Tarek hatte mich gestern mal wieder gebeten, das Handy dem Mülleimer in der Besenkammer zu entnehmen und es ihm während des Umschlusses zu überreichen, damit er abends telefonieren konnte. Allerdings überlegte er sich anders, als ich ihm das Handy übergeben wollte: „Emre, ich brauche es doch nicht. Behalte es“, sagte er mir, während der Beamte alle Häftlinge wieder in ihre Zellen schloss. Ich hatte keine Gelegenheit, das Handy in die bereits abgeschlossene Besenkammer zu bringen und musste es gezwungenermaßen eine Nacht in der Zelle behalten. Ich hatte die ganze Nacht hindurch Angst, dass Beamte jeden Augenblick zur Zellenkontrolle erscheinen würden.

Dennoch hatte ich am nächsten Morgen versäumt, das Handy wieder in das Versteck zu bringen.

Da stand ich nun im Freizeitraum, zwei Beamte stellten meine Zelle auf den Kopf und ich malte mir aus, welche Konsequenzen das für mich haben würde. Auf meine Strafe würde es sich nicht auswirken, dessen war ich mir bewusst. Sehr wohl aber auf meine „gute Führung“, die meine vorzeitige Entlassung bedingte, aber auch besondere Maßnahmen wie bei Kartal würden mich erwarten. Und das, obwohl ich das Mobiltelefon kein einziges Mal für eigene Zwecke verwendet hatte, wobei mir natürlich zugutekam, dass die ganzen Türken aufgrund dieses Opfers gut zu mir waren. Immerhin hatte ich das wertvollste Gut in der Haft, es lag in meiner Verantwortung, ich hätte das Gerät jederzeit verschwinden lassen können. Doch der Vorteil, den ich aus der ganzen Sache zog, war gewiss nicht das Risiko mit den Konsequenzen wert. Vielmehr lag es an meiner schwachen Durchsetzungsfähigkeit. Das Wort „Nein“ fiel mir unheimlich schwer.
Die Zellentür zum Freizeitraum öffnete sich. Der Beamte, der meine Zelle kontrolliert hatte, stand vor der Tür: „Herr Ates, kommen Sie mal mit.“ Mein Kopf lief erneut rot an, ich konnte jeden Pulsschlag spüren und meine Beine wurden zu Wackelpudding. Als ich in meine Zelle eintrat, fand ich sie ordentlich auf. Meine ganzen Utensilien waren so aufgestellt wie zuvor. Meine Kleider waren zusammengefaltet auf meinem Bett und auch sonst sah es nicht so aus, als hätte es eine Zellenkontrolle gegeben. Dass es anders geht, hatte ich schon bei anderen Zellendurchsuchungen miterlebt: Die Kleider werden umhergeworfen, die Lebensmittel durcheinandergewürfelt, die Bettwäsche rausgerissen, die Matratzen vom Bett genommen und das Schlimmste daran ist die ausbleibende Entschuldigung beim Häftling. Die kommt nicht einmal, wenn nichts bei ihm gefunden wird.

Der Beamte begann zu sprechen, ich hielt den Atem an.

„Also Herr Ates…ich arbeite ja in der Kammer, und leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie einen Pullover zu viel besitzen. Man darf nur 2 Pullover haben, sie haben aber 3 im Schrank!“ Der Beamte schaute mich milde vorwurfsvoll an. Ich war so erleichtert, dass mir fast Tränen aus den Augen geflossen wären, ich wollte ihn sogar vor Freude fast umarmen. „Herr Salz, das tut mir sehr leid. Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Aber wissen Sie, es ist so kalt in der Zelle und im Hofgang auch… Sie können den Pullover hier aber mitnehmen.“ Ich hätte ihm alle drei Pullover mitgegeben, hätte er das verlangt – als Geste meiner Dankbarkeit, dass er nicht fündig geworden war. Er seufzte: „Na gut, Herr Ates, behalten Sie ihn einfach. Aber sagen Sie es den anderen bitte nicht.“ Ich bedankte mich herzlichst bei ihm für diese Großzügigkeit – wenn er nur gewusst hätte, wofür ich ihm noch dankbar war –  und ging mit ihm zur Essensausgabe. Ich hatte wohl schon lange eine solche Freude nicht mehr gespürt. Während des Umschlusses und der Pokerrunde erzählte ich von dem Vorfall, während alle mir aufmerksam zuhörten. Tarek schenkte mir eine seiner Milka-Schokoladen als Entschuldigung, was ich immerhin als eine nette Geste betrachtete. Ich beschloss, das Handy nur noch so herauszugeben, dass ich im worst case das Gerät wieder verstecken konnte. Es war seltsam. Das Handy, welches in einer ungeöffneten Tabakdose versteckt war, hatten die Beamten nicht finden können. Schon damals, als sich das Gerät bei Kartal in der Zelle befunden hatte, wurde der Beamte nicht fündig. Dabei hatten sie Detektoren, die im Normalfall darauf reagierten.

Die Tage vergingen, an Weihnachten kam der Pfarrer und beschenkte uns mit Schokolade, zu Silvester gab es nichts. Alle beschwerten sich, dass es keinen besonderen Umschluss zu Silvester gab und wir uns an Neujahr in den eigenen vier Wänden einschließen mussten. Ich allerdings hatte kein Problem damit. Bisher hatte ich Silvester nie draußen gefeiert, geschweige denn überhaupt darüber nachgedacht, es zu feiern. Jedes Jahr war ich an Silvester in der Moschee, entweder als Schüler, der dort über Weihnachten und Neujahr übernachtete, oder auch nur zum Gebet. Der Drang, raus und feiern zu gehen gingen bei mir gegen Null. Ob Silvester war oder nicht, machte für mich keinen Unterschied – ich erkannte das Besondere daran einfach nicht. Dennoch grübelte ich über das vergangene Jahr, setzte mir Vorsätze für das kommende Jahr und hoffte auf ein tolles 2014.

Das erste große Ereignis im neuen Jahr war allerdings alles andere als berauschend. Ein Brief vom Landratsamt war eingetrudelt. Schnell alarmierte ich den Beamten und bat um ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter. Zum Glück war Herr Nils da, der mir kurzfristig ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter arrangieren konnte. Ich trat in das Büro des Sozialarbeiters ein. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte er. Am liebsten hätte ich ihm eine Backpfeife gegeben: „Ich habe hier einen Brief vom Landratsamt, meine deutsche Staatsbürgerschaft habe ich laut des Schreibens verloren, weil ich die türkische nicht abgegeben habe und das 23. Lebensjahr vollendet habe!“ Ich war sauer, weil ich ihn schon vor Monaten darauf angesprochen hatte und er nur gemeint hatte, während der Haftzeit stünde solcher Papierkram still. „Ach herrje, und Sie haben ihren türkischen Pass nicht abgegeben?“ wagte er zu fragen. „Doch! Nur war das Anfang November und der Antrag liegt irgendwo in Ankara, da habe ich noch keinen Bescheid bekommen.“ Der Sozialarbeiter überlegte kurz: „Dann müssen Sie den Antrag sofort zurückziehen! Am Ende sind Sie noch staatenlos, dann haben wir ein großes Problem.“ Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, sofort rief er meine Eltern an und unterrichtete sie vom Vorfall.

„Also Herr Ates, wie Sie gerade gehört haben, werden sich Ihre Eltern darum kümmern und den Antrag für die Abgabe ihres türkischen Passes zurückziehen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen.“ Damit wollte ich mich allerdings nicht abfinden, ich wollte unbedingt den deutschen Pass: „Im Fernsehen habe ich gesehen, dass die neue Koalition in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat, dass türkische Staatsbürger auch die doppelte erhalten können. Trifft das nicht auch auf mich zu?“ Die Antwort, die er mir gab, war genauso unqualifiziert, wie die, die er mir vor Monaten bereits gegeben hatte: „So ein Gesetz muss erstmal rechtskräftig werden, das dauert Monate. Sie können sich doch dann nach Ihrer Entlassung darum kümmern.“ Ich fand mich mit dem Gedanken ab, mich nach der Haft um meine deutsche Staatsbürgerschaft zu kümmern. Doch musste ich erkennen, dass die Auskünfte des Sozialarbeiters nichts taugten. Savas meinte, dass ich ja jetzt kein Almanci mehr sei – so bezeichnen die Türken in der Türkei die Türken aus Deutschland: „Du bisch ja jetzt ein richtiger Türk!“ meinte er scherzhaft, doch leider hatte er wohl Recht. Ob das von Vorteil war, bezweifelte ich, doch den wirklichen Nachteilen war ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen.

Vor allem jedoch war ich mir nicht bewusst, dass eine Vorstrafe bei der Einbürgerung mehr als nur ein Problem darstellen würde.