Die Beschäftigung als Reiniger war gut, um die eigenen Gedanken zu sortieren. Zwischenzeitlich hatte ich das Urteil von gestern verkraftet, nicht zuletzt dank der Ablenkung durch die Arbeit. Als ich die großen Flure gemeinsam mit meinem Reiniger – Kollegen wischte, ließ ich meine Gedanken schweifen und begann mit dem Schmieden von Zukunftsplänen für mich. Dies führte zu extrem unangenehmen Gefühlen des Drucks und Stress, da ich für weitergehende Planungen dringend den Input von meiner Anwältin und auch von der Sozialarbeiterin benötigte. Dies machte mich unruhig. Den Antrag für ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin hatte ich bereits gestellt, und auch, wenn unser erstes Aufeinandertreffen holprig verlaufen war und wir uns mehr oder weniger gestritten hatten, hoffte ich auf ihre Unterstützung. Meine Anwältin ihrerseits hatte einen Besuchstermin für morgen ausgemacht. Doch heute stand zunächst der Besuch meiner Familie auf dem Plan. Sie hatten glücklicherweise schon einen Besuchstermin für den Tag nach dem Urteil ausgemacht, quasi als Präventivmaßnahme, falls ich am Urteilstag nicht entlassen worden wäre. Was ja nun erwartungsgemäß eingetreten war.

Auch in der JVA Stuttgart war es erlaubt, vor dem Besuch zu duschen. „Das machen wir aber nur mit, weil das ein Arbeiterstockwerk ist“, entgegnete mir der Beamte, als ich um Erlaubnis für eine Dusche bat. In den oberen Stockwerken herrschte weiterhin die Devise, dass man nur zwei Mal in der Woche für je 10 Minuten duschen durfte – ausnahmslos! Im Besuchsraum angekommen, erwarteten mich meine Mutter und sogar meine Großmutter, über deren Besuch ich positiv überrascht war. Als erstes widmete ich mich ihr und küsste ihre Hand – dies war der respektvolle Umgang, der in der türkischen Kultur erwartet wurde. Auch war es üblich, zuerst dem ältesten Familienmitglied die Aufmerksamkeit zu schenken, weshalb ich meine Mutter kurz außen vor ließ, als ich meine Oma auf türkisch fragte, wie es ihr denn ginge. Noch bevor sie antworten konnte, ertönte die mahnende Stimme der Beamtin, die sich wieder Erwarten noch im Besuchsraum befand: „Hier wird kein türkisch gesprochen, nur auf deutsch bitte.“ Ich blickte sie verwundert an: „Wie jetzt? Ich werde doch weder optisch, noch akustisch überwacht?“ Sie schüttelte den Kopf: „Ihre Besuche werden sehr wohl überwacht.“ Ich bat sie, dies nochmals zu prüfen und erst nach mehrmaligem Nachhaken, rief sie eine Kollegin, die mein Anliegen prüfen sollte. Derweil saß ich deprimiert da und konnte mit meiner Oma kein Wort sprechen, denn wir durften ihr nicht einmal mitteilen, dass türkisch nicht erlaubt war. Ich wandte mich also vorerst meiner Mutter zu und sie küsste mich am ganzen Gesicht, bevor sie mich wieder hinsetzen ließ. Mir fiel das erste Mal wirklich auf, dass meine Oma ohne sprachliche Hilfe total aufgeschmissen war. Sie befand sich nun seit fast 40 Jahren in Deutschland und konnte kein einziges Wort deutsch, selbiges galt für meinen Opa – der beherrschte die deutsche Sprache in etwa so, wie ein Grundschüler die englische beherrschte. Meine Oma war schon 80 Jahre alt, ich verstand es, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Sprache nun zu lernen. Doch war es damals, vor 40 Jahren, auch schon zu spät gewesen? Mein Vater war nicht anders – seine Deutschkenntnisse entsprachen denen jener Väter, die man in klischeebehafteten deutsch- türkischen Filmen zu sehen bekam. Meine Mutter konnte sich gut mit mir auf deutsch unterhalten, was ich beachtlich fand vor dem Hintergrund, dass ihr jegliche (Weiter-)Bildungschancen verwehrt worden waren. Von diesem Gedanken getragen, begann ich das Gespräch mit ihr: „Mama, wie denkst du über die deutsche Sprache?“ Ich teilte ihr meine Gedankengänge bezüglich der Deutschkenntnisse meiner Großeltern und meinem Vater mit. Es war seltsam, wie uns meine Oma mit angestrengtem Blick beobachtete. Vergleichbar mit einem gerade erst das Schreiben lernenden Kind, das gerade versuchte, die Wörter des ersten Diktats in der Grundschule zu verstehen. Alsbald kam dann zum Glück die Erlösung, als es an der Tür klopfte: „Herr Ates, es tut uns leid, wir haben einen Fehler gemacht. Sie dürfen selbstverständlich ihren Besuch ohne optische-akustische Überwachung fortsetzen.“ Mit einem siegreichen Grinsen im Gesicht blickte ich die uns überwachende Beamtin an, während sie uns in einen anderen Besuchsraum begleitete. Ich fing von vorn an und begrüßte meine Oma nochmals. Ich fragte, wie es ihr denn so geht, und sie antwortete genau mit der Art, die ihr auch in meiner Erinnerung eigen war: „Ach, ich bin alt, frag mich doch nicht, wie es mir geht. Viel wichtiger ist: Wie geht es Dir? Was isst Du hier? Du verhungerst doch sicherlich. Du siehst so dürr aus.“ Ich erklärte ihr, dass uns zwar kein Fünf- Sterne-Menü vorgesetzt wurde, ich jedoch keineswegs verhungern würde: „Außerdem darf ich als Reiniger kochen, Oma. Das ist ein Privileg, welches nur die Reiniger besitzen.“ Das schien sie zu beruhigen – natürlich verschwieg ich, dass es beim vierzehn-tägigen Einkauf keinerlei Lebensmittel zu ordern gab, die sich zum Kochen eignen würden. In Schwäbisch Hall fand ich die Einkaufsliste vielfältiger, sie war auch so ausgelegt, dass man die Küche sinnvoll nutzen konnte. In Stammheim war das Kochen im individuellen Sinne keineswegs vorgesehen. Weshalb sie dennoch eine Küche eingebaut hatten, war mir unklar. Meine Oma machte ein trauriges und enttäuschtes Gesicht: „Ach mein Emre, die haben dich hier reingesteckt. Die haben alle Auge gemacht – es ist der Nazar der neidischen Leute.“ Das hatte ich jetzt schon öfter von meinen Großeltern gehört, wenn etwas Negatives in meinem Leben passiert worden war, sie aber nicht wahrhaben wollten, dass es nicht zu leugnen und ganz allein meine Schuld war. Es war mir bewusst, dass ich ihr Lieblingsenkel war – vermutlich, weil ich der erstgeborene männliche Enkel war, der einen hohen Stellenwert in der türkischen Kultur innehat. Mein Opa setzte mich auf ein derart hohes Podest, dass ich mich manchmal wirklich gegenüber meinen Geschwistern überlegen fühlte. Die Menge an Liebe und den Respekt, den sie mir entgegenbrachten, kam in gleicher Höhe als Gleichgültigkeit gegenüber meinen Geschwistern an. Dies war erziehungstechnisch selbstverständlich keinesfalls korrekt, weder für meine Geschwister, noch für mich. Meine Großeltern sahen einfach immer das Positive an mir, das Negative ignorierten sie oder noch besser, schoben die Schuld anderen in die Schuhe. Mein Vater hingegen kam für den Unsinn auf, den ich veranstaltete, also die Begleichung meiner Schulden. Meine Mutter sah in mir eine liebevolle, nette Person, die keiner Fliege was zur Leide tun konnte. Ich hatte aufgrund dieser Familienkonstellation einfach nie wirklich Konsequenzen aus meinen Fehlverhalten ziehen müssen. „Oma, das war ich allein. Da hat mich keiner schief und neidisch angesehen, das war kein Nazar. Ich habe das wegen des Geldes getan. Aber egal jetzt, sag mal, wo ist denn Opa? Im Gericht habe ich ihn auch nicht gesehen?“ Meine Mutter klinkte sich ein: „Dein Opa wollte Dich nicht in dieser Situation sehen, es würde seinem Herzen nicht guttun. Wir wollten auch, dass er zum Gericht mitkommt, er hat aber darauf bestanden, daheim zu bleiben. Ich glaube, er verkraftet die ganze Sache nicht.“ Diese Logik verstand ich bis heute nicht, sein Sohn, mein Vater, hatte den gleichen Gedanken bei meiner Zwillingsschwester gehabt: Sie sollte mich nicht in dieser Lage sehen, weswegen er ihr den Besuch vor dem Urteil gänzlich verboten hatte. Doch durch das Hinwegsehen konnte man den Fakt meiner Verhaftung auch nicht leugnen. „Und Papa? Cem?“, fragte ich etwas beleidigt. „Dein Vater arbeitet, er konnte sich nicht frei nehmen. Und Cem hat keine Besuchserlaubnis bekommen, weil er bereits in Stammheim gesessen hat. Er darf dich nur in einer Strafanstalt besuchen, in der er selber nicht in den letzten zwei Jahren gesessen hat“, erklärte mir meine Mutter geduldig. Das wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Die wollen wohl verhindern, dass hier jemand einen auf Prison Break macht. Ich erklärte meiner Mutter von meinem Plan, im September oder im Oktober ein Studium aufzunehmen: „Mama, wir haben jetzt April. Wenn mein Urteil rechtskräftig wird, komme ich in die Strafhaft. Ich weiß nur nicht, in welche Anstalt. Jedenfalls, ich darf theoretisch ab Oktober in den offenen Vollzug. Ich möchte mich im Juli für den Studiengang Wirtschaftsinformatik bewerben, je nachdem, wo ich zum offenen Vollzug darf. Dann würde ich zwei Semester vom offenen Vollzug aus studieren und würde dann die vorzeitige Entlassung auf 2/3 der Strafe beantragen. Klingt doch gut, oder?“, schloss ich den Sermon über meine Pläne. Ich war begeistert von meinem Vorhaben. Doch meine Mutter zeigte mir, dass sie weder ein Optimist, Pessimist noch ein Realist war, sie war schlicht und ergreifend eines: religiös. „Insallah mein Sohn, so Allah es will!“, lächelte sie. Ich schauderte. So Allah es will? Passiert es also nur, wenn er es will? Aber das würde doch bedeuten, dass ich in Haft war, nur, weil Allah es so wollte? Dann war er ja der Schuldige: „Frau Richterin, es tut mir so leid was ich getan habe, aber Allah wollte das unbedingt. Er hat die volle Kontrolle über mich.“ Obwohl ich den Drang verspürte, dem Ganzen mit Sarkasmus zu begegnen, wollte ich meine Mutter nicht verletzen: „Amin, Mama, Amin.“ Die Religion war eines der zentralen Themen, die mich während der Haftzeit beschäftigten. Ich wusste ohne mein gewohntes familiäres und gesellschaftliches Umfeld plötzlich nicht mehr, wer ich war. War ich überhaupt noch gläubig? War ich einfach nur ein zeitweise nicht- praktizierender Moslem? Oder hatte ich der Religion bereits dauerhaft den Rücken gekehrt? Jahrelang hatte sich mir diese Frage nicht gestellt. Ich war immer zur Moschee gegangen, Punkt. Da hatte es nie Platz für Fragen, nie einen Gedanken des Zweifels gegeben. Ich war gefangen gewesen in einer Blase, abgeschieden von jeglicher Realität. Die ganzen Geschichten der Mithäftlinge über ihr bisher gelebtes Leben verunsicherten mich jedoch. Ich hatte ein völlig anderes Menschenbild, ein anderes von Gott und der Welt gehabt. Waren die Mithäftlinge nur ein „Extrem“ in der Gesellschaft und ich war das entgegen gesetzte „Extrem“, oder entsprachen sie, mal abgesehen von ihren Straftaten, der Norm? Ich konnte bisher mit niemandem über meine Zweifel in der Religion sprechen, es blieb bei unausgesprochenen Worten. Manchmal leugnete ich, dass ich gerade dabei war, den Glauben zu verlieren: „Emre, das ist der Teufel, der zu Dir spricht – alles nur wegen dieser Storys über weibliche Errungenschaften.“
Dies war ein sehr privates und für mich auch unangenehmes Thema: Körperliche Intimität mit dem anderen Geschlecht. Mein Leben lang wurde ich dazu erzogen, dass es keinen Sex vor der Ehe gibt, nicht mal geben kann. Doch das war weniger ein Problem. „Ihr dürft keine Frau zwei Mal ansehen, und erst recht nicht mit einem Begehren! Nicht mal die Hand berühren, vermeidet einen Handschlag mit einer Frau, sofern möglich. Und Selbstbefriedigung ist der direkte Weg in die Hölle“, so ungefähr lauteten die Anweisungen unseres Moscheelehrers, und er wurde nicht müde, diese zu wiederholen. Ich war fünf, als ich es das erste Mal hörte, und hörte es 15 weitere Jahre lang. Bis ich schließlich 20 wurde. Diese Aussagen hatte mich sehr geprägt und ich schaffte es einfach nicht, normal mit Frauen zu reden, geschweige denn mit ihnen zu flirten. Mir wurde beigebracht, dass es keine Freundschaft zwischen Mann und Frau gibt, dass es nur eine Art von Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern geben kann: Die Ehe. Sonst ist da nichts. Sobald eine Frau mit mir sprach, dachte ich daran, dass sie „etwas von mir will“. Ich durfte doch gar keine Nicht- Muslima heiraten, wieso sollte ich dann mit solchen überhaupt ein Gespräch führen? Ich hatte also ein ausgesprochenes Frauenproblem, wenn man das so sagen darf. Mein Frauenbild entsprach dem, was die Religion mir beibrachte.
Und dann kam die Haft. Und damit auch die verschiedensten Facetten von Männern und deren Charaktern. Eines jedoch hatten sie (fast) alle gemeinsam: Sie alle hatten bereits etwas mit einer Frau gehabt. Geschichten, die das Frauenbild, welches ich bis dato gehabt hatte, gehörig zerstörten. Die geschlechtliche Vereinigung war auf einmal kein Tabuthema mehr. Ich erfuhr, dass Frauen auch nur Menschen waren mit gewissen Bedürfnissen – und ich realisierte eines: Wieso auch nicht, ich habe doch auch Triebe? Nur waren diese immer wieder unterdrückt worden. Ich habe in meiner Jugend etwas sehr Essenzielles verpasst, etwas, das für den Großteil der Jugendlichen normal war. Doch bereute ich es nicht wirklich, ich war nicht sauer, dass die anderen mit ihren Frauengeschichten prahlen konnten und ich der einzige war, der nicht mitreden konnte. Ich war vielmehr gespannt darauf, was mich in Zukunft erwarten würde. Neue Vorsätze, neue Grundsätze. Ich hatte hier einen derart intimen Einblick von so vielen verschiedenen Menschen erhalten, das würde ich niemals mehr in Freiheit zu Ohren bekommen – so dachte ich. Zugegebenermaßen ist es nicht sonderlich ruhmvoll, dass gerade das Thema „Frauen“ meine religiösen Ansichten ins Wanken brachte, doch es war nur der Auslöser für tiefergehende Reflexion.

Ich tat in der Haft etwas, wovor ich bisher immer Angst gehabt hatte: Ich hinterfragte meinen Glauben.