Mein Großvater war gestorben, und es lastete kaum auf mir.
Es war vielmehr der Gedanke an meine Mutter, der mir – wie schon so oft – den Schlaf raubte. In den ganzen deutschsprachigen Rapsongs, die ich in der Haftzeit kennen und hören lernte – ich hatte so etwas zuvor nie angehört –  prahlten die Rapper mit ihren weltbewegenden, „Scheiß-auf-alles“- Taten und fluchten, was das Zeug hielt. Doch fiel ein Wort über die Mutter, klangen alle wie Muttersöhnchen. Meiner persönlichen Meinung nach ist dies kulturell bedingt. Das Frauenbild in meiner Kultur präsentiert sich nicht wirklich als autonom, eine Frau ist auch heutzutage noch eher abhängig von ihrem Gatten. Kaum ein Lebensziel verfolgt sie nur für sich, denn eigentlich zählt nur eines:  die bestmögliche Versorgung ihrer Kinder. Das war zumindest, was ich mitbekam –  denn meine Mutter entsprach exakt diesem Bild. Bereits in ihren Teenagerjahren wurde sie verheiratet, genoss keinerlei Bildung, wurde dazu gezwungen, in ein fremdes Land zu reisen, gänzlich ohne Kenntnis von Kultur und Sprache, und war zudem völlig allein und finanziell abhängig von meinem Vater. Über uns Kinder erhielt sie ihren Zugang nach draußen, und so folgte sie der Mutterrolle immer gewissenhaft, um uns ein besseres Leben zu schenken. Mein Großvater war gewiss kein schlechter Mensch, ich glaube sogar, dass er es gut meinte, als er seine jüngste Tochter einfach in die Hände eines Wildfremden gab.  Meine Großeltern folgten lediglich der Tradition, die sie für richtig hielten. Ich weiß, dass sie ihre Tochter, meine Mutter, sehr liebten und alles dafür taten, um sie, wie sie dachten, glücklich zu machen. Mein Großvater war nun fort, für immer. Auch ich liebe meine Mutter sehr und würde alles für sie tun, schließlich opferte sie so viel für uns Kinder.
Nun sind ihre Söhne fort, zwar nur für eine kurze Zeit, doch sie wollte und wollte einfach nicht vergehen. Für mich war es stets schwer, im Körper des „guten“ Sohns zu stecken, der alles tat, was die Eltern verlangten. Es fiel mir schwer, ich wollte jemand anderes sein, aber für mich war es lange Zeit wichtiger gewesen, meine Mutter nicht zu enttäuschen.
Dabei wusste ich nicht einmal wirklich, wer ich denn anderes sein wollte. Ich wusste nur, dass ich mich in keine der Rollen gut fühlte. Ich wollte nie der sein, der den Traditionen seiner Eltern bedingungslos folgte, doch wollte ich ebenfalls nie der Betrüger sein, der in Haft einsaß und seinen jüngeren Bruder in die Scheiße mit hineinzog. Bei meiner Entlassung würde sich das alles ändern. Und vielleicht, ganz vielleicht, war es bald soweit.

Ich stieg aus dem Auto aus, hatte wohlgemerkt noch meine Handschellen an, und befand mich in einer großen Garage, in der sich mehrere Transportwagen befanden. Vor zwei Stunden hatte man mich in der JVA zur Kammer gerufen, wo ich saubere Klamotten, eine Jeans und ein Hemd mit Sakko, anziehen durfte. Meine Eltern hatten diese Klamotten dagelassen, und ich musste zugeben, dass ich mich darin inzwischen ziemlich unwohl fühlte. So fragte ich den Beamten ziemlich schnippisch: „Ach, zum Gerichtstermin darf der Häftling sich hübsch machen, ja?“ Er bugsierte mich zum Transporter. „Von mir aus kannst du auch in Jogginghose gehen, nur würde sich das ziemlich negativ auf dein Erscheinungsbild auswirken.“ Die zwei Stunden Fahrt vergingen sehr schnell, da ich in meine Gedanken vertieft war und die Aussicht auf die für mich sehr frisch wirkende Landschaft genoss. Glücklicherweise mieden wir die Autobahn, sofern es ging. Die Beamten führten mich durch einen Gang in eine Wartezelle und schlossen ab. Jetzt hieß es, wie so oft in der Haft, Warten und Kopfkino an. Es war ein einzelner Termin und mein Anwalt meinte, dass es sich um eine 9 – Monats-Haftprüfung handelte, und in einem Monat die 9-Monats-Grenze erreicht werden würde. Für mich hieß dies in logischer Konsequenz, dass die mich entweder heute entlassen müssten, wenn bis Mitte Januar kein Gerichtstermin zustande kommen würde, oder dass bis spätestens zu diesem Zeitpunkt Gerichtsverhandlungen stattfinden müssten. So oder so würde ich heute eine erleichternde Botschaft bekommen. Es fiel mir so unendlich schwer, die Monate in Ungewissheit zu verbringen. Ich wollte endlich mein Urteil.

Als Reiniger hatte ich mich an die offene Tür gewöhnt. Umso schwerer fiel es mir, nun mal wieder die Zeit wartend zu vertreiben. Lesestoff hatte ich leider nicht dabei. Gelangweilt ließ ich meinen Blick also durch den Raum schweifen, in dem es nicht viel gab – so fiel er auf die vollgekritzelte Wand, das wohl spannendste an dem sonst leeren Zimmer. An einem Gekritzel blieb er hängen.

„Bir gün gelecek, bir gün kalacak“.

Eines der motivierenden Dinge, die ich während meiner Haftzeit bis hierhin zu lesen bekam, und dann auch noch in meiner Muttersprache: „Es kommt der Tag, an dem es nur noch ein Tag sein wird.“
Ab und an rief ich vom Fenster aus den Namen meines Bruders, vielleicht war er ja in der Zelle nebenan? Vielleicht war er auch gar nicht da, und wir würden nacheinander unsere Verhandlungen haben. Doch die Langeweile ließ meinen Sinn allerhand zusammenspinnen. Aber es war unwahrscheinlich…bereits bei der Haftprüfung waren wir schließlich getrennt worden. Als dann schließlich meine Tür aufging, ein Beamter mir wieder Handschellen anbrachte, lief ich neben ihm in Richtung Gerichtssaal. Ein paar Meter vor mir war ebenfalls ein Häftling, der von einem Beamten geführt wurde. War es möglich…? Ich sah die Person nur von hinten. Der Kopf war kahl rasiert, das konnte er gar nicht sein. Cem hatte immer volles Haar gehabt. Mein Blick wanderte vom Kopf hinunter, ich sah mir die Statur genauer an. Plötzlich überkam es mich.  Diese fetten Arschbacken, die hoch und runter wackelten…das war definitiv der riesige Arsch von Cem! Ich rief durch den Gang: „Ceeem!“ Er blieb stehen und blickte zurück, und er war es tatsächlich! Ein breites Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit, ich hatte ihn stolze 8 Monate nicht gesehen und jetzt hatte ich ihn an seinem Arsch erkannt. Er grinste ebenfalls, reden konnten wir leider nicht, weil die Beamten uns weiter zum Gerichtssaal führten und einen gewissen Sicherheitsabstand einhielten. Als wir eintraten, sahen wir unsere beiden Anwälte und drei weibliche Personen auf dem Podest sitzen. Die mittlere Person wies uns auf unsere Plätze hin: „Darf ich neben meinem Bruder sitzen?“ fragte ich eingeschüchtert, sie bejahte überraschenderweise und so fand ich mich, nach so langer Zeit, neben meinem Bruder sitzend wieder. Wir blickten uns ständig grinsend an. Der Junge hatte sich einfach die Haare rasiert. Wollte er etwa gefährlich wirken? Grundsätzlich hoffte ich, dass die Richter nicht auf das äußere Erscheinungsbild achteten. Diese Befürchtung kam mir durch die Bemerkung des Beamten vorhin in den Sinn, dass das äußere Erscheinungsbild bei Gerichtsterminen wohl von Bedeutung sei.

Die weiblichen Personen erwiesen sich als unsere drei Richterinnen, die ebenfalls in der eigentlichen Hauptverhandlung für uns zuständig sein würden. Es war dasselbe Spiel wie damals zur Haftprüfung. Mein Anwalt war wieder kurz vor dem Einschlafen, während die Richterin den Wisch vortrug, in dem stand, weshalb wir nicht entlassen werden würden. Die Verdunklungsgefahr war zwar nun nicht mehr Gegenstand der Gründe für den Haftbefehl, nunmehr jedoch die Fluchtgefahr. Uns beide würde eine nicht unerhebliche Haftstrafe erwarten, wir hätten Familie in der Türkei und die Fluchtgefahr sei entsprechend hoch. Leider gäbe es keine Möglichkeit Verhandlungstermine für den Anfang des Jahres anzusetzen, da alles belegt sei, doch die Gerichtstermine würden nun für März stehen. Ich traute meinen Ohren nicht. Wir sollten wieder bis März warten? Was bringen die ganzen Haftprüfungstermine, wenn sowieso alles feststand? Wieso können die das nicht einfach schriftlich mitteilen, dass wir nicht rauskommen und noch ein gutes Quartal warten mussten? Ich hasste diese Bürokratie. Zudem war es zum Verrücktwerden, dass die Verteidiger alles taten – nur nicht uns verteidigen. Ohne wirklich ein Wort mit meinem Bruder wechseln zu können, wurde ich zurück in die Wartezelle, dann in den Transporter Richtung JVA, gesteckt  – und lag kurz darauf in meinem Bett. Ich fühlte mich wie genötigt. Ich dachte schon, dass ich abgestumpft war und sie mich nicht mehr schocken könnten, doch sie toppten es immer wieder aufs Neue. Mein Anwalt ging mir auch auf die Nerven. Jedes Mal sah es so aus, als wären die Worte von den Richtern wie Meditationen für ihn, er schloss ständig seine Augen, sodass man befürchten musste, dass sie nicht mehr aufgingen, da er einem Herzinfarkt erlegen war.

Den Frust ließ ich am nächsten Tag bei meinen Mithäftlingen aus, die mir wieder nur mit anderen Anwaltsvorschlägen kamen. Nun kam die schlimmste Zeit in der Haft. Weihnachten! Freizeit war nicht mehr vorhanden, nur noch Umschlüsse und Sport gab es auch nicht mehr bis Anfang des nächsten Jahres. Wenigstens durften wir noch einen letzten Einkauf tätigen, ich hatte mich glücklicherweise mit mehreren Dutzend Stücken Nervennahrung versorgt. Dabei achtete ich stets auf Quantität statt Qualität, sonst hätte mein Geld für die Menge nicht gereicht. Ich sah es bereits kommen: Mehrere Mitleidsbriefe würde ich an meine Familie schreiben, das Schreiben half mir auch sehr, mich meines Frusts zu entledigen.
Von Freunden las ich kein einziges Wort.
Dadurch, dass es keine Freizeit mehr gab, war es schwieriger, das von mir versteckte Handy hin und her zu geben. Kartal war inzwischen auch von seinen BS-Maßnahmen befreit und konnte mit uns in den Hof und zum Umschluss. Dennoch nahm er das Handy nicht zu sich. Alle hielten es einstimmig für das Sicherste, wenn das Handy bei mir bleiben würde. Ein Albaner, Tarek war sein Name, war seit geraumer Zeit in unserem Stockwerk, er war vom 1. Stock zu uns gezogen. Er hing mit unseren Türken ab und freundete sich ebenfalls mit Kartal gut an. Die nächsten Tage versteckte ich das Handy wohl nur noch für Tarek. Er war der einzige, der Bedarf nach dem geheimen Elektrogerät hatte. Und so holte ich es immer wieder aus dem Mülltonnenversteck heraus. Täglich sah ich mir Weihnachtsfilme an und versuchte, in eine freudigere Stimmung zu kommen, doch das war nicht von Erfolg gekrönt. Täglich spielte ich Karten mit den beiden anderen Reinigern, wir hatten uns fast nichts mehr zu erzählen. Ab und an schmiedeten wir noch Pläne, wie wir wohl am einfachsten Geld „erwirtschaften“ könnten, sobald wir rauskämen. Wenigstens waren die Türen der Reiniger stets geöffnet. So saß ich wieder eines Tages beim kroatischen Reiniger in der Zelle, spielte Karten mit ihm und bekam überraschenderweise zu hören, dass er sogar auch ehrlich Geld verdient hatte. „Ich habe Immobilien gekauft, die renovierungsbedürftig waren. Nach der Renovierung habe ich die Wohnungsobjekte mit Gewinn verkauft.“ An sich war das eine glaubhafte Geschichte, doch andererseits verstand ich nicht, weshalb er in Haft gekommen war. Laut ihm, weil er Schwarzarbeiter für die Renovierung beschäftigt hatte. Es war noch nicht mal Mittagessenszeit, da hörte ich die Schlüsselgeräusche von Beamten, die wohl in Richtung unserer Zelle kamen. Zwei Beamten standen vor der Tür, der eine mit einem Koffer aus Aluminium. Ich wusste nur zu genau, was das für ein Koffer war.

„Herr Ates, wir müssen leider ihre Zelle kontrollieren“, ertönte die entschuldigend klingende Stimme des Beamten.

Mein Herz pochte wie wild. Was war das für ein entschuldigender Tonfall? Ich stand, betont gelassen, auf, und folgte den beiden Beamten in einen Freizeitraum. „Es tut uns wirklich leid, das kommt auf Anordnung des Bereichsdienstleisters“, meinte er. Diesmal sprach er die Entschuldigung aus. Ich kannte beide Beamte zwar gut und verstand mich auch mit ihnen, doch sie taten nur ihren Job, weshalb ich die Entschuldigungen nicht einordnen konnte. Doch dann kam die Erklärung.
„Sie müssen sich leider ausziehen. Wie gesagt, es tut mir wirklich leid!“  Nun lief ich rot an und schaute zu dem anderen Beamten, um sicherzugehen, dass das kein Witz war. Der zweite Beamte stand an der Ecke, er war jung, etwa in meinem Alter. Er versuchte wohl, mich zu trösten, indem er wegschaute. Währenddessen zog ich mich aus, wobei mir der erste Beamte entgegenkam und sagte: „Herr Ates, wenn Sie die Unterhose ausgezogen haben, drehen Sie sich einmal schnell im Kreis und ziehen sie sofort wieder hoch.“ Ich tat, was er sagte und war erleichtert, als es beendet war. Doch meine Gedanken waren trotzdem ganz woanders. „Wir gehen nun in Ihre Zelle, Sie warten dann bitte solange hier, ich schließe den Raum auch ab.“ Ich nickte, und die Tür schloss sich. Ich ging zum Fenster, riss es auf und atmete erstmal tief ein, mein Herz pochte immer noch wie verrückt. Ich flüsterte: „Verdammter Tarek, alles wegen Dir!“

Ich hatte Angst, das Handy war noch in meiner Zelle.