Tarek verlegte man in eine andere JVA. Es wurde Zeit, dass ich auch von hier verschwand.
Der neue albanische Reiniger hatte plötzlich ein neues Handy. Es wurde Zeit, dass jemand anderes das Versteckspiel übernahm.
Die zwei Gruppierungen, Black Jackets und Red Legions, wurden wieder getrennt, mehrere Verlegungen fanden statt und sie hatten in der Zwischenzeit alle ihre Urteile bekommen. Es wurde Zeit, dass auch ich mein Urteil bekam.

Tayfun hatte 3 Jahre und 7 Monate bekommen und wurde in die Strafhaft verlegt. Savas hatte mit 4 Jahren und 6 Monaten knapp ein Jahr mehr bekommen, doch durfte er dafür in die Therapie. Das würde bedeuten, dass er nur noch ein paar Monate absitzen musste und das letzte Jahr vor seiner Halbstrafe in eine Therapieanstalt aufgrund seiner Drogensucht verbringen musste, bevor er dann entlassen werden würde.

Ich hatte gemischte Gefühle: Angst vor dem hohen Strafmaß, Freude aufgrund einer möglichen Entlassung, Hoffnung für die Entlassung meines Bruders, Erleichterung für meinen Geduldsfaden, aber vor allem Respekt vor der deutschen Justiz. Dutzende Urteile hatte ich während meiner Haftzeit mitbekommen, von Blitzentlassungen, Bewährungen, Freiheitsstrafen zwischen 3 und 10 Jahren, aber auch lebenslängliche Verurteilungen hatte ich gehört. Wo würde ich mich in dieser Skala befinden? Wie fühlten sich die Richter dabei, wenn sie das Urteil fällten? War es nur eine Zahl für sie? Würde mein Urteil milder oder härter ausfallen, würden die Richter meine Gedanken und Gefühle auch nur im Mindesten ahnen können? Wie viel Einfluss hatte ein Richter auf ein Urteil? Immerhin muss er seine Entscheidung auf dem Gesetz basieren. Ich stellte mir die Frage, weshalb unser Gesetz nicht so konzipiert ist, dass alle möglichen Betrugsfälle abgedeckt sind und mir so ein bestimmtes System sagen kann, was für ein Urteil ich bekomme? Könnte man eine Software erstellen, in die ich meine Tat eintippe, mein Alter, meinen Hintergrund, meine Kultur, meine Gedanken, Gefühle und sonst noch alles was dazu zählt, und dieser spuckt mir dann ein Urteil aus? Ich überlegte mir, dass solch eine Software wahrscheinlich um ein Vielfaches objektiver und somit besser wäre als ein menschlicher Richter. Welche Auswirkungen die Digitalisierung in der Justiz wohl haben würde…Der Informatiker in mir übernahm meine Gedankenwelt, als ich mich schon wieder im Transportbus mit Ziel Landgericht Stuttgart befand. Heute war mein erster Verhandlungstag und ich spürte meinen Körper nicht mehr. Alles Gefühl konzentrierte sich auf mein Gehirn, ich fühlte mich wie ein Geist. Wieder in meinem schicken Anzug folgte ich einem Beamten einen Gang entlang. Die Wände waren diesmal komplett weiß, das letzte Mal war ich wohl nicht hier gewesen. Am Ende des Gangs befand sich ein weiterer Beamter, wohl vom Landgericht Stuttgart. Er hatte eine Namensliste vor sich und hakte meinen Namen ab. „Darf ich zu meinem Bruder rein?“ fragte ich. Er grinste: „Natürlich.“ Dass dies ironisch gemeint war, merkte ich erst, als ich in der Zelle mit meinem Vesper (Halber Liter Wasser und ein Käsebrot) vor einem Häftling stand, der definitiv nicht mein Bruder war. Um dies zu erkennen, musste ich nicht mal seinen Hintern sehen. Der Raum bestand aus zwei kleineren Tischen, die an den Seiten an der Wand befestigt waren. Eine offene Toilette war auch Bestandteil der Zelle, wobei man das nicht wirklich Zelle nennen konnte, denn dies war schlimmer als eine Zelle. Keine Fenster und keine Gitter, nur verdammt weißes Licht mit verdammt weißen Wänden und ein Häftling in Jogging-Hose. Er hatte tatsächlich eine Gebetskette dabei und schaute mich grinsend an: „Voll schick! Hast heute Verhandlung, was?“ Ich nickte: „Ja, Du auch oder wie?“, seinen Klamotten zu urteilen war es ihm wohl schnuppe, was der Richter denken würde. Er bestätigte dies und fragte mich selbstverständlich, was ich denn getan hatte. Als ich gerade dabei war, ihm die Geschichte zu erzählen, unterbrach er mich mittendrin: „Alter! Bist Du der Bruder von dem Cem? Der ist doch auch heute hier, der war mit mir im Transportbus.“ Ich nickte und fragte gleich interessiert: „Wie geht es Cem so? War er aufgeregt oder hat er auf cool getan? Hat der Junge sich wenigstens gescheit angezogen?“ Er lachte. „Haha, klar ist der cool. Der hat sich genauso angezogen wie Du. Alter, stimmt das, dass ihr ne halbe Million gemacht habt?“ Ich war überrascht, es war einfach so gar nicht der richtige Zeitpunkt, dass Cem solche Lügen verbreitete, um gut dazustehen. Nachher gerieten diese Informationen noch an falsche Ohren. „Als ob, der übertreibt nur. Wir haben 130.000 EUR Schaden angerichtet, aber nur ca. 60.000 EUR Gewinn gemacht.“ Er sah etwas enttäuscht aus und hatte wohl das Bedürfnis, sich mit seiner Tat zu brüsten, die ich mehr als unangenehm anzuhören fand: „Haha, das ist ja gar nichts. Ich bin mit meinem Mittäter bei so einem reichen Casino-Besitzer eingebrochen, der hatte locker Sachen im Haus, die 100k und mehr wert waren. Plötzlich hören wir so ein Schnarchen im Wohnzimmer und sehen, dass der auf dem Sofa pennt. Dann bin ich zu dem hin und hab ihn abgestochen.“ Ich war baff, mit welcher Gelassenheit er den letzten Part seiner Geschichte über die Lippen brachte: „Du hast ihn getötet? Einfach so?“, fragte ich erschrocken. „Nein, der Arsch hat überlebt.“ Die Enttäuschung darüber konnte man seinem Gesichtsausdruck entnehmen. „Aber wieso hast Du nicht einfach die Sachen geklaut und bist abgehauen? Wieso musstest Du den abstechen?“, fragte ich war mehr als nur verwirrt nach. Er zuckte mit den Schultern: „Wenn der aufgewacht wäre und uns gesehen hätte, hätten die Bullen uns bekommen.“ Ich hatte aufgrund dieser Blödheit plötzlich einen Anflug von Mitleid mit ihm. Er verstand wohl nicht, dass er so in eine viel tiefere Scheiße geraten war. Doch das Mitleid verflog sehr schnell, als er mir dann etwas erzählte, was aus seiner Sicht wohl unglaublich cool war: „Weißt du, vor der Haft, da kommt meine Freundin und sagt so, die sei von mir schwanger. Ich guck die so an und hau mit voller Wucht auf ihren Bauch. Die lag dann auf dem Boden und hat voll lange geweint.“ Ich wollte ihm das erst nicht abkaufen, doch ich hatte schon einige kranke Leute in der Haft gesehen und seine Stimmlage sowie Mimik deuteten darauf hin, dass er die Wahrheit erzählte: „Warum hast Du ihr denn auf den Bauch geschlagen?“, wollte ich spontan wissen, obwohl ich schon vermuten konnte, was er damit bezwecken wollte: „Ja, damit das Kind verreckt. Kein Bock auf einen kleinen Bastard von der.“ Der Typ hatte es geschafft innerhalb von 10 Minuten auf meine Liste der Top5 meist-gehassten Häftlinge zu kommen.

Viele Worte wechselte ich nicht mehr mit ihm und wenn, dann nur, wenn er irgendetwas von mir wissen wollte. Ich zumindest wollte einfach nur raus aus diesem Raum und war gottfroh, als das erlösende Schlüsselgeräusch die Tür öffnete und ich der erste war, den sie zum Gerichtssaal mitnahmen. Mein Puls stieg, meine Beine waren zittrig und schwach und wie immer, wenn ich aufgeregt war, liefen regelrecht Bäche aus Schweiß aus meinen Händen. Ein Gedanke brachte mich zum Grinsen: Vielleicht finden die Richterinnen mich sympathisch und irgendwie süß … und vielleicht bin ich gar kein Häftling, sondern Manuel Neuer! Abartig, dass mir eine Cola – Werbung in solch einem Moment in den Sinn kam, aber es beruhigte mich. Ich betrat den Gerichtssaal, der Eingang war an der Seite und als ich nach rechts blickte, sah ich den Zuschauerbereich. Meine Eltern und meine Zwillingsschwester waren da, des weiteren der Vater von Adnan und ein paar ältere deutsche Paare, aber auch ein junger Mann, der sich Notizen machte. Eine junge Dame und ein breit gebauter Mann saßen in der hintersten Reihe und plötzlich erkannte ich ihn. Es war der Bundespolizist, der im August 2012 eine Hausdurchsuchung bei uns durchgeführt hatte, als nur mein Vater und ich mich im Haus befunden hatten. Ich wurde leicht rot, als ich mir bewusst wurde, dass ich ja gerade nur wegen des Ermittlungsverfahrens der Bundespolizei München hier war. Ich hatte zwar auch alles zu den anderen Ermittlungsverfahren, wie eben jene für die Bundespolizei Kassel genannt, doch die waren in der Anklageschrift gar kein Bestandteil. Würde da etwa noch etwas auf mich zukommen?

In Richtung Richterpult befanden sich hintereinander drei Tische, am hintersten Tisch saß bereits Adnan mit seinem Anwalt, ich nickte ihm zu und er grüßte mit einem Nicken zurück, an dem zweiten Tisch saß mein Bruder Cem mit seinem Anwalt und grinste nur, woraufhin ich auch grinsen musste. Ich hoffte, meine Eltern sahen das Grinsen nicht, denn ihre Gesichter waren voller Sorge und wenn sie dachten, dass wir das Ganze nicht ernst nähmen, wäre das sehr unangenehm für mich gewesen. Meine Anwältin saß am vordersten Tisch und ich setzte mich neben sie hin. Wir grüßten einander und sie sagte mir, dass ich offen und ehrlich sein solle, weil ich bereits ein Geständnis abgelegt hatte. Und sie habe mit der Richterin bereits gesprochen, es läge an uns, ob es dann tatsächlich 7 Verhandlungstage wurden oder ob wir es früher beenden konnten.

Mein Herz pochte, als die Tür hinter dem Richterpult aufging. Drei Richterinnen kamen aus der Tür und zwei weitere Personen in Zivil. Die Beamten nahmen uns die Handschellen ab. Wir mussten alle aufstehen, an das genauere Prozedere erinnere ich mich jedoch nicht, doch die Geschworenen legten einen Eid ab und als wir uns hinsetzten, blickte ich nochmals nach hinten, in die aufgeregten Augen meiner Mutter und dann auf Cem: „Ich krieg dich hier raus, Junge“, dachte ich mir innerlich und motivierte mich, das Ganze durchzustehen, für meinen Bruder und für meine Familie.

Die Staatsanwältin las die komplette Anklageschrift vor, sie sah sehr nett aus, wie eine sogenannte „Streberin“ aus der Schule. Die würde uns doch niemals zurück ins Gefängnis verdonnern, dachte ich mir. Die Richterinnen hörten konzentriert zu, doch immer wieder erwischte ich sie dabei, wie sie an bestimmten relevanten Stellen ihre vorwurfsvollen Blicke auf uns richteten. Als die Staatsanwältin nach einer gefühlten halben Ewigkeit fertig war, wandte sich die hauptvorsitzende Richterin in meine Richtung: „Sie haben die Anklageschrift gehört. Dann würde ich mal sagen, dass der ältere Ates-Bruder anfängt.“ Das ging schneller, als ich erwartet hatte, mein Hals war trocken und ich musste erst husten. Dann neigte mich zum Mikro: „Ähm, soll ich einfach sagen, was ich gemacht habe?“ Die Richterin lächelte: „Ja, fangen Sie einfach mal an zu erzählen.“ Ich richtete mich auf, strich nochmals verlegen über meine Haare, atmete tief ein und legte los: „Also, ich fang dann mal von ganz vorne an …“