Der Anstaltsleiter wollte es wohl ganz spannend machen. Die Gefühlsachterbahn hätte er mir ruhig ersparen können. Erst machte er mir Hoffnung, bald in den offenen Vollzug zu können, nur, um mir diese dann wieder wegzunehmen. Und doch fügte er noch an: „Aber Herr Ates, auch wenn das Regierungspräsidium uns dringend empfiehlt, Sie nicht in den offenen Vollzug zu verlegen, so liegt es doch ganz und gar in unserer Entscheidungsmacht, ob wir Ihrem Wunsch entsprechen oder nicht.“ An dieser Stelle horchte ich auf. Jetzt verlief das Gespräch wieder ganz nach meinem Geschmack. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an – noch hatte er nichts gesagt, was mich zum Sabbern bringen konnte. „Wir könnten Sie theoretisch in den offenen Vollzug verlegen, allerdings würde es in diesem Falle vollkommen in unserer Verantwortung geschehen. Falls Sie also die Flucht ergreifen, haben wir als JVA Schwäbisch Hall ein sehr großes Problem. Sie verstehen deshalb sicherlich, weshalb es uns schwerfällt, eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich bin zuversichtlich, was Sie angeht und denke nicht, dass Sie unter Ihren Umständen eine Fluchtmöglichkeit wahrnähmen. Dennoch, Herr Ates, werde ich mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen und mich dann bei Ihnen melden.“ Mit diesen Worten gab er mir meine Hoffnung wieder – noch durfte ich sie behalten. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich begab mich aus dem Büro, woraufhin ich wieder Geschichtenerzähler spielte. Nach solch wichtigen Terminen versammelten sich die Mithäftlinge meist um einen wie Kinder, die sich um einen Märchenerzähler sammelten und gespannt die Ohren spitzten.

„Bruder, das klappt schon!“ Meine Reiniger-kollegen hatten stets eine motivierende Wirkung auf mich. „Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt!“, versprach ich Kreshnik. Obwohl sich dies jeder erhoffte, wussten wir beide, dass im Gefängnis und vor allem auch danach,

die Devise „Aus den Augen, aus dem Sinn“ galt. Ich hatte schon viele Häftlinge während meiner Haftzeit kennengelernt und mit einigen hatte ich mich auch gut verstanden. Und obwohl wir uns gegenseitig stets versprachen, in Kontakt zu bleiben, blieb es meist doch beim Abschied. Am längsten hatte ich den Kontakt bisher zu Behlül gehalten. Nachdem ich von Stammheim nach Schwäbisch Hall verlegt worden war, hatte es bis dato drei Mal Schriftverkehr gegeben. Ihm schien es wieder ganz gut zu gehen. Jetzt, da er sein Urteil kannte, wuchsen ihm auch wieder Haare auf der Kopflücke – das hatte wohl tatsächlich etwas mit dem Stress zu tun gehabt. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihm. Obwohl er jemanden niedergestochen hatte, hatte ich das Gefühl, dass er eigentlich ein guter Mensch war. Dieses Gefühl war wohl hauptsächlich darin begründet, dass er vor kurzem seine Mutter verloren hatte und ich auf keinen Fall selbiges Schicksal mit ihm teilen wollte. Oft genug schlief ich mit dem mulmigen Gefühl der Ohnmacht ein: „Was, wenn meiner Familie etwas zustößt?“ Seltsam war jedoch, dass ich in Freiheit nie solche pessimistischen Gedanken gehabt hatte. Die Haft hatte mich auch irgendwie zu einem nachdenklichen Menschen gemacht. Der Gedanke an den Tod brachte mich auch der Religionsfrage näher. Was wäre, wenn meiner Familie etwas zustoßen würde … und es weder den Himmel, noch die Hölle gäbe? Was, wenn sie einfach „Nichts“ werden? Dieser Gedanke war sehr unangenehm. Es konnten sich doch nicht 1,3 Milliarden Menschen (die Anzahl der Moslems weltweit) irren? Die ganzen Überlieferungen über die Zeiten des Propheten Muhammed … die konnte man doch nicht einfach so erfinden? Oder doch? Ich hatte so viele Fragen im Kopf, so viele Zweifel, mehr als je zuvor. War die Religion nur etwas, damit man im Hier und Jetzt angenehmer existieren konnte, nicht ständig in der Angst vor der Zeit nach dem Tod lebend? In dem „Wissen“, dass Gott im zweiten Leben für Gerechtigkeit sorgen, die „Bösen“ bestrafen, und die „Guten“ belohnen wird? Doch meines Wissens nach kategorisierte Gott nicht wirklich in Gut und Böse, sondern in Moslem, Christ, Jude, Atheist usw. Und die Moslems waren der unerschütterlichen Überzeugung, dass nur sie in den Himmel kämen. Aber, so die Meinung der Christen, Jesus war doch nur für deren Sünden gestorben, oder? Und an was glaubten eigentlich die Juden? Atheisten, da waren sich wohl alle Religionen einig, würden in der Hölle schmoren. Es war einfach seltsam, diese Einteilung der Menschen nach ihrem Glauben. So saß ich nun, nur mit mir, und hatte all diese Fragen bezüglich der Religion und keiner konnte mir darauf eine Antwort geben. Damals, noch vor der Haft, wäre ich wohl – so wie meine Eltern und viele andere auch – zum Hoca in die Moschee gegangen und hätte einfach nachgefragt. Alles, was er sagte, hatte ich bis dato stets als „Fakt“ aufgenommen. Es war enorm, was für einen Einfluss ein Geistlicher auf die Glaubensgemeinschaft nahm – auch da waren die Religionen sich einig. Nie zweifelte ich daran, geschweige denn hinterfragte ich seine Antwort – wie könnte ich denn? Das Schlimmste, was man als Moslem (und wohl auch in anderen Religionen) tun könnte, war, Gott und seine Regeln zu hinterfragen. Dabei war es schon sündhaft, den Hoca zu hinterfragen. Denn der Hoca vermittelte ja nur Gottes Worte, Verse aus dem Koran und den ganzen Hadith vom Propheten. Mein Kopf tat weh – und doch musste ich eins feststellen: der Gedanke an den Tod, den Tod meiner Familie allen voran, brachte mich dem Glauben wieder näher.

Da kam es mir gerade recht, dass der „Türkische Integrationskurs“ endlich anfing. Er fand mitten in der Freizeit statt; Freizeit war täglich von 18:30 Uhr bis 21:30 Uhr. Der Kurs fand von 18:30 Uhr bis 20:30 Uhr statt. Wie bekommt man also die (türkischen) Häftlinge dazu, den Kurs ihrer Freizeit vorzuziehen? Mir war klar, ich wollte Antworten, Antworten auf die ganzen Fragen. Bei den anderen? Das war auch jedem klar, spätestens dann, als er Beamte uns in den Freizeitraum in das Erdgeschoss führte und wir das ganze Essen vorfanden. Der Kurs führende Hoca hatte Börek, Sonnenblumenkerne und türkische Süßigkeiten mitgebracht! Ein Stück „Familiengefühl“, das durch den Magen ging. Wir waren 8 Häftlinge, was recht beachtlich war. Es waren nämlich nur maximal 8 zugelassen, und ich hätte nicht erwartet, dass diese Grenze erreicht werden würde. Es waren auch Häftlinge aus der U-Haft dabei, die ich nicht kannte. Der Hoca war ein kleiner, zierlicher Mann, der in seinen Mittvierzigern war. Er entsprach genau dem Typ eines „typischen“ Hocas. Er hatte eine leicht gebückte Haltung, wahrscheinlich vom täglichen Beten herrührend. Er trug eine Stoffhose und ein kariertes Hemd, an seinen Füßen trug er schicke Lackschuhe. Hinzu kam ein leerer Blick (zumindest kam es mir so vor), und ein Gesicht, das sich hin und wieder zu einem leichten Lächeln rang. Ein lautes Lachen hatte ich ohnehin selten von einem Hoca gehört. Oft schon war mir eingebläut worden: „Wer im Leben viel lacht, der wird im Jenseits viel leiden.“ Diese Aussage kann man auf verschiedenste Weise interpretieren. Meine Familie jedenfalls glaubte fest daran. Deshalb ist mein Vater wohl so verbittert. Deshalb „erwarten“ meine Mutter und meine Zwillingsschwester wohl nichts vom Leben. „Emre, dieses Leben ist vergänglich. Dieses Leben ist eine Lüge. Nur das Jenseits zählt“, waren einst die für einen Nicht-moslem seltsam klingenden Worte meiner Zwillingsschwester. Sie hatte damit eigentlich nur das wiederholt, was die Hocas ständig auf alle einredeten. Das war eine Kunst für sich, etwas Reales (das Leben) als Lüge zu bezeichnen und etwas Nicht-reales, nicht Fassbares (das Jenseits) als Wahrheit zu sehen und das auch noch seinen Mitmenschen zu vermitteln. Doch ich war (oder sogar, bin?) nicht anders. Stets hatte ich mit dem Gedanken daran, dass das Jenseits auf mich mit etwas Besserem aufwartete, gelebt. Tat ich etwas Gutes, so erhoffte ich mir eine höhere Chance auf den Himmel. Tat ich etwas Böses, so hatte ich größere Angst vor der Hölle und hoffte auf die Vergebung Gottes. Aktuell jedoch wusste ich nicht wirklich, was Gut und Böse war, wusste nicht, welche Regeln nun real waren. Ohne die Moschee und die familiären und gesellschaftlichen Konstrukte verlor ich meinen religiösen Halt und meinen Alltag, der vom Glauben geprägt gewesen war… und doch wurde mir etwas klar: vor meiner Haft war es doch genauso gewesen, trotz jener „Konstrukte“. Ich hatte Böses getan und schlicht nicht daran gedacht, dass es schlecht gewesen sein könnte. Hatte Gesetze und Regeln geleugnet, dachte nicht, dass man mich richten würde. Ich hatte an allem gezweifelt, auch an mir, und nun war ich im Gefängnis gelandet. Was würde passieren, wenn sich das wiederholte? Wenn ich aber nicht im Gefängnis, sondern in der Hölle landete? Der Hoca sollte es mir endlich sagen.

Wir setzten uns hin und er stellte sich erst einmal vor. Er war erst kürzlich aus der Türkei nach Deutschland gekommen, konnte daher so gut wie kein Wort Deutsch. Er gehörte der Ditib an, also der offiziellen Religionsgemeinschaft der türkischen Regierung. Von seinem Vorgänger hatte er von seinen Einsätzen hier in der JVA gehört. Gerne, so seine Worte, würde er das von nun an übernehmen. Er hoffte auf eine rege Teilnahme und war sichtlich erfreut, so viele von uns zu sehen. Die ersten hatten schon angefangen, Sonnenblumenkerne zu knabbern. Nach und nach sollten wir uns vorstellen. Auch wollte der Hoca natürlich erfahren, welche religiösen Kenntnisse man den hatte. Er wollte wissen, ob man den Koran lesen konnte oder gar einige Verse auswendig konnte. Etwas enttäuscht schien er schon, als nach und nach jeder gestand, nur ein,          maximal zwei kurze Verse zu kennen. Keiner konnte den Koran lesen. Auch sonst konnten sie nichts vorweisen. Dementsprechend machte sich ein überlegenes Gefühl in mir breit. Mit solchen Kenntnissen würde ich neben den anderen glänzen. Endlich fiel der Blick des Hocas auf mich, der mir das Wort gab, und ich zeigte ihm sogleich, dass ich ein Diamant unter den ganzen Steinen war: „Ich habe vom 4. bis zum 16. Lebensjahr sehr häufig die Moschee besucht. Danach nur noch „häufig“. Dabei war ich jedes Wochenende in der Moschee, habe dort übernachtet. Ich kann den Koran lesen, sehr flüssig sogar. Ich glaube, eine Seite schaffe ich aktuell in ca. 2 Minuten. Ich kenne sehr viele Suren auswendig, auch die längeren – z.B. alle 6 Seiten von Yasin“, was eine wichtige Sure im Koran darstellte, „Auch nahm ich oft die Rolle des Imams ein, habe also vorgebetet – auch hielt ich die wöchentlichen Freitagsgebete und Predigten. Ich habe auch in meinem ganzen Leben keinen einzigen Tropfen Alkohol angerührt.“ Die anderen Häftlinge lachten nach meiner Vorstellung, einer konnte es sich nicht verkneifen und sagte: „Amına koyim, du bist ein Engel, du kommst safe in den Himmel.“ Der Hoca schien überrascht zu sein. Als er seine Stimme erhob, erwartete ich eigentlich ein Lob. Doch stattdessen kam er mit der einen Frage, die ich mir auch seit Anbeginn meiner Haftzeit gestellt hatte: „Wie konnte es nur passieren, dass du in die Haft gekommen bist?“ Ich erzählte ihm von meiner Straftat und, dass es erst dann passiert war, als ich die Moschee „verlassen“ hatte. „Ich bin irgendwann immer seltener zur Moschee gegangen. Bin dann auch ausgezogen und schließlich ist das passiert.“ Damit hatte ich dem Hoca genau die Antwort gegeben, an die er wunderbar mit der Religion anknüpfen konnte: „Das war sicherlich eine Prüfung Allahs. Er will dich wieder auf den rechten Pfad holen, deswegen musst du das hier durchmachen.“ Das hatte ich schon oft gehört, die „Prüfung“ Allahs – die „Ausrede“, wenn einem etwas schlimmes wiederfuhr. Es war doch so: Wenn etwas Gutes passierte, war es Allahs „Geschenk“. Passierte etwas Schlimmes, nannte man es stets eine Prüfung Allahs.

Die restlichen Häftlinge stellten sich noch vor und schließlich sagte der Hoca ein, zwei Suren auf. Danach predigte er kurz, es ging um Abraham, der seinen Sohn Isaak für Gott opfern sollte: Das Opferfest stand vor der Tür. Die restliche Zeit widmete sich der Hoca mir, während der Rest miteinander redete. Der Hoca erzählte mir, weshalb er glaubte, dass mir das Ganze passiert sei, dass ich doch im Grunde ein guter Junge sei. Die nächsten Aussagen von ihm sollten mich wohl dazu bringen, wieder den rechten und geraden Pfad zu finden. Ich weiß nicht, wer auf die Bezeichnung kam, doch mit einem „Türkischen Integrationskurs“ hatte das Ganze hier nicht viel zu tun. Dennoch fanden seine Worte absoluten Anklang bei mir. Das war doch das Beste, was ich konnte. Ich konnte ein richtig guter Moslem sein. Ich wurde in der islamischen Gemeinde stets sehr geschätzt, man betrachtete mich wirklich irgendwie als Diamanten unter den ganzen Ungläubigen. Ich hatte das so sehr vermisst – etwas Aufmerksamkeit, ein Mensch (in diesem Fall der Hoca), der mir Aufmerksamkeit schenkte und mir das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein.

Ich spürte, dass er es schaffte, dass ich langsam wieder eine Verbindung zum Glauben herstellte. Seine Aussagen waren so vertraut, lösten ein sehr angenehmes und familiäres Gefühl in mir aus … die Angst vor dem Tod, sie verschwand allmählich. Ich bat den Hoca darum, meine Eltern anzurufen und ihnen zu erzählen, dass es mir hier gut gehe. „Es würde ihnen gut tun zu wissen, dass ein Hoca bei ihrem Sohn ist.“ Ich schrieb ihm die Festnetz-Nummer meiner Eltern auf einen kleinen Zettel und übergab ihn ihm. Ob das erlaubt war, wusste ich nicht, doch er steckte den Zettel sofort in die Tasche, so dass es keiner sah. Wir verabschiedeten uns, jedoch war der Abschied nur vorläufig. In zwei Wochen würden wir uns wiedersehen.

Es war so, als wäre ich gerade von einer kathartischen Meditation gekommen, ich fühlte mich sehr gut. Die nächsten Tage waren auch angenehm, ich hatte viel seltener negative Gedanken und machte mir weniger Sorgen. Allah würde es schon richten. Meine Zweifel über den Glauben waren zwar noch nicht weg, doch ich begann mir einzureden, dass das alles eine Prüfung Gottes sei. Ich war gerade dabei, die Flure zu wischen, da sah ich, wie der Anstaltsleiter auf mich zukam. Mein Herz pochte, als er mich ansprach.

„Herr Ates, ich habe mir nun Gedanken gemacht. Bezüglich Ihrer Verlegung in den offenen Vollzug…“