäuschen, das ist nur ein Haftprüfungstermin, weil Sie bald 9 Monate in U-Haft sind und geprüft werden muss, ob das Gericht Sie noch in U-Haft behalten darf.“ Ich war am Boden zerstört, wollten die mich etwa noch länger als 9 Monate in U-Haft lassen?! Oder vielleicht müssten die mich frei lassen, weil sie zu lange gebraucht hatten mit den Ermittlungen. „Wissen Sie eigentlich, wo ihre Familie ist?“ fragte mich mein Anwalt, es war wohl eine rhetorische Frage, denn auf mein „Nein“ antwortete er mit: „Sie sind in der Türkei.“ Ich war überrascht: „Urlaub machen, oder wie?“, wollte ich wissen. „Ich weiß nicht, weshalb. Ich weiß nur, dass sie gerade in der Türkei sind. Ich habe nämlich mit ihrem Vater telefoniert, wegen des Termins.“

Zurück in meiner Zelle überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Eine Wut darüber, dass ich in den nächsten Tagen doch nicht rauskommen würde und meine Eltern mich nicht besucht hatten, weil sie lieber Urlaub machten, ohne mir davor Bescheid zu geben, machte sich in mir breit.  Mit diesem Gefühl schlief ich schließlich ein. Der Gerichtstermin stand für morgen an und heute war bereits der nächste Besuchstermin meiner Eltern. Ich wusste nicht, ob dieser stattfinden würde.

Doch er fand statt. Diesmal war meine Mutter alleine da. Während unseres Gespräches betonte ich immer wieder, dass ich enttäuscht war, dass sie den Besuch abgesagt hatten und ich fast eine Stunde im Warteraum gewartet hatte. Meine Mutter blieb standhaft und hatte Ausreden parat, als ich ihr ein schlechtes Gewissen einreden wollte. Dann ließ ich die Bombe platzen: „Mama, ich weiß, dass ihr in der Türkei im Urlaub wart! Ich habe es von meinem Anwalt erfahren.“

Sie blickte mir traurig in die Augen: „Emre, es fällt mir schwer, dir das zu sagen. Aber ich denke, es ist besser, wenn ich Dir das mitteile. Wir waren in der Türkei, weil mein Vater vom Balkon gestürzt ist. Er ist sofort gestorben.“