„Glaub mir, Bruder. Das wird klappen!“, versuchte mein albanischer Kollege, mich zu motivieren. Ich hörte die Uhr förmlich ticken. Kaum konnte und kann ich mich daran erinnern, etwas so sehnsüchtig erwartet zu haben, wie das Gespräch mit dem Anstaltsleiter. Meine Freiheit stand immerhin auf dem Spiel, und diese – das war eines der Dinge, die ich während der Haftzeit feststellte – war sehr viel wert. Die kriminellen Pläne, die ich vor kurzem noch mit dem Albaner geschmiedet hatte, waren längst Schnee von gestern. Der Traum von der Freiheit ließ mich alles in der Richtung vergessen: Ich widmete mich wieder dem rechten Pfad. Ich würde studieren und einer anständigen Arbeit nachgehen. Genauso werde ich es auch dem Anstaltsleiter sagen – so dachte ich.

Während der Haftzeit fielen mir zwei Dinge an mir auf. Das erste war, dass ich mich nie wirklich auf Gespräche vorbereitete. Ich plapperte immer drauflos, ohne wirklich über die Konsequenzen nachzudenken: sei es mit meinem Anwalt, im Rahmen meiner Gehaltsverhandlungen, während der Gespräche mit den Sozialarbeitern etc. Zwar hatte ich stets ein paar Schlüsselbegriffe in meinem Kopf, doch niemals einen einstudierten Text oder sonstige Vorlagen. So kam es, dass ich auch dem Anstaltsleiter meine ungeordneten Gedanken präsentierte. Ich war der Meinung, dass ich dadurch authentischer wirkte und weniger Spielraum für Lügen zuließ. Andererseits konnte ich durch meine leichtfertigen Aussagen auch leicht in die Bredouille geraten, wenn sie gegen mich verwendet würden…

Die zweite Eigenschaft war mein ständiger Meinungswechsel, oder wie mein Vater so zu sagen pflegte: Ich hatte einen ausgeprägten Affengeschmack. Ich ließ mich schnell von der Meinung anderer beeinflussen. An einem Tag schmiedete ich kriminelle Pläne mit Häftlingen für die Zeit nach der Haft und am nächsten Tag träumte ich von dem Besuch meiner Familie und einem ehrwürdigen Leben. Vielleicht lag das daran, dass ich mir schon mein ganzes Leben lang von anderen Leuten vorschreiben ließ, was ich zu tun oder zu denken habe. Ich hatte stets das Gefühl, dass ich nicht in der Lage war, selber (richtige) Entscheidungen zu treffen. Ich sah alle anderen immer als die Klügeren und mit Weisheit Gesegneten an. Hauptsächlich sah ich die Ursache für diese (ziemlich schwache) Charaktereigenschaft in meiner religiösen Erziehung. Gerade in Bezug auf diese hatte ich, ohne Wenn und Aber, die Wahrheiten anderer als die meinige annehmen müssen. Ein Hinterfragen gab und gibt es nicht.

Als ob es nicht schon gereicht hätte, die komplette Woche auf den langersehnten Tag hinfiebern zu müssen, musste ich den gesamten Vormittag unruhig wartend zubringen, bevor ich endlich gerufen wurde. Das Mittagessen hatten wir bereits an die Arbeiter verteilt, welche auch bereits abgerückt waren, weshalb wir Reiniger uns bei einem Tässchen Kaffee dem Musiksender VIVA widmeten. Etwas peinlich war es dann jedoch schon, als die Sozialarbeiterin an der Zellentür stand und uns Reiniger dabei erwischte, wie sich unsere Köpfe synchron zum Wackeln des Popo von Nicki Minaj in dem Musikvideo „Anaconda“ bewegten. Ich kam mir vor wie diese Wackelkopfhunde, die man auf das Cockpit des Autos anbringt. „Herr Ates, kommen Sie?“, forderte mich die Sozialarbeiterin auf, sie zu begleiten. Ich sprang nochmals kurz in den WC-Bereich und begutachtete mich im Spiegel, um nach wenigen Sekunden festzustellen, dass ich „ganz nett“ aussah. Ich begab mich in das Büro der Sozialarbeiterin, die sich an ihren Platz setzte. Die Psychologin war ebenfalls da und saß rechts gegenüber der Sozialarbeiterin in Richtung Wand. Ein Stuhl stand auch schon für mich bereit, links gegenüber der Sozialarbeiterin in Richtung Tür. Zur Rechten der Sozialarbeiterin befand sich ebenfalls ein unbesetzter Stuhl. Keiner sprach. Die Psychologin schien sich bereits Notizen zu machen und die Sozialarbeiterin tippte ebenfalls noch an ihrem Rechner. Es verging keine Minute, als es an der Tür klopfte und ein großer, sehr schlanker Mann den Raum betrat. Er hatte etwas längere, blonde Haare, die nach hinten gegelt und gekämmt worden waren. Er hatte ein markantes Kinn und trug eine Brille. Unter seinem roten Pullover trug er ein weißes Hemd, das sehr dezent hervorlugte. Auch die blaue Hose sowie die Business-Schuhe sahen sehr hochwertig aus. Er entsprach genau dem Typ von reichem und irgendwie gebildet aussehendem Manager, wie es in den Hollywood-Filmen immerzu dargestellt wird. Mir war sofort klar, dass er der Anstaltsleiter war. Ich stand reflexartig auf, wonach er mich per Handschlag begrüßte und sich höflich vorstellte. Nachdem er sich hingesetzt hatte, forderte er mich ebenfalls dazu auf, mich zu setzen.

„Herr Ates, wir haben uns hier versammelt, um ihren Antrag auf die Verlegung in den offenen Vollzug zu prüfen. Ich weiß nicht, inwieweit Sie informiert sind, doch bevor Sie ins Freigängerheim verlegt werden können, müssen Sie erst in den – sagen wir mal, halb-offenen – Vollzug. Das ist bei uns Comburg. Haben Sie schon davon gehört?“ Ich bejahte diese Frage, Comburg war mir tatsächlich ein Begriff. „Gespräche mit den beiden Damen hier hatten Sie ebenfalls, nehme ich an?“, fuhr er fort, woraufhin beide angesprochenen Damen mir zuvorkamen und ebenfalls bejahten. „Nun, Herr Ates, ich würde vorschlagen, Sie erzählen mir jetzt einfach Mal, was Ihre Pläne sind, wenn Sie entlassen werden“, meinte er und zückte seinen Stift, um sich bereits etwas zu notieren. Ich erzählte schon zum gefühlt 100. Mal von meinem Plan, ein Studium aufzunehmen: „… an der Hochschule Ravensburg habe ich bereits meinen Studienplatz für das kommende Wintersemester bekommen. Ich würde der Hochschule schreiben und ein Urlaubssemester nehmen, damit ich zum Sommersemester starten kann. Ich möchte auf jeden Fall Wirtschaftsinformatik studieren“, schloss ich meine Worte zu meinen Plänen. Er kam mit den gleichen Fragen an, die ich zuvor bereits von anderen gehört hatte: „Wie gedenken Sie, Ihr Studium zu finanzieren?“ Ich machte ihm klar, dass ich finanzielle Unterstützung von meinem Vater zugesichert bekommen hatte und er bereits meine laufenden Anwalts- und Gerichtskosten trug. Außerdem würde ich einem Nebenjob nachgehen, zusätzlich zum Bafög. Überrascht war ich auf die Reaktion des Anstaltsleiters. Anders als die Sozialarbeiterin, kam er mir entgegen: „Das klingt doch schon mal gut. Ich kann ihren Willen zu studieren wirklich heraushören, und bin da auch recht zuversichtlich, dass Sie Ihr Studium erfolgreich absolvieren werden. Bei Ihnen wäre es dann jedoch frühestens Mitte Oktober möglich, nach Comburg verlegt zu werden.“ Ein breites Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit und meine Augen glänzten wahrscheinlich heller als jeder Stern an jenem Tag. Das sollte ein Glückstag werden! Dementsprechend säuerlich reagierte ich, als die Psychologin in das Wort des Anstaltsleiters fiel: „Herr Ates sollte auch noch seine Spielsucht therapieren. Das ist nicht zu unterschätzen…“ Der Anstaltsleiter war wohl genauso genervt wie ich, dass sie ihm ins Wort fiel: „Das mit der Spielsucht ist jetzt ein anderes Thema. Aber ja, Herr Ates. Wir werden entsprechende Vorschläge an das Gericht machen, welche sich auf ihre Bewährungsauflagen auswirken werden. Auch bezüglich der Spielsucht.“ In Gedanken lachte ich die Psychologin aus, in Wirklichkeit aber blickte ich die Sozialarbeiterin mit siegessicherem Grinsen an. Sie war die ganze Zeit still gewesen und beobachtete uns nur. Noch vor einigen Wochen wollte sie mir klar machen, dass das Studium nicht das Richtige für mich wäre und eine Verlegung in den Freigang nicht so einfach zu bewerkstelligen sei. Nun wurde sie endlich eines Besseren belehrt – dachte ich zumindest. Jedoch musste ja noch das berühmt-berüchtigte „aber“ folgen, sonst wäre das Ganze ja viel zu glatt über die Bühne gegangen: „Wenn es nach uns geht, können Sie wohl in den offenen Vollzug, Herr Ates. Jedoch läuft bei Ihnen noch das Abschiebeverfahren, welches ein Ausschlusskriterium für den offenen Vollzug darstellt und uns leider in der Hinsicht die Hände bindet – solange, bis das Regierungspräsidium eine Entscheidung gefällt hat.“

Ich war am Boden zerstört. Wozu das ganze Gespräch über den offenen Vollzug und Studium, wenn es dann am Ende doch an so etwas scheitern würde?