Ein neuer Tag im neuen Jahr brach an, und alles schien wie immer zu sein: Ich machte mich frisch, meine Zellentür ging auf, ich machte mich auf den Weg zu den Mülleimern und bereitete mich auf die Anträge vor. Schließlich fand ich mich vor der ersten Zellentür mit meinen Reiniger-Kollegen wieder. Doch diesmal war nur Yilmaz dabei, der Kroate schien seltsamerweise noch zu schlafen. „Soll ich den anderen Reiniger rufen?“, fragte ich den Beamten, als er anfing, die erste Zellentür zu öffnen. „Nein, der hat heute seine Gerichtsverhandlung, er arbeitet heute nicht.“ Ich beneidete ihn. Jedes Mal, wenn sich eine Zellentür öffnete, betete ich, dass die Fenster über Nacht gekippt worden waren. Andernfalls kam ein strenger Geruch aus der Zelle, die mutigen Beamten mussten dann immer in die Zellen laufen und sinnbildlich auf Überlebende hoffen, so sehr stank es dann. Doch heute duftete es merkbar süßlich durch den ganzen Gang. Ich hielt es erst für einen Streich meiner Nase, doch der Geruch wurde immer stärker: „Riecht es hier nach Parfum?“, fragte ich Yilmaz. Seiner Mimik konnte ich entnehmen, dass er es ebenfalls roch. „Wir haben eine neue Kollegin. Sie arbeitet im unteren Stockwerk“, informierte uns der Beamte lächelnd. „Was? Und ihren Duft kann man bis hierher riechen?“ Ich war entsetzt, der Geruch war wirklich extrem.

Die Tage vergingen und ich realisierte, dass die Beamtin täglich nach diesem süßlichen Duft roch. Sie unterzog sich wohl tagtäglich einer Parfumdusche. Eine enorme Betonung ihrer Weiblichkeit, die es nicht alle Tage in einer JVA voller Männer gab. Es wurde immer offensichtlicher, dass ein angenehm-femininer Geruch unter all diesen nach Schweiß stinkenden Häftlingen eine enorme Wirkung auf die Männer hatte. Sie verdrehte nur aufgrund dieses penetranten Parfums den Kopf – dennoch, sie war sehr nett und zuvorkommend, eine Art weibliche Version von Herr Nils. Ganz anders als Herr Winter, der mir einen Topfschrubber in die Hand drückte und mir befahl, die Ränder des Küchenbodens zu schrubben. Ich verstand zwar, dass er der Nachfolger des Bereichsdienstleiters werden wollte –  doch sah ich nicht den Sinn darin, die Häftlinge zu diesem Zweck strenger zu behandeln, als es andere Beamte taten. Er war der meistgehasste Beamte unter den Häftlingen. Vielleicht war dies ja der Schlüssel zum beruflichen Aufstieg in einer JVA? Doch die sympathischen Beamten waren glücklicherweise in der Mehrzahl. So fiel mir ein etwas kräftigerer Ossi-Beamter auf, der einige Witze auf Lager hatte.

Weniger witzig war es jedoch, als er mir mitteilte, dass wir in der Vergangenheit mit einem Kinderschänder gegessen hatten. „Sie lügen doch! Wann bitte haben wir mit einem Pädophilen gegessen?“, fragte ich entsetzt. „Ja, er ist auch Türke. Ihr habt ihn in eure Gruppe aufgenommen und mit ihm gemeinsam gegessen. Jetzt ist er in Strafhaft in einer anderen JVA“ er verzog keinerlei Mimik, als er das sagte. Nach einem Scherz sah es nicht aus, und wenn, wäre es ein miserabler gewesen: „Wer? Wer war es? Wieso haben Sie uns nicht gewarnt?!“ In mir stieg bei dem Gedanken eine starke Übelkeit auf. „Es ist schon eine Weile her, dass er hier war. Ich durfte und darf dir nicht sagen, wer es war.“ Als ich meinen Türken davon erzählte, grübelten wir lange darüber, wer es wohl gewesen sein könnte, doch kamen wir zu keinem Ergebnis.

Die Tage vergingen, und ich ging der üblichen Aufgabe der Mittagessensausgabe nach, als plötzlich ein Alarm ertönte. Der Beamte schloss uns sofort in die Zellen ein und rannte davon. Etwa 10 Minuten später öffnete er die Zellentür und fuhr mit der Essensausgabe fort. Den Grund für den Alarm nannte er leider nicht, doch das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Häftlingen. „Der Ossi-Beamte hat einen Häftling in den Freizeitraum gepackt und auf ihn eingeschlagen! Anscheinend soll der Häftling aus nichtigen Gründen immer wieder einen Notruf getätigt haben, und nach einer verbalen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Ossi-Beamten, ging es zur körperlichen über“, erzählte mir Tayfun während des Hofgangs. In der Tat war in dem Zeitraum lange Zeit nichts vom Ossi-Beamten zu hören oder sehen gewesen.

Mittlerweile hatte ich mich – den Sportbeamten sei Dank – im Volleyball stark verbessert. Sie fungierten wie richtige Trainer für mich. Stets hatten sie gute Tipps für sportliche Höchstleistungen parat und motivierten einen, in den jeweiligen Disziplinen besser zu werden. In der restlichen Zeit sah ich die Sportbeamten fast nie in Beamtenbekleidung, ich vergaß tatsächlich nahezu, dass es sich bei ihnen um Beamte handelte. Besonders beim Spiel im Team traten sie nie als die sonst streng dreinblickenden Beamten auf – ganz im Gegenteil: sie selbst spielten mit Begeisterung beim Volley – und Fußball mit.

Während sich in den nächsten Wochen also einiges bei den Beamten getan hatte, blieben wir Häftlinge nicht von den Veränderungen verschont. So wurde der kroatische Reiniger entlassen, sein Nachfolger war wieder ein türkischer Häftling. Mert war sein Name, und ein besonderes Merkmal war, dass er aufgrund der Tatsache, dass eines seiner Beine kürzer war als das andere, humpelte. Nun waren wir ein türkisches Reinigertrio. Interessanterweise sprach mich ein Beamter mal persönlich darauf an: „Ist schon schwierig, mit den anderen beiden Reinigern, oder?“, wollte er von mir wissen. Ich blickte fragend drein: „Wieso denn?“ Er grinste: „Naja, mit zwei Türken ist es sicherlich nicht ganz leicht.“ Erst begriff ich nicht, auf was er hinauswollte, und antwortete prompt: „Ich bin doch auch Türke, was für ein Problem sollte ich da haben?“ Nun war er der Verdutzte: „Sie sind Türke?!“ Ich nickte. „Ich hatte jetzt irgendwie gedacht, Sie wären Deutscher“, meinte er. Meine schwarzen Haare, die braunen Augen und mein ab und an auftretendes Nuscheln schienen ihm wohl nicht aufgefallen zu sein.

Das Türkentrio blieb allerdings nicht lange bestehen. Obwohl Mert als Reiniger einige Freiheiten hatte, war er nur am Meckern und drohte immerzu, seine Mittäter zu verraten. Das war wohl auch der Grund, dass er Ende Januar an seinem ersten von drei Verhandlungstagen entlassen wurde. Wir hatten denselben Anwalt, weshalb mein Anwalt damit prahlte, Mert die Freiheit verschafft zu haben. Da ich aber die genauen Hintergründe aufgrund der täglichen Gespräche mit Mert kannte, wusste ich, dass mein Anwalt da gar nichts großartig machen musste. Ich war sauer auf ihn, mal wieder enttäuscht und wollte jemand Starkes haben, der für mich einstand. Somit entschied ich über die letzte strategische Veränderung: „Vater“, platzte ich eines Tages heraus, „kann ich bitte einen Wahlverteidiger haben? Die Pflichtverteidiger bringen gar nichts! Einer hier hat mir einen Anwalt empfohlen, der soll richtig gut sein.“ Mein Vater willigte ein. Er wollte wohl später nicht angeschuldigt werden, keinen Anwalt für die Entlassung seiner Söhne finanziert zu haben: „Dein Anwalt schläft sowieso immer, wenn ich den besuche. Ich glaube, der ist bald tot“, meinte mein Vater nur trocken. Ich leitete alle weiteren Schritte für einen Verteidigerwechsel ein und wartete auf den ersten Termin mit dem neuen Anwalt.

Extrem erfreut war ich, als Anfang Februar ein Brief mit meinen Verhandlungsterminen eintrudelte. Sage und schreibe 7 Verhandlungstermine waren angesetzt, Ende Februar ging es bereits los, enden sollte es am 05. April 2014. War dies der Tag meiner Entlassung? Ich konnte mir nicht erklären, worüber wir in 7 Tagen verhandeln sollten, doch es waren einige Zeugen geladen. Unter anderem drei Geschädigte, davon einer, der Bahntickets gekauft hatte und zwei, deren Kreditkarten benutzt worden waren. Auch drei BKA-Beamte waren als Zeugen geladen. Die beiden, die mich verhört hatten, und einer, der von der IT war. Sogar von der Deutschen Bahn würde ein Vertreter als Zeuge erscheinen. Dann natürlich wir drei Angeklagten. Das war genug Stoff für mein Kopfkino, bis es dann endlich Ende Februar losging.

Wie ich bereits erwähnte, gab es unter den Häftlingen ebenfalls große Veränderungen. Bisher hatte ich von zwei größeren Gruppierungen gehört, den Black Jackets und den Red Legions. Es waren jedoch nur einzelne Mitglieder der Gruppierungen in unserer JVA, und wenn, dann getrennt voneinander. So waren die Red Legions meist im 1. Stockwerk zu finden, und jene von den Black Jackets im 2. Stockwerk. Im Hofgang konnte man allerdings keine Spannung spüren, obwohl das ja eigentlich rivalisierende Banden sein sollten. Als dann aber Anfang Februar eines Tages der Beamte kam und meinte, ich solle 5 Zugangspakete bereitstellen, war ich verwundert über die hohe Anzahl. Schnell stellte sich heraus, dass es sich dabei um reine Black Jackets Mitglieder handelte. Es gab eine große Verhandlung, in der auch Tayfun involviert war, und in der es wohl um die Black Jackets ging. Die Mittätertrennung wurde allem Anschein nach aufgehoben, womit alle Angeklagten nach Schwäbisch Hall verlegt wurden. Schnell bemerkte ich, wie Tayfun sich veränderte. Er fühlte sich viel stärker als zuvor, mit den Red Legions Häftlingen hatte er jedoch bisher nie Auseinandersetzungen gehabt. Doch jetzt musste er, wohl oder übel, seiner Gang das Gegenteil beweisen.

„Jungs, das ist Emre! Der ist ein richtig stabile Junge! Wir müssen den aufnehmen!“ Tayfun packte mich während des Hofgangs an der Schulter und zeigte mich seinen Leuten vor, so als würde ich gerne zur Gruppe gehören wollen. Diese zeigte sogar Interesse an mir, als ich von meinen Taten erzählte. Natürlich spielte dabei auch das versteckte Handy eine große Rolle. Ich hingegen hatte Angst, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Es würde sicher Nachteile bei meinen bevorstehenden Verhandlungen nach sich ziehen oder gar in irgendwelche Haftbeurteilungen resultieren. Doch gab es ein noch viel größeres Problem: Die Nachfrage nach dem Handy war gewachsen. Tayfun wollte es haben, Tarek wollte es haben, Kartal ebenfalls, da hinzu kamen die ganzen Black Jackets Mitglieder, und da unter anderem deren Anführer. Während diese Kandidaten sich in der Freizeit um das Handy stritten und ich jedes Mal das Handy wieder einsammeln musste, ohne wirklich zu wissen, wer es denn nun hatte, gab es noch einen weiteren Risikofaktor: Ein Albaner wurde von Stammheim nach Schwäbisch Hall verlegt. Dort war er bereits Reiniger gewesen, weshalb er sofort den freien Reinigerposten bei uns übernehmen durfte. Mit seinem Landsmann Tarek verstand er sich gut und auch Kartal war ein alter Kollege aus Stammheim-Zeiten von ihm. Das bedeutete, dass der neue Albaner-Reiniger auch öfter Zugang zu dem Handy hatte. Und der Bedarf war immerhin groß genug: er hatte eine Freundin.

Es war wie Russisch-Roulette, irgendjemanden würde es sicherlich treffen. Ich hoffte, bis zu meinem Urteil ungeschoren davon zu kommen und war dementsprechend aufgeregt, als wir Reiniger einmal in unsere Zellen eingesperrt wurden und draußen lauter Beamte zu hören waren. Das Handy befand sich in der Mülltonne in der Besenkammer und ich hatte Angst, dass das Versteck aufgeflogen war. Die Tür ging auf, und ein grinsender Beamte stand vor mir, doch sonst war nichts. „Ähm, wieso haben Sie uns denn alle eingeschlossen?“ fragte ich. „Das müssen Sie nicht wissen“, meinte er und grinste noch breiter. Ich dachte mir nicht viel dabei, abends erwähnten der Albaner und ich das kurz in der Kochgruppe, doch keiner schenkte dem Vorfall wirkliche Beachtung.

Es war nun fast Ende Februar, meine Verhandlungen würden beginnen. Meinen neuen Anwalt bzw. vielleicht Anwältin durfte ich auch bereits kennen lernen. Leider meinte sie, dass aufgrund meines frühzeitigen Geständnisses eigentlich nicht mehr viel zu machen wäre, sie aber ihr Bestes geben würde. Sie sah wenigstens nach einer qualifizierten Anwältin aus und machte keine leeren Versprechungen: „Sehen Sie, Herr Ates: Laut Strafgesetzbuch in diesem Paragraphen erwartet Sie eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Wenn Sie allerdings wegen bandenmäßigen Betrugs verurteilt werden, fängt die Freiheitsstrafe für Sie als Kopf der Bande bereits bei fünf Jahren an. Wir müssen also alles daransetzen, dass Sie nicht als Bande verurteilt werden.“ Ich war sehr froh, dass es endlich mal jemanden gab, der seine Aussagen auf Gesetzen stützte, das hatte für mich Hand und Fuß. Doch war ich umso angstvoller, dass mich nun wirklich mehr als fünf Jahre erwarten könnten. Eine Horrorvorstellung schlechthin, mit der meine Hoffnung auf Freiheit in weite Ferne rückte. Immerhin wurde uns in der Anklageschrift in mehreren Fällen bandenmäßiger Betrug vorgeworfen. „Ab drei Leuten zählt man nämlich als Bande“, schloss meine neue Anwältin ihre Ausführungen.

Das Treffen mit meiner Anwältin war erfrischend und informativ, dennoch brachte es mich ins Grübeln. Am nächsten Tag weckte mich – wie so oft in letzter Zeit – der süße Duft der neuen Beamtin. Wie jeden Tag gingen wir durch die Zellen. Als wir bei der Einzelzelle von Tarek ankamen, war ich sehr darüber überrascht, dass auf seinem Namensschild ein „BS – Besondere Sicherheitsmaßnahmen“ – Schild angebracht worden war. Er kam aus seiner Zelle heraus und sah so aus, als hätte man ihn regelrecht vergewaltigt.  „Tarek, was ist los? Wieso hast Du besondere Sicherheitsmaßnahmen?“ Er blickte mich traurig an. Solch eine starke Persönlichkeit hatte ich noch nie so gebrochen gesehen. Ohne ein Wort zu sagen, verzog er sich wieder in seine Zelle.

Die Beamtin, stets von ihrer umwerfenden Duftwolke umgeben, schloss die Zellentür ab und blickte mich an: „Er wird in eine andere JVA verlegt, weil er gestern Nacht mit einem Handy erwischt wurde.“