In dem Brief, den ich in Händen hielt, steckte die Erfüllung meiner Gebete: Die anderen Ermittlungen gegen mich wurden fallen gelassen!

Meine Glückssträhne sollte noch weitergehen: Der Stockwerksbeamte hatte es für sinnvoll befunden, dass ich bereits vor dem Verlassen des albanischen Reinigers Gashi eingelernt wurde. Des Weiteren steckten sie noch einen Häftling in meine 4-Mann-Zelle, weshalb ich den Wunsch äußerte, beim Albaner Arian unterzukommen. Ich integrierte mich mehr und mehr bei den Albanern, vor allem verstand ich mich mit dem Albaner Kreshnik sehr gut. Er war etwas älter, womöglich um die 30 Jahre, doch irgendwie fanden wir einander sympathisch. Alle drei Albaner waren wegen Delikten, wie beispielsweise Drogenhandel, in der Haft. Für Arian war es ein willkommenes Geschenk, mich in seiner Zelle zu haben. Dies würde nämlich bedeuten, dass er wie ein Reiniger in den Genuss von offenen Türen kommen würde. Gashi lernte mich ein und merkte sofort, dass ich bereits Erfahrung hatte. Er empfahl mir, die leitende Rolle zu übernehmen: „Die anderen beiden Reiniger taugen gar nichts. Die sind sowieso auch bald weg, schau, dass Du Arian und Kreshnik als weitere Reiniger bekommst.“ Wenn ich etwas als Reiniger gelernt hatte, dann, dass man durchaus die Macht hatte, die Wahl des Beamten bezüglich der neuen Reiniger zu beeinflussen. Da ich mich mit den drei Albanern gut verstand, war es für mich selbstverständlich, dem Wunsch von Gashi nachzugehen. Ich fühlte mich sehr willkommen bei den Albanern. Ganz anders verhielt es sich mit den wenigen Türken, die sich im ersten Stockwerk befanden. Jene Türken, die das zweite Stockwerk bewohnten, hatten sowieso kaum Kontakt zu mir. Während des Hofgangs fühlte ich mich bei ihnen auch unerwünscht, und so kam es, dass ich mich mit den Albanern anfreundete. Später machten sie Witze, dass ich mehr Albaner als Türke sei. So lernte ich einige albanische Wörter, wovon ein Großteil die Schimpfwörter ausmachte, und fand es interessant, den Albanern in ihrer Muttersprache zuzuhören. Während des Hofgangs begegnete ich einem Araber, der mir bekannt vorkam und tatsächlich, ich hatte ihn bereits zuvor gesehen: Er war derjenige, der in Stammheim anscheinend eine Rasierklinge geschluckt hatte. Dies erzählte ich Kreshnik, der das „Gerücht“ dann sofort verbreitete. Der Hofgang war noch nicht mal vorbei, da kam der Araber schon auf mich zu – Deutsch konnte er nicht – und fragte mich auf Englisch, weshalb ich solche Lügen verbreiten würde. Ich teilte ihm mit, dass ich nur das erzählte, was ich gesehen und was mir der Beamte gesagt hatte. Er bestand darauf, dass der Beamte von Stammheim mich angelogen habe und ich entschuldigte mich daraufhin, wenn es denn wahr sein sollte, dass der Beamte gelogen hatte.

Meinen ersten Besuch hatte ich schon hinter mir, zu dem einzig und allein meine Mutter gekommen war: „Mama, wo ist Cem?“ Ihr war es wohl auch unangenehm: „Er konnte nicht aufstehen.“ Ich war enttäuscht, dabei hatte ich so gehofft, dass er mich direkt bei der ersten Möglichkeit besuchen würde – welcher andere Mensch hätte mich besser verstehen können? Beim zweiten Besuch stieg die Enttäuschung an, nur mein Vater war da – Cem? Er schlief und konnte nicht aufstehen. Als ich dann beim dritten Besuch eine erneute Enttäuschung hinnehmen musste, fragte ich meine Mutter, was mit dem Jungen los sei. Ihre Antwort, sehr allgemein: „Emre, der Cem ist halt Cem, er hat sich nicht geändert.“ Erst beim vierten Besuch war mein Bruder Cem dann mit meiner Mutter da, was ich sofort nutzte, um ihm gegenüber meine Enttäuschung auszudrücken: „Ich habe echt gedacht, dass Du mich früher besuchen würdest.“ Ihm war es wohl gar nicht unangenehm: „Ja, Bruder, beim ersten Mal habe ich verschlafen – aber Mama hat mich nicht stark genug geweckt. Und als Papa gekommen ist, hatte ich keine Lust mit dem stundenlang im Auto zu sitzen, ich kann mit dem nicht gut.“ Meine Mutter sah ihn mit einem vorwurfsvollen Blick an. Seine Entschuldigungen bestanden immer darin, anderen die Schuld für sein Fehlverhalten zu geben: „Und das letzte Mal? Da kam Mama auch alleine, sie meinte, du habest noch geschlafen?“ Auch hier war seine Antwort typisch Cem: „Ja, da habe ich es sogar geschafft aufzustehen, aber Mama ist einfach total schnell weggefahren, sie hat nicht gewartet.“ Meine Mutter versuchte kurz, sich zu verteidigen. Sie meinte, dass sie ihn sehr wohl öfter geweckt habe, aber selbst sonst zu spät losgefahren wäre und beim zweiten Mal sei es so gewesen, dass er stundenlang nicht aus der Toilette herausgekommen war. Dann wechselte sie das Thema und teilte mir mit, dass meine Zwillingsschwester die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen dürfe, das Gesetz der Doppelstaatsbürgerschaft sei seit einiger Zeit rechtskräftig. Schnell schrieb ich dem Ausländeramt: Ich wollte wissen, ob ich meine deutsche Staatsbürgerschaft wieder beantragen konnte. Kreshnik erzählte ich davon, wie enttäuscht ich von meinem Bruder war. Als er meinte, dass mein Bruder sowieso ein Verräter sei und ich niemandem von ihm erzählen solle, war ich zunächst baff. Seiner Ansicht nach ging dies deutlich aus meinem Urteil hervor: „Bring dein Urteil her, ich zeig es dir.“ Schnell brachte ich ihm die Unterlagen und er tippte sofort auf den Paragraphen Nummer 31: „Siehst Du, dein Bruder wurde nach Paragraph 31 verurteilt. Er ist ein 31er.“ Einige schlaflose Nächte später kam die Erkenntnis, man erinnere sich an die unterschiedlichen Gesetzesbücher, in denen jeweils ein Paragraph 31 existierte: Cem wurde nach dem Strafgesetzbuch und nicht nach dem Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Mein Bruder war folglich kein 31er.

Mit dieser erleichternden Erkenntnis saß ich bei Arian in der Zelle – er war gerade arbeiten – und wir Reiniger, bzw. ich als noch einzulernender Reiniger, hatten soeben das Essen ausgegeben. Da vernahm ich plötzlich das laute Klack-geräusch, welches hohe Absätze beim Aufkommen auf harten Boden verursachten. Es näherte sich mir offensichtlich eine Frau. Erwartungsvoll blickte ich zur Tür, und siehe da, eine bildhübsche junge Dame stand keine zwei Sekunden später im Türrahmen. „Herr Ates?“, fragte sie und blickte mich geradewegs an. „Ja, das bin ich“, antwortete ich schüchtern. Ich war ziemlich überwältigt von ihrer Erscheinung. Sie war sehr gepflegt und sah aus, als würde sie noch studieren. „Ich bin Frau Holz, die Sozialarbeiterin. Wollen Sie kurz mit ins Büro kommen?“ Ihr Angebot nahm ich an, indem ich alles stehen und liegen ließ und ihr blind folgte. Mein Herz pochte etwas, mein Gesicht färbte sich rosarot und ich versuchte, mich irgendwie zu beruhigen: „Man, Emre. Reagier dich ab, du hast einfach schon lange keine normale und zudem noch attraktive Frau mehr gesehen.“ Ich fragte mich, wieso mir bisher kein anderer Häftling von ihr erzählt hatte. Normalerweise war jede erdenkliche Frau in der Haft – Beamtinnen, Arzthelferinnen, Psychologinnen und vor allem Sozialarbeiterinnen – ein großes Gesprächsthema bei den Häftlingen, wenn auch die Gespräche eher sexistisch ausfielen. In ihrem Büro angekommen, setzte ich mich vor ihren Schreibtisch und versuchte zunächst, mich zu beruhigen. Der Gedanke, dass sie mich mit einem roten Kopf sah, brachte mein Blut im Gesicht erst Recht in Wallung. Ich hatte ja schon immer ein Problem damit gehabt, mich mit Frauen zu unterhalten, wofür ich an dieser Stelle nochmals meinen Hocas danken muss, die mir mein unrealistisches Frauenbild eingepflanzt haben. Frau Holz gefiel mir optisch sehr gut, und ich hatte schon seit mehr als einem Jahr keine Frau mehr gesehen, die auch nur annähernd meinem Frauengeschmack nahegekommen wäre. Sie allerdings schaute recht streng drein und kam direkt zur Sache. „Nun, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mit einer Klimaanlage direkt auf mein Gesicht, vielleicht?“, hätte ich gerne geantwortet – doch ich begann abermals, meine Studienpläne während der Haftzeit zu schildern: „Ich würde gerne im Oktober ein Studium an der Hochschule Ravensburg beginnen, da ich dort bereits eine Zusage erhalten habe. Und im Oktober sollte das wohl möglich sein, da ich ab diesem Zeitpunkt theoretisch in den Freigang werde gehen dürfen.“ Sie lächelte und wirkte zugleich sehr ernst: „Ach? So einfach stellen Sie sich das vor? Sie sind erst kürzlich hier angekommen, denken Sie, wir senden Sie so einfach in den Freigang? Wir müssen Sie erstmal beobachten.“ Schon wieder wurde ich rot, doch diesmal reagierte ich eher aufbrausend als schüchtern: „Ähm, ich war ein ganzes Jahr hier in der U-Haft, was müssen Sie da noch großartig beobachten?“ Ihren Blicken konnte ich entnehmen, dass sie davon nichts wusste, weswegen sie das Thema wechselte: „Ach ja, und wie gedenken Sie, ihr Studium zu finanzieren?“ Ich hasste solche Fragen, sie waren meiner Meinung nach unnötig, da die Antwort immer standardmäßig ausfiel. Dementsprechend antwortete ich ihr: „Ja, erstens Bafög und zweitens, mein Vater unterstützt mich da. Ich mein, wie finanzieren denn andere Studenten ihr Studium? Genauso mach ich das auch.“ Sie bestand jedoch weiterhin darauf, mir das Studium ausreden zu wollen: „Herr Ates, ich weiß nicht, ob das Studium etwas für Sie ist. Überlegen Sie lieber in Richtung einer Ausbildung oder einer Arbeit. Als Vorbestrafter werden Sie es immer schwer im Berufsleben haben.“ Diese Logik grenzte für mich an Schwachsinn. Niemals konnte diese Frau studiert haben! „Ähm, also vorbestraft werde ich so oder so sein. Eine Ausbildung löscht ja meine Vorstrafe nicht. Ein Studium ermöglicht mir aber bessere Berufschancen, die ohnehin durch die Vorstrafe nicht so rosig sind. Ich verstehe also den Sinn hinter Ihrem Vorschlag nicht.“ Sie ging nicht weiter darauf ein und nuschelte irgendetwas von, dass das Studium kein Zuckerschlecken sei: „Nun, Herr Ates, wir müssen sowieso erst einmal klären, wie es mit Ihrer Abschiebung aussieht. Bevor das Regierungspräsidium sich nicht entschieden hat, ob sie hierbleiben oder abgeschoben werden, bleiben Sie in der Strafhaft hier bei uns.“ Mein Hass gegenüber diesen pessimistischen Sozialarbeitern (das war wohl eine grundsätzliche Tendenz bei denen) stieg an: „Frau Holz, ich muss mich mit dieser blöden Abschiebung nur deshalb befassen, weil ihr Kollege drüben aus der U-Haft sich zu schade war, mir dabei zu helfen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu behalten. Als ob die mich abschieben, ich kann mir das nicht vorstellen. Meine Bitte ist ganz einfach, ich will doch nur ab Oktober studieren.“ Ich machte ihr Vorwürfe, gleichzeitig flehte ich sie irgendwie an. „Was mein Kollege da gemacht hat, weiß ich nicht. Aber, Herr Ates, auch wenn alles glatt laufen würde, Sie kommen erst in den offenen Vollzug nach Comburg.“ Ich sah sie verwirrt an: „Comburg? Was ist dort?“

Ihre Antwort löste meine sorgfältigen Planungen in Luft auf. „Das ist ein Bauernhof in Schwäbisch Hall. Sie müssen sich dort erst einmal ein paar Monate beweisen, bis Sie in das Freigängerheim, von mir aus auch das in Ravensburg, verlegt werden können.“