Beim nächsten Besuch erwartete mich mein Vater, was bedeutete, dass es mal wieder etwas ungemütlich werden würde. Ich hätte wohl dankbar sein sollen, dass er mich besuchte. Doch ich war es irgendwie nicht, stets hatte ich ein unwohles Gefühl, wenn ich mit ihm sprach. Dabei war es meist jedoch ein ganz normales Gespräch, das sogar manchmal lustig war. Etwas Unangenehmes wurde jedoch immer besprochen, so fragte er mich diesmal, ob ich fasten würde. Ich log ihn an, ich hatte erst eine Verurteilung hinter mir – die vom Gericht reichte mir. Es war durchaus ein seltsames Gefühl gewesen, nach so vielen Jahren des disziplinierten Fastens damit aufzuhören. Ich fühlte mich schuldig und schlecht. Auch das Belügen meines Vaters war mir unangenehm – doch die Wahrheit wäre sicherlich unangenehmer gewesen. Ich konnte mich noch daran erinnern, wie deutsche Freunde immerzu gemeint hatten: „Emre, Allah kann dich hier im Zimmer nicht sehen – wenn Du willst, schließen wir auch die Rollladen – jetzt iss doch die Haribos.“ Zuvor hatte ich ihnen mitgeteilt, wie gerne ich von diesen Gelatine-Gummis naschen würde und erzählte ihnen, wie es in meiner Kindheit noch toleriert wurde, bis unsere Moschee schließlich ein Verbot herausbrachte. Meine Lieblingssorte waren immer die gezuckerten Gummi-Erdbeeren gewesen. Es war mir sehr schwergefallen, mich davon zu trennen. Damals fand ich die Aussage meiner Freunde noch absurd und intolerant. Ich hatte mich immer gefragt, ob sie es nicht sein lassen konnten, schließlich hatte ich ihnen auch nie versucht, etwas ein – oder gar auszureden. Doch so langsam begann ich, ihnen recht zu geben. Wieso hatte ich in der JVA Stammheim aufgehört zu fasten? Dachte ich tatsächlich, dass Allah mich hier drin nicht sah? Die Antwort für mich war simpel: „Ja, er sieht mich nicht.“ Mein Hoca sagte immer, man dürfe Allah keinen Ort geben, er sei nicht im Himmel, nicht auf der Welt, nicht im Universum – er sei überall! Und auch meinem Hoca muss ich aus heutiger Perspektive teilweise recht geben. Da saß mein Vater vor mir und fragte mich, ob ich fasten würde, wie es ein „kul“ (zu Deutsch: Sklave) Allahs tun würde. Daheim hätte mich meine restliche Familie gefragt. Meine Großeltern, meine Verwandten, meine muslimischen Freunde, meine muslimischen Bekannten – alle hätten mich verurteilt, hätte ich nicht gefastet. Sie waren überall – Allah war überall. Und in der Haft? Hier fragte keiner, ob ich fasten würde. Keiner prahlte, dass er seinen muslimischen Pflichten nachging. Keiner wollte etwas vom Ramadan wissen. Auch die Moslems, oder jene, die sich als Moslems ausgaben, fasteten nicht. Niemand war hier, der mich verurteilte – Allah war nicht hier. Doch da stand nun mein Vater vor mir, und plötzlich spürte ich einen Hauch von Allahs Zorn. Nur die zwei Stunden Besuch musste ich aushalten, dann war ich „frei“ von seinem Zorn. Um von mir und meinen möglichen Sünden abzulenken, erzählte ich meinem Vater von Peter und Hakim, dass beide homosexuell waren und wie ich das rausbekommen hatte. Natürlich fand er dies abscheulich, fluchte über sie und warnte mich vor ihnen. Als ich ihn bei seinem minderen Wutausbruch beobachtete, merkte ich, wie abscheulich er dabei aussah – er wirkte auf mich extrem intolerant. Mir wurde schlecht, und der innere Konflikt in mir wurde stärker, ausgelöst durch die Hasstiraden meines Vaters. Ich realisierte, dass ich selbst auch ein Stück weit so gewesen war. Ich hatte Peter und Hakim für ihre sexuelle Orientierung verurteilt, und daraus die Konsequenz gezogen, dass ich mich zukünftig von ihnen fernhalten würde. Dabei hatte ich vergessen, dass Toleranz und Akzeptanz nicht dasselbe waren – zumindest nicht für mich. Es war mein gutes Recht, die Ansichten Peters und Hakims nicht für mich zu akzeptieren, wenn sie meinen Werten nicht entsprachen. Doch war es ein absolutes Unding, sie dafür zu verurteilen, ich musste das tolerieren. Sie waren doch im Grunde so wie ich, auf eine Art und Weise einfach anders als die anderen. Plötzlich spürte ich einen Anflug von Bewunderung: Peter hatte zugegeben, dass er homosexuell war. Ihm war es egal gewesen, was ich darüber denken würde, was ich tun würde. Er fühlte sich frei in seiner Meinungsäußerung. Und ich? Ich konnte nichts offen äußern, ich konnte meinem Vater nicht sagen, dass ich begonnen hatte, an der Religion zu zweifeln, dass ich nicht fasten würde. Ich konnte meine Meinung nicht frei äußern.

Ich wollte nicht intolerant sein, wollte anders als mein Vater sein. Nach dem Besuch dauerte es ein paar Tage, bis ich meine Gedanken sortiert hatte und Peter in seiner Zelle besuchte: „Hey Peter, tut mir leid, wie ich reagiert habe. Ich habe echt kein Problem damit, dass Du schwul bist. Das ist mir egal. Ich muss das noch lernen, tolerant zu sein. Du schadest niemandem damit. Echt Schade eigentlich, dass wir in diesem Jahrhundert noch über solche Dinge diskutieren müssen. Es fällt mir halt schwer zu akzeptieren, dass ein Mann mit einem anderen Mann körperlich zusammen ist.“ Er sah mich an und schien irgendwie erleichtert, als er mir antwortete: „Emre, ich brauche deine Akzeptanz nicht. Solange Du mich nicht abstempelst und aufgrund meiner Sexualität nichts mehr mit mir zu tun haben möchtest, ist es mir ehrlich gesagt egal, ob Du Homosexuelle allgemein akzeptierst“, er überlegte kurz, „eigentlich ist es mir sogar egal, wenn Du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst, das ist dann dein Problem.“ Peter war in meinen Augen sehr stark, er hatte recht: Wenn irgendjemand ein Problem damit hatte, wer er ist, dann war das nicht sein Problem – soll sich derjenige dann eben andere Freunde suchen. Wenn meine Eltern ein Problem damit hatten, wer ich wirklich bin, dann war das aber irgendwie doch mein Problem – ich konnte mir doch keine andere Familie suchen! Mein Konflikt stieß mich immer mehr in die innere Zerrissenheit. Doch in einem Punkt war ich mir sicher: Ich wollte mich ändern, mich zum Besseren wenden.

Wochen vergingen und ich hing weiterhin mit Peter ab. Ich hörte mir das Gejammer von Behlül und Hassan an. Beide waren in Revision gegangen. Währenddessen war die Bewerbungsphase für ein Studium mit Semesterbeginn im Oktober 2014 gestartet. Meine studierte Cousine erklärte sich dazu bereit, die Bewerbungsunterlagen für mich abzusenden. Ich wusste nicht, weshalb meine Zwillingsschwester dies nicht angeboten hatte, doch war ich froh, dass meine Cousine sich zur Verfügung stellte. Sie hatte an mich alle Bewerbungsunterlagen per Post versendet, da meine Unterschrift noch nötig war. Ganz oben auf meiner Präferenzliste stand die Hochschule Ravensburg, es war mir sehr wichtig, dort angenommen zu werden – immerhin sollte ich laut Vollzugsplan zur Strafhaft in die JVA Ravensburg verlegt werden. Mir wurde kurz heiß, als ich dann in den Bewerbungsunterlagen der Hochschule Ravensburg ein Kästchen sah, das ich ankreuzen sollte, falls ich nicht vorbestraft war. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte – doch ich kreuzte es an und unterschrieb. Die fast ein Dutzend Bewerbungen schickte ich an meine Cousine, die es dann an die Hochschulen weiterleitete. Ich wollte definitiv Wirtschaftsinformatik studieren, und wo dies möglich war, kreuzte ich den Studiengang als erste Priorität an. Derweil wartete ich noch immer auf die Rückmeldung der Staatsanwältin bezüglich meiner laufenden Ermittlungen und war erfreut, als ich einen Besuchszettel bekam: Meine Anwältin würde mich bald besuchen.

Der Besuch meiner Anwältin war jedoch ernüchternd. Von der Staatsanwältin gab es noch keine positive Rückmeldung und das Regierungspräsidium meinte es wohl ernst mit der Abschiebungsgefahr: „Sie dürfen das nicht unterschätzen, Herr Ates. Ich habe mit dem Sachzuständigen geredet, wir müssen da echt aufpassen.“ Ich konnte es nicht wahrhaben, dass das Regierungspräsidium tatsächlich in Erwägung zog, mich abzuschieben, am liebsten hätte ich denen einen Brief geschrieben: „Ihr könnt mich nicht abschieben! Ich gehe selber!“, doch das wäre ziemlich dumm gewesen, ich wollte ja eigentlich in Deutschland bleiben. Im Grunde wollte ich doch einfach nur studieren. Ich erzählte meiner Anwältin, dass ich mich beworben hatte und sie doch bitte schauen sollte, dass ich baldmöglichst in die Strafhaft komme, damit es mit dem Studium zeitlich noch klappt. „Herr Ates, das LKA Hamburg hat sich bei mir gemeldet. Es würde Sie gerne über einen sogenannten „DirtyBoy“ befragen. Von ihm haben Sie das Bankkonto von der Volksbank Kiel gekauft. Eventuell könnten wir diese Gelegenheit dazu nutzen, um der Staatsanwältin zu zeigen, dass Sie weiterhin bereit zur Kooperation sind und indirekt darum bitten, dass sie Ihnen doch entgegenkommen möge.“ Das Angebot meiner Anwältin nahm ich an. Über „DirtyBoy“ konnte ich sowieso nicht viel sagen.

So waren die zwei Beamtinnen wohl auch enttäuscht, als sie mich gleich die Woche darauf an der JVA Stammheim antrafen, ihren Audio-Recorder anwarfen und mich befragten. Natürlich konnte ich den realen Namen von „DirtyBoy“ nicht nennen, so war es doch der Sinn hinter Pseudonymen, ebendiesen geheim zu halten. Ich erklärte nur, wie er mir ein Bankkonto der Volksbank Kiel verkauft hatte, welches ich nicht wirklich benutzen konnte, weil es plötzlich geschlossen wurde. Ich erfuhr erst im Gericht, dass das Bankkonto nicht auf einen Fake-Namen erstellt worden war, sondern einer existierenden Person gehört hatte. Ich teilte ihnen auch mit, dass es sein könne, dass es sein eigenes reales Konto gewesen sein könnte. Es war aber wohl das des Nachbarn gewesen, so teilten sie mir es mit. „Sie haben ‚DirtyBoy‘ also schon verhaftet?“ Auf diese Nachfrage antworteten sie mir mit einem eindeutigen „Ja.“ Sie wollten mit meiner Hilfe wohl nur die Beweislast stärken. Außerdem war der Rechner von „DirtyBoy“ ebenfalls verschlüsselt, weshalb sie sich sicher waren, dass derjenige, den sie verhaftet hatten, „DirtyBoy“ war. Langsam verstand ich, worauf das Ganze hinauslaufen sollte: sie nannten mir den türkischen Namen von „DirtyBoy“ und wollten eigentlich wissen, ob wir uns persönlich kannten – wohl, weil wir beide Türken waren. Eine große Hilfe war ich den Beamtinnen wohl nicht, doch immerhin hatte ich mich zur Verfügung gestellt. Ich hoffte, dass meine Anwältin nun etwas bei der Staatsanwältin bewirken konnte.

Es verging einige Zeit und die FIFA Weltmeisterschaft nahte sich dem Ende, Deutschland war im Finale und alle waren für Argentinien. Der Aufschrei war groß, als Mario Götze in der 113. Minute traf – das war für mich ein phänomenaler Moment. Die Beamten waren am nächsten Tag auch sehr gut drauf. Die meisten Häftlinge hingegen, bis auf Ausnahmen wie David, wohl nicht. Wir bekamen immer wieder neue Häftlinge auf dem Stockwerk, und so kam ein neuer, der gefährlich aussah. Er hatte einen Vollbart, braune Haut und beständig einen sehr wütenden Blick. Es stellte sich heraus, dass er der Mittäter von Abde war, welcher wiederum mit mir während des Gerichtsverfahrens in der Wartezelle gewesen war. Der Mittäter von Abde befand sich zu der Zeit gemeinsam mit Cem in einer Zelle. Diese „Gemeinsamkeit“ brachte ihn wohl dazu, sich öfter mit mir zu unterhalten. Ich hingegen präferierte es eigentlich eher, mich fernzuhalten. Diese Jungs hatten eine saftige Strafe bekommen, waren ebenfalls in Revision und hatten irgendwie nichts zu verlieren. Meine Angst war nicht unbegründet: Hakim hatte es sich aus einem mir unbekannten Grund mit Herrn Leder verscherzt. Er wurde als Reiniger abgelöst und musste in das zweite Stockwerk. Das besondere an den drei ersten Stockwerken war, dass man hoch und runter schauen konnte. So konnte man sich mit den Häftlingen aus dem zweiten und dritten Stock unterhalten. Außerdem führte eine Treppe zum oberen Stockwerk, doch eine verschlossene Tür versperrte den Zugang. Zudem waren Netze so angebracht worden, dass man nicht einfach so in das zweite Stockwerk raufklettern konnte. So fühlte sich Hakim wohl in Sicherheit, als er in der Freizeit vom zweiten Stockwerk aus nach unten zu einem Häftling sprach und ihn auf das Übelste beleidigte. Der Beleidigte war der Mittäter von Abde. Die Beamten befanden sich zu der Zeit in ihren Büros, als ich den Mittäter von Abde plötzlich mit akrobatischem Geschick zum zweiten Stockwerk klettern sah. Hakim rannte in seine Zelle, doch der Mittäter von Abde schaffte es, ihn einzuholen. Wir hörten laute Schreie und ein Geräusch von festem Einschlagen auf Knochen. Ein Alarm ging an, die Beamten schossen aus ihren Büroräumen und sperrten uns alle sofort in die Zellen ein. Die Türen blieben bis zum nächsten Tag geschlossen. Ich war verwundert, als ich den Mittäter von Abde bei der Frühstücksausgabe in seiner Zelle sah. Herr Gleich fragte uns Reiniger später, ob wir gesehen hätten, wer Hakim geschlagen hätte. Wir verneinten – wer weiß, was uns sonst passiert wäre. Wenn es nicht der Mittäter von Abde gewesen wäre, der uns dafür bestraft hätte, wäre uns gegenüber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stellvertretend ein anderer Häftling handgreiflich geworden. Solche Typen hatten ihre Connections in der Haft. Der in der Kammer arbeitende Grieche erzählte, wie er Hakim in der Kammer gesehen hatte: „Er wird verlegt zu einer anderen JVA. Sein Gesicht sah so brutal aus, voller blauer Beulen und er war überall im Gesicht genäht worden. Dem wurde mit einer Aluschüssel auf das Gesicht eingeschlagen.“ Das war wohl der Moment, in dem ich beschloss, dass ich es hier nicht mehr aushalten konnte und wollte. Mit so einem Typen wie dem Mittäter von Abde wollte ich nicht auf einem Stockwerk leben. David sollte gefährlich sein? Dieser Typ erschien mir um einiges gefährlicher, wenn auch ihm in den Sinn kommen sollte, dass er von meiner Reinigerposition profitieren könnte, wäre ich geliefert. Wegen meines Bruders hatte er auch schon eine „spezielle“ Bindung zu mir aufgebaut. Schnell schrieb ich meiner Anwältin einen Brief. Ich teilte ihr mit, dass sie sofort die Revision zurückziehen solle, egal, wie der Stand der Dinge nun war. Ich wollte nur noch weg aus Stammheim.