„Ich bin der Ansicht, dass Sie die Verlegung in den offenen Vollzug verdient haben. Daher habe ich die Freigabe erteilt. In zwei Wochen werden Sie also verlegt.“ Die erlösenden Worte des Anstaltsleiters bejubelte ich im Inneren, äußerlich sah er nur mein sehr breites Grinsen: „Vielen Dank!“ Er reichte mir als nette Geste seine Hand und wünschte mir viel Erfolg im Leben. Schließlich gab er mir noch mit, dass ich nicht wieder auf die schiefe Bahn rutschen solle und dass er hoffe, dass es mit dem Studium klappen würde. Ich bedankte mich nochmals überschwänglich.

Schnell ging ich in meine Zelle, zückte Stift und Papier und begann einen Brief an die Hochschule Ravensburg zu schreiben. Darin schilderte ich meine Situation, dass ich in Haft sei, jedoch zum Februar 2014 und somit rechtzeitig zum Sommersemester im Freigang sein würde. Ich bat die Hochschule darum, meine Immatrikulation einzufrieren bzw. mir ein Urlaubssemester zu gewähren. Ich wollte nicht noch ein Semester dadurch verlieren, dass ich an einem Bauernhof gefangen war. Viele Bedenken machten sich in mir breit, denn damals hatte ich bei der Immatrikulation nicht angekreuzt, dass ich vorbestraft war.

Danach rannte ich in das Büro des Beamten und fragte ganz höflich, ob ich kurz meine Familie anrufen dürfe: „Ich möchte ihnen gerne die gute Nachricht übermitteln, dass ich in zwei Wochen in den offenen Vollzug verlegt werde.“ Dass mir das erlaubt wurde, überraschte mich inzwischen nicht mehr. Die Beamten der JVA Schwäbisch Hall waren einfach sehr entgegenkommend, zeigten Verständnis und hatten meiner Erfahrung nach bei den Häftlingen einen besseren Ruf als die Beamten der JVA Stammheim. Meine Mutter ging ran und freute sich sehr über die frohe Botschaft. Doch viel mehr schien sie sich über den Anruf des Hocas gefreut zu haben. Die nächsten 10 Minuten verbrachen wir mit Lobpreisungen darüber, wie toll es denn vom Hoca gewesen sei, dass er bei mir zuhause angerufen habe. Auch sprachen wir darüber, wie wichtig die Religion sei, und wie wir zusammenhalten müssen. Ob sie mit „wir“ die Moslems oder wir als Familie meinte, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Auch bei den Häftlingen machte die Nachricht die Runde, dass ich bald weg sein würde. Als ich eines Tages abends im Bett in meiner Zelle lag und wegen des warmen Wetters das Fenster komplett offen hatte, hörte ich türkische Mithäftlinge vom oberen Stockwerk reden. Meine Aufmerksamkeit hatten sie, als ich meinen Namen zu hören bekam. Sie sprachen darüber, wie ungerecht es sei, dass ich bereits in den offenen Vollzug verlegt werde, obwohl ich erst kürzlich eingetroffen war. Auch sonst versuchten sie, meine Persönlichkeit anzugreifen. Ich schwieg einfach und hörte zu. Traurig war es schon, zumal ich mich mit den beiden diskutierenden Häftlingen gut verstand. Doch das war mir egal, bald war ich endlich weg, ein ganz großes Stück näher an der Freiheit.

Mit einigen Häftlingen tauschte ich noch Festnetznummern aus – nun ja, sie dachten zumindest, es handle sich um eine echte Festnetznummer. Ich hatte zwar nicht viel Hab und Gut, doch alles Übrige, was mir nicht lieb und teuer war, übergab ich meinen Reiniger-kollegen. Vom löslichen Kaffee, über bereits geöffnete Cornflakes-Packungen bis hin zu überzähligen Kleidungsstücken. In der Haft war eigentlich kein Handel erlaubt, wobei auch Schenkungen eine heikle Sache waren: Wie wollte man beweisen, dass man dafür keine Gegenleistung erhalten hatte? Bei Kleidungsstücken achteten die Beamten weniger drauf – gab es mal eine größere Zellenkontrolle, so konnten die Vollzugsbeamten anhand der Anzahl der Kleider im Kleiderschrank bereits feststellen, ob jemand zu viele Klamotten hatte und nahmen den „Überfluss“ entsprechend weg. Da ich aber diesmal derjenige war, der seine Klamotten hergab, musste ich diese als „verloren“ oder „zerrissen und weggeschmissen“ melden. Die Kammerbeamte konnten sicherlich ahnen, dass es kein Zufall war, dass gerade am Tag der „Entlassung“ die eigenen Kleidungsstücke als verloren gemeldet wurden – doch wie bereits erwähnt, hier drückte man ein Auge zu. Anders war es bei hochwertigeren Sachen wie einer Radio-Anlage, eine Spielekonsole oder sogar einem Ventilator. Alle Geräte waren mit Nummern versehen, sodass sie dem Besitzer zugeordnet werden konnten. Mein albanischer Reiniger-kollege wollte unbedingt mein Radio haben, welches meine Mutter mir damals in der U-Haft gekauft hatte – bisher hatte ich damit jedoch nur depressive türkische Musik gehört (meine Pulsadern hatte ich mir zum Glück deswegen noch nicht aufgeschnitten). Doch uns fehlten die nötigen Connections zu den „richtigen“ Beamten. Denn tatsächlich gab es den ein oder anderen Beamten, der inoffiziell Geräte von einem Häftling auf den anderen Häftling überschrieb. Mir war das Recht, das Radio hatte mich eine lange Zeit begleitet, und auch wenn ich es in Stammheim nicht hatte verwenden dürfen, so verband ich viele Erinnerungen an die U-Haft damit, die ich nicht verlieren wollte – außerdem war es ein Geschenk meiner Mutter gewesen. Nachdem ich so gut wie blank war und mich von allen Häftlingen verabschiedet hatte, kam endlich der Tag, auf den ich so lange gewartet hatte. Eine leichte Aufregung war in meinem Körper präsent, in etwa so, wie als würde ich gleich ein Mädchen auf ein Date ausführen. Meine Zelle hatte ich noch blitzeblank geputzt und desinfiziert, weshalb ich bei Kreshnik in der Zelle zu einem Kaffee saß. Der Kaffee roch nach frischem Wind und schmeckte nach Freiheit – es war der beste Kaffee, den ich bisher getrunken hatte (man bedenke an dieser Stelle: Ich habe erst in der Haft angefangen, Kaffee zu trinken, und dann auch noch löslichen Kaffee). Ich hörte, wie das Rascheln der Schlüssel des Vollzugsbeamten immer lauter wurde und immer näherkam, sie schrien förmlich nach mir – als würden die Schlüssel es vermissen, mich einzuschließen und so als ob sie mir nochmals „Tschüss!“ sagen wollten, à la: „Deine Zellentür war stets eine gute Tür, die ließ sich immer sehr leicht schließen.“ Ich umarmte meine Reiniger-kollegen, Kreshniks letzte Worte waren: „Ich weiß, aus dem Auge, aus dem Sinn – ich hoffe dennoch, dass du uns schreibst. Erzähl uns von der Freiheit! Ich wünsche dir alles Gute mein Bruder, du bist wahrhaftig ein guter Junge. Du gehörst nicht an solch einen Ort. Studiere und mach was aus Dir!“ Ich bedankte mich bei ihm, das war der Moment, in dem ein neues Kapitel in meinem Leben anfing, was ich auch den anderen mitteilte: „Ab heute geht es hoffentlich nur noch bergauf bei mir. Doch ich werde niemals diejenigen vergessen, die mir stets zur Seite standen, als ich am tiefsten Punkt meines Lebens angekommen war. Du bist einer derjenigen, die mir immer im Sinn bleiben werden, ganz egal, ob ich dich wiedersehe oder nicht. Also vergiss nicht, auch wenn ich nicht schreibe, ich werde sicherlich noch oft an unsere gemeinsame Zeit denken. Und: auch, wenn wir beide kriminell waren, heißt das noch lange nicht, dass wir keine guten Menschen sind oder werden können. Wir sind eben gute Menschen mit Macken.“ Er umarmte mich nochmals: „Bruder, ich habe sehr große Macken!“, wir lachten. Der Beamte hatte einen Schubwagen dabei, meine Kisten hatte der andere Reiniger-kollege bereits beladen – auch von ihm verabschiedete ich mich mit einer Umarmung. „Wohin geht es jetzt?“, fragte ich den Beamten: „Erst einmal zur Kammer, danach musst du noch zum Arzt.“ Wir liefen über den Innenhof in das gegenüberliegende Gebäude. Der frische Wind fühlte sich heute ganz besonders gut an, der Duft des Teichs roch wie an meinem ersten Tag, als ich von Stammheim nach Schwäbisch Hall verlegt worden war, und der Teich im Innenhof mir eine innere Ruhe verliehen hatte. „Irgendwie werde ich das alles schon vermissen – klingt paradox, aber ich fühle mich wie Zuhause hier.“ Der Beamte erschrak: „Tu‘ mir bitte einen Gefallen und mach was aus deinem Leben – ich will dich hier nicht wiedersehen.“  Es war schwer, die in mir tobenden Gefühle zu erklären, doch ich fühlte mich nach so langer Zeit wieder lebendig. In der Kammer angekommen, wurden mir einige Klamotten ausgegeben, die ich zuvor nicht haben durfte, weil man z.B. keine Kapuzenpullis haben durfte: „Wie jetzt, darf ich diesen schwarzen Pulli haben, obwohl der eine Kapuze hat?“ Der Beamte schaute mich gelangweilt an: „In Comburg darfst Du alles an Kleidung haben, jetzt beruhige dich mal – Du hast hier echt viele Klamotten, die ewig rumlagen, wir hätten die zurückschicken oder deinem Besuch mitgeben sollen.“ Er war wohl verärgert, dass er dadurch einen längeren Bestandsaufnahmeprozess hatte. Ich hingegen freute mich wie ein kleines Kind über meinen Pulli, das war nämlich mein Lieblingspullover gewesen. Ich sollte noch schnell zum Arzt hüpfen, der glücklicherweise kein Blut abnahm, das ging bei mir nie gut aus. Der Arzt fragte nur nach meinem Wohlbefinden und gewogen wurde ich auch noch: „Ach herrje, Ihnen schien es bei uns ja gut gegangen zu sein.“ Ich wurde leicht rot, als er die hohe Zahl auf der Waage betrachtete: „Sie haben beachtliche 8 Kilo zugenommen.“ Das lag wohl daran, dass ich jeden Abend mindestens eine Tafel Schokolade gefuttert hatte. Sonntags hatte es zudem weißes Brot gegeben, was eigentlich nicht so schlimm ist. Doch ich hatte stets eine ganze Tafel Schokolade zwischen zwei Weißbrotscheiben genommen und diese Kalorienbombe genüsslich verschlungen.

Diesmal gab es keinen großen Transportbus, der Häftlinge hin und her kutschierte. Nein, diesmal hatte ich meinen ganz persönlichen Transporter, mit zwei Vollzugsbeamten als meine Chauffeure – mit diesem Bild im Kopf blieb ich vor dem Transporter stehen und streckte meine beiden Arme aus. „Was machen Sie da?“, fragte mich der mir nächste Beamte. „Ähm, Handschellen?“, fragte ich etwas verwirrt. „Das gibt es nicht mehr, Sie kommen in den offenen Vollzug.“ Ein breites Grinsen machte sich wieder auf meinem Gesicht breit. Von nun an würde ich dafür sorgen, dass nie wieder kaltes Eisen meine zwei Handgelenke umschließt. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Innere der JVA Schwäbisch Hall, bevor ich mich außerhalb der Mauern befand. „Wenn ich je wieder den Innenhof hier sehe, dann ist es höchstens auf Google Maps“, die Beamten schienen meinen Spruch überhört zu haben, denn sie antworteten nichts. Die Strecke nach Comburg war wunderschön, lauter grüne Bäume zierten die Landstraße und ich konnte eine atemberaubende Stadt am Horizont erkennen: „Ist das Schwäbisch Hall?“, fragte ich. „Ja, aber wir fahren nach Comburg, das ist etwas außerhalb.“ Die Beamten hatten es sich mit ihren Sonnenbrillen und  bei offenem Fenster auch gemütlich gemacht.

Nun waren wir endlich da. Ich stieg aus, das erste Mal seit 1 ½ Jahren befand ich mich auf freiem Fuß ohne Handschellen – theoretisch hätte ich jetzt einfach wegrennen können, doch wieso sollte ich? Ich wollte endlich das machen, was ich in den Filmen immer sah, wenn jemand aus dem Gefängnis entlassen wurde: Die Arme ganz weit ausstrecken und tief frische Luft einatmen. Doch irgendwas stimmte nicht. „Boah, was ist das für ein Gestank?“ Mir wurde übel. Die Beamten lachten: „Das ist ein Bauernhof, was haben Sie gedacht, wie es hier riecht?“ Da hatten sie recht, doch mit solch einem intensiven Gestank hatte ich eben nicht gerechnet. Als ich gerade meine Sachen aus dem Transporter nehmen wollte, hörte ich ein lautes Geräusch: „Muuuuuuuuuh!“ Ich musste lachen, sowas hatte ich schon lange nicht mehr gehört: „Habt ihr auch Kühe als Gefangene hier?“, scherzte ich. Ich stand vor der Tür des Heims, in das ich untergerbacht würde, und einer der Beamten klingelte an der Tür: „Du wirst noch viel zu tun haben mit den Kühen. Und glaub mir eines, das macht keinen Spaß.“ Ich war verwirrt, was meinte er damit?