Etwas seltsam war es schon, als ich mir wieder bewusst machte, dass mehr als ein Dutzend Augen auf mich gerichtet waren und genauso viele Ohren meiner Stimme lauschten. Die hauptvorsitzende Richterin hatte bereits ihren Stift gezückt und begann damit, sorgsame Notizen anzufertigen, während ich erneut ein Geständnis abgab. Die beisitzenden Richterinnen schienen mich gar nicht im Visier zu haben, vielmehr beobachteten sie wohl die anderen beiden Angeklagten. Der Staatsanwältin würdigte ich keines Blickes, da sie außerhalb meines Blickfelds an ihrem Pult zu meiner Linken saß. Dafür wandte ich den Blick keine Sekunde von der Richterin ab, sie sollte mir in die Augen sehen können, um zu erkennen, dass ich nichts als die Wahrheit von mir gab … nun ja, zumindest so gut wie die ganze Wahrheit. Während ich ihr erzählte, wie ich überhaupt in die Untergrundszene geraten war, wie ich bei der Google-Suche auf den Begriff „Carding“ gestoßen war und wie mir zahlreiche „schwarze“ Seiten angezeigt wurden, erkannte ich, dass die Richterin ihre Hausaufgaben gemacht hatte. „Also, und dann habe ich gesehen, dass es Bankkonten gibt, die gefälscht sind, und habe mir eins davon gekauft”, fuhr ich fort, als die Richterin mich unterbrach: „Sie meinen sicherlich die sogenannten Bankdrops?“ Verblüfft, dass sie die Bezeichnung für ein gefälschtes Bankkonto in der Szene kannte, nickte ich und erzählte ihr, dass ich es von einem User Namens „Louch“ gekauft hatte. Dabei musste ich ihr jedoch mehrmals verklickern, dass ich den wahren Namen dieses Users nicht kannte und auch nie Interesse daran gehabt hatte, diesen in Erfahrung zu bringen. Weiterhin erzählte ich, wie ich auf die Methode gekommen war, um Geld auf den Bankdrop zu bekommen. „’Filling’ nennt sich das“, merkte ich am Rande an und die Richterin nickte, als würde sie meine Aussage in ihrer Richtigkeit bestätigen. „Den Hasan, von dem Sie die Fillling-Methode gekauft haben, kennen wir schon. Er ist in Deutschland vorbestraft, wir werden uns um ihn kümmern.“ Die Richterin prahlte augenscheinlich mit diesem Erfolg. Ich hingegen war verwundert, dass der Türke tatsächlich seinen wahren Namen genutzt hatte, um mit mir Handel zu treiben. Sicherlich hatte die Polizei seine komplette Anschrift durch die Western-Union-Transaktion in Erfahrung gebracht, über die ich ihm das Geld für das Preisgeben der Fillingmethode zugesandt hatte. Als mir dann eine Liste mit mehr als 800 Zeilen auf den Tisch gelegt wurde, und jede Zeile ein einzelner Fall war, für den ich laut der Richterin einzeln belangt werden würde, wurde es mir jedoch zu blöd. Ich sollte wirklich jeden dieser Fälle durchgehen und bestätigen, dass ich das war. Anhand der E-Mail-Adressen und auch sonstiger ähnlicher Merkmalen, wie z.B. bei der Namenswahl, wusste ich genau, dass diese Fälle mir korrekt zugeordnet werden konnten. Doch das Gericht wollte auf etwas völlig anderes hinaus: Sie wollten wissen, welche Fälle mein Bruder Cem, Adnan, ich, oder wir alle gemeinsam gemacht hatten. Die Zeiten in den Einträgen waren angegeben und ich sagte stets aus, dass keiner der Fälle von Dreien gleichzeitig durchgeführt worden war, sondern nur in Kombination mit meinem Bruder und mir sowie Adnan. Fortan wollte das Gericht wissen, welche Tickets mein Bruder bestellt hatte. „Er hat gar nichts bestellt. Ich habe alles bestellt. Er war nur dabei, wenn ich Geld abgehoben habe, mehr nicht.“ Die Richterin schien mir das nicht abzukaufen: „Wir haben mehrere Daten auf dem Rechner Ihres Bruders entdeckt. In ICQ-Chatverläufen ist stets von beiden Brüdern die Rede. Sind Sie sicher, dass ihr Bruder nichts gemacht hat?“ Die Richterin sah mich mit strafenden Blicken an, als ich ihr stets vor Augen führte, weshalb mein Bruder Cem gar nichts gemacht haben konnte: „Der Cem ist ein total fauler Junge, er wäre sich zu schade gewesen, sich eine solch große Arbeit zu machen, indem er Tickets verkauft. Er saß immer auf der Couch und hat geraucht, während ich die Tickets bestellt habe. Außerdem hätte ich ihm nie sowas anvertraut, ich bin der Typ, der gerne alles selber macht und die volle Kontrolle hat. Sein Notebook habe ich genutzt, weil ich selbst keins besaß, deshalb ähneln sich die Passwörter auch, denn ich habe das TrueCrypt-Passwort auf dem Rechner meines Bruders erstellt. Er wäre nie auf solch eine Kombination gekommen. Theoretisch gesehen gehört das Notebook mir, es wurde auch bei mir in Esslingen in der Wohnung gefunden.“ Eine aus meiner Sicht sehr logische Erklärung, und doch, die Richterinnen schienen nicht ganz überzeugt zu sein: „Warum haben Sie denn ihrem Bruder Geld gegeben, wenn er ja sowieso nichts gemacht hat und laut ihrer Worte ‘zu faul’ war?“ Ich musste nicht lange überlegen: „Er ist mein Bruder. Natürlich gebe ich ihm Geld. Ich musste mit jemandem das Geheimnis teilen, ich konnte es nicht für mich behalten. Da eignete sich mein Bruder am besten. Außerdem hätte er mich sicherlich bei meinen Eltern verraten, hätte ich ihm kein ‘Taschengeld’ gegeben.“ Eine weitere Notiz der Richterin brachte Sie zur letzten, durchaus berechtigten Frage: „Was haben Sie denn mit dem ganzen Geld gemacht?“ Ich muss zugeben, bis heute kann ich diese Frage weder ausstehen, noch wirklich beantworten: „Ich weiß es nicht, wir haben es halt ausgegeben.“ Diesmal konnte ich den Zorn in den Augen der Richterin deutlich erkennen: „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie nicht wissen, was Sie mit 60.000 EUR angestellt haben?“ Ich wurde etwas verlegen und errötete: „So auf die Schnelle kann ich es nicht sagen, aber ich kann bis zum nächsten Mal eine Liste machen, wofür ich es ausgegeben haben könnte. Im Grunde genommen haben wir Autos gemietet, waren oft in Shisha-Bars, haben Freunde eingeladen, wurden in der Szene auch einige Male um hohe Beträge erleichtert, und Miete, Lebenserhaltungskosten während des Studiums und so ein Kram, war auch noch dabei.“ Mit dem Vorschlag der Liste konnte ich die Richterinnen zähmen. Nun war ich derjenige, der seine Hausaufgaben erledigen sollte.

Mehrere Stunden waren vergangen, mein Kopf schmerzte, meine Lunge war staubtrocken und meine ganzen Klamotten von Schweiß durchnässt. Gerade als ich dachte, dass ich nun durchatmen konnte, kam der nächste Stressfaktor: Die Richterin wandte sich meinem Bruder Cem zu, ich folgte ihren Blicken und bekam fast die Krise, als wir ihn zeitgleich dabei erwischten, wie er irgendwelche Männchen auf ein Blatt kritzelte. Als er dann merkte, dass er gerade – zumindest aus seiner Sicht – im Rampenlicht stand, blickte er hoch und grinste, als er unsere Blicke bemerkte. Die Empörung über sein Desinteresse stand uns ins Gesicht geschrieben und er grinste erst mich, dann die Richterinnen an. Diese schienen, genauso wie ich, nichts Lustiges daran zu finden und dachten sich sicherlich, dass ihm das Lachen gleich vergehen würde: „So, wenn Sie dann fertig mit Ihren Männchen sind, können Sie anfangen, alles zu erzählen.“ Cem setzte seinen „I don’t give a shit“- Blick auf, seufzte theatralisch und antwortete mit einem frechen Grinsen auf den Lippen: „Was soll ich denn noch sagen? Mein Bruder hat doch schon alles gesagt.“ Die hauptvorsitzende Richterin schwieg, stattdessen kam die Richterin zu ihrer Rechten zu Wort. Als ich ihre Stimme hörte, musste ich an „Guter-Bulle, Böser-Bulle“ denken, und sie schien letzteres zu sein: „Haben Sie mal etwas Respekt gegenüber dem Gericht! Das ist kein Kindergarten hier! Am besten, Sie fangen mit der SMS an, die ein eindeutiger Beweis für ihre Tatbeteiligung ist!“ Mein Bruder hatte sich mit den Falschen angelegt, und langsam merkte ich, dass die Frage der Bewährung für meinen Bruder nicht nur von mir abhing, sondern vielmehr von ihm.  

Und da sah es ganz und gar nicht gut aus.