Meine Anwältin reagierte unverzüglich auf meinen verzweifelten Brief und meldete Besuch an, während welchem wir besprachen, wie es nun weitergehen sollte. Sie verstand, dass mir die JVA Stammheim nicht guttat und ich mich nun seit vier zermürbenden Monaten hier befand. Auch hatte ich diesen U-Haft-Status gehörig über, ich wollte endlich in die Strafhaft. Meine Anwältin würde die Revision noch heute zurückziehen. Und tatsächlich, es vergingen keine drei Tage, als ich die Nachricht bekam, dass mein Urteil rechtskräftig sei.

Fast stündlich fragte ich den Vollzugsbeamten von nun an, ob im Computer bereits stand, in welche JVA ich zur Strafhaft kommen würde. Eine ganze Woche verging, als ich Herrn Gleich erneut fragte: „Komme ich jetzt nach Ravensburg oder nicht?“ Herr Gleich war ein sehr netter Beamter und zudem noch hilfsbereit, wir verstanden uns auch gut. Ihn konnte ich öfter mit meinen Problemen stören. Schließlich war es soweit, Herr Gleich rief mich in sein Büro: „Herr Ates, es ist nun im Computer vermerkt. Sie werden zur JVA Schwäbisch Hall verlegt.“ Ich war baff: „Wie jetzt? Wieder zurück dahin? Ich dachte, ich komme zur JVA Ravensburg?“ Ich überlegte, ob die JVA Ravensburg wohl besser gewesen wäre, als er weitersprach: „Ja, laut Vollzugsplan sollte es eigentlich JVA Ravensburg sein. Ich weiß es leider auch nicht. Der Transport sollte dann in drei Tagen soweit sein.“ Schnell gab ich Behlül und Hassan Bescheid, beide freuten sich für mich. „Es ist eigentlich ganz gut, dass ich zurück nach Hall gehe. Die kennen mich schon, die schicken mich sicherlich in den Freigang. Das Problem ist nur, ich habe mich gar nicht dort in der Gegend für die Unis beworben. Aber vielleicht schicken die mich ja nach Stuttgart ins Freigängerheim“, teilte ich meine Gedanken mit den Jungs. Ich war in solch einer Plauderlaune, dass ich sogar der Beamtin Frau Benz stolz davon berichtete, worauf diese wiederum antwortete, dass ihre Freundin in der JVA Schwäbisch Hall arbeiten würde. Natürlich wollte ich sofort wissen, wen sie meinte und war überrascht, als sie den Namen von Frau Habich nannte. „Das wusste ich gar nicht! Wissen Sie, dass Frau Habich mir total geholfen hat, bevor ich hierher verlegt wurde? Ich verstehe mich sehr gut mit ihr.“ Ich erzählte ihr von ein paar Gefälligkeiten, die Frau Habich für mich getan hatte und bat sogleich Frau Benz etwas frech um eine ebensolche Gefälligkeit: „Könnten Sie eigentlich Frau Habich Bescheid geben, dass ich zurückkomme, damit sie mir einen Job als Reiniger besorgt? Also, dass ich auf ein Stockwerk komme, wo die einen Reiniger brauchen?“ Sie bejahte und wünschte mir alles Glück.

Ich verabschiedete mich von allen. Belühl und ich entschieden uns dazu, in Kontakt zu bleiben, auch, wenn in der Haft oft die Devise „Aus den Augen, aus dem Sinn“ vorherrschend war. „Oha, die Lücke an deinem Hinterkopf wächst ja wieder zusammen“, meinte ich zu ihm, als er mir sagte, dass er froh sei, mich kennen gelernt zu haben: „Du hast mir die Haft echt erleichtert. Es ist schade, dass Du gehst. Wir bleiben in Kontakt, Bruder!“ In der nächsten Stunde befand ich mich schon wieder auf dem Transportweg in diesem riesen Bus, der kleinere Zellen beinhaltete. Es fühlte sich wirklich ein Stück weit so an, als würde ich zurück nach Hause fahren – ich freute mich doch tatsächlich ein klein wenig auf Schwäbisch Hall. Wir stoppten bei einigen JVAs, damit Häftlinge ein- und aussteigen konnten. In der JVA Heilbronn mussten wir allerdings in eine Wartezelle, wahrscheinlich hatten die Fahrer Mittagspause. Als wir in dem Trubel in eine kleine Zelle geführt wurden, sah ich plötzlich ein mir bekanntes Gesicht: Yilmaz. Er war wohl auch hier Reiniger geworden, zumindest packte er einige Kartons aus dem Transportbus und trug diese ins Gebäude. Ich bevorzugte, ihn zu ignorieren, zumal er mich in dem Gewirr nicht wiedererkannt hatte. Mir schauderte es, als ich dann den anderen Reiniger sah: Es war der Häftling, der damals gemeint hatte, er habe einen Opa unsanft gestoßen, woraufhin dieser auf eine Bordsteinkante gefallen sein solle. In Wirklichkeit hatte er sein eigenes Kind, einen Säugling, ins Koma geschlagen. Am liebsten wäre ich über ihn hergefallen, doch es blieb bei verurteilenden Blicken meinerseits. Wir bekamen auch Vesper, Brot mit Käse und Wasser. Nach einer Stunde ging es dann weiter nach Schwäbisch Hall – als wir ankamen, und ich den Teich im Innenhof sah, sprudelte nicht nur das Wasser zum Teich, sondern auch das Glück, geradewegs in meinen Körper.

Wir wurden in die Wartezellen gebracht und nacheinander aufgerufen. Wir mussten nämlich in die Kammer und unsere Sachen abholen. Als die Tür sich öffnete und der Erste aufgerufen wurde, erblickte ich eine Beamtin: Frau Habich! Ich strahlte sie an und rief ihren Namen: „Frau Habich!“ Sie erwiderte mein Lächeln und blickte zu mir. „Herr Ates! Schön, dass Sie wieder da sind!“ Sie ging mit dem Häftling in die Kammer. Als ich dann endlich dran war, stand Frau Habich mit einem weiteren Beamten da. Ich konnte erkennen, dass dieser Beamte eine höhere Position innehatte, er hatte nämlich einen silbernen Stern auf der Schulter: „Wer ist Herr Ates?“, fragte er. Bevor ich etwas sagen konnte, wies Frau Habich in meine Richtung: „Er war schon Reiniger bei uns auf dem Stockwerk. Du brauchst doch einen Reiniger?“, fragte sie den Beamten. „Wollen Sie Reiniger werden?“, fragte mich der Beamte daraufhin ohne Umschweife. Ich bejahte lächelnd und hätte vor Glück ein Salto machen können. „Gut, ein Reiniger verlässt mich die kommende Woche, Sie arbeiten dann in meinem Stockwerk.“ Ich bedankte mich, doch wurde ich noch nicht in die Kammer gerufen. Es ging hier wohl nur um den Job. Er ging fort, und ein paar Aufrufe später war ich endlich an der Reihe: „Frau Habich, vielen Dank! Hat sich Frau Benz bei Ihnen gemeldet?“ Sie nickte, doch sie bugsierte mich zunächst zur Kammer, in der ich ein weiteres bekanntes Gesicht erspähte, das Wohlgefühl in mir hielt an: Es war der Beamte, der damals meine Zelle kontrolliert und das Handy dabei nicht gefunden hatte. „Herr Ates, diesmal gibt es aber nur zwei Pullover!“, tadelte er milde lächelnd, als er meine Klamotten auf seinem Zettel erfasste: „Ja klaro! Der Sommer ist da, da brauch ich sowieso keine Pullover mehr.“ Als er mich in den nächsten Warteraum schicken wollte, kam ihm Frau Habich zuvor: „Ich bringe Herrn Ates direkt in seine Zelle, da muss ich sowieso hin.“ Der Kammerbeamte war einverstanden, und schon ging es über den wundervollen Innenhof mit Blick auf den Teich in Richtung meiner Zelle. „Perfekt, jetzt bin ich einfach genau gegenüber von dem Gebäude, in dem ich bereits war. Komm ich wieder in den zweiten Stock?“ Ich blickte hinter mich und sah diese Zellenfenster, und versuchte ein Flashback zu bekommen. „Nein, diesmal sind Sie im ersten Stockwerk. Wie war es in Stammheim?“, fragte Frau Habich. „Total scheiße. Ich habe Schwäbisch Hall voll vermisst. Vielen Dank, dass Sie mir den Reinigerjob klargemacht haben!“ – „Ja die Frau Benz hatte sich gemeldet, ich war überrascht. Das mach ich doch gerne. Sie sind ja auch ein guter Reiniger“, meinte sie sanft. Sie brachte mich in eine Vier-Mann-Zelle, in der ich jedoch alleine war. Einen Fernseher bekam ich auch sofort. In Stammheim hatte sich in jeder Zelle ein kleiner Röhrenfernseher befunden, in Schwäbisch Hall musste man dafür jedoch monatlich einen Betrag von ca. 13 EUR bezahlen. Aber mein Konto war gut gefüllt.

Schnell füllte ich alle nötigen Anträge aus. Das hieß: Anmeldung für die Gespräche mit dem Sozialarbeiter zwecks Studium und offenen Vollzugs, Sportaktivitäten und der Anmeldung zum Kurs für die türkische Integration. Ich war pünktlich zum Abendessen gekommen, als die Tür aufging und ich die verschiedensten Brotsorten sah. Mir lief der Speichel bei diesem Anblick im Mund zusammen. Dies hier war absoluter Luxus, so viele Brotsorten hatte ich nicht einmal bei einem Bäcker draußen gesehen. Die Reiniger fragten natürlich sofort, wann, wie und weshalb ich reingekommen war. Die Beamten tolerierten meist kurze Gespräche – in Kurzform berichtete ich davon und auch, dass ich ein Jahr als Reiniger in der U-Haft im gegenüberliegenden Gebäude gewesen war. Abends ertönte dann auch das Geräusch, das ich schon ewig vermisst hatte: Das automatische elektronische Aufschließen aller Zellentüren gleichzeitig – es klang wie ein Orchester der Freiheit in meinen Ohren. Ein paar Häftlinge kamen rein, übliches Theater, übliche Fragen – gleiche Rollen, andere Darsteller. Und dann gab es noch diejenigen, die einen auf hart machen wollten und mit ihrer Haltung ein „Leg dich nicht mit mir an“ zum Ausdruck brachten. Es kam aber eher einer Bitte, wenn überhaupt einer Forderung gleich, aber sicher keiner Drohung. Kontakte konnte ich am ersten Tag nicht knüpfen. Leider war auch kein einziger Häftling dabei, den ich kannte. In diesem Punkt hatte ich mir etwas anderes erhofft, sogar die Beamten des Gebäudes waren mir fremd.

So schnell wie möglich ging ich zum Büro und fragte nach, ob ich meine Eltern anrufen dürfe. In der Strafhaft war dies erlaubt. „Sie dürfen nur maximal 2 Mal in der Woche für je 10 Minuten telefonieren. Dafür müssen Sie einen Antrag jeden Freitag abgeben. Diese Woche ist schon alles ausgebucht“, wies mich der Beamte auf die Regeln hin. Ich bat jedoch darum, nur kurz telefonieren zu dürfen, um meinen Eltern Bescheid geben zu können, dass ich verlegt worden war. Der Beamte willigte überraschenderweise ein: „Ja gut, um 20:00 Uhr ist normalerweise Schluss mit den Telefonaten. Dann dürfen Sie ausnahmsweise um 20:00 Uhr telefonieren.“ Ich bedankte mich abermals. Diese Großzügigkeit der Beamten hatte ich in Stammheim sehr vermisst.

Ein groß gebauter Türke hatte mich Neuen entdeckt und wies mich an, meine Unterlagen zu nehmen und in seine Zelle zu kommen. Ich kam der Aufforderung nach und stand mit meinen Unterlagen vor seiner Zelle: „Schuhe ausziehen bitte“, sagte er. „Ihr seid ja echte Türken“, lächelte ich, doch mein Lächeln prallte an einer Wand aus grimmigen Gesichtern ab – und womöglich steckten dahinter noch dazu gefährliche Köpfe. Der groß gebaute Türke stand angelehnt an der Bettkante, neben ihm ein Italiener – der mir irgendwie wenig Beachtung schenkte – und einer, der mir wie der „Chef“ vorkam, ein arabisch-türkisch aussehender und ziemlich bärtiger Junge, der auf dem Bett „residierte“. Alle schienen ungefähr in meinem Alter zu sein. Ich sollte mich neben dem bärtigen jungen Mann hinsetzen und alles erzählen. Sie nahmen sich viel Zeit für mich, fast eine Stunde fragten sie mich aus. Am Ende hatte ich wohl den Test bestanden und durfte gehen – doch so wirklich wollten sie mich wohl nicht in ihren Kreis aufnehmen. Es fühlte sich so an, als wollten sie mir sagen: „Junge, du bist sauber, aber etwas zu sauber für uns.“

Als ich abends daheim anrief, ging meine Mutter ran und war erleichtert, dass ich mich endlich in Strafhaft befand und mich um den offenen Vollzug kümmern konnte. Während sie sich vor Allem darüber freute, dass ich in Schwäbisch Hall war, hatte sie eine viel erfreulichere Nachricht für mich: „Emre, Du hast eine Zusage von der Hochschule Ravensburg bekommen!“ In dem Moment kam mir meine Mutter vor wie der Paketzusteller, der mir ein Zalando-Paket in die Hand drückte – ich hätte schreien können vor Glück! „Super, Mama, ich muss schnell mit der Sozialarbeiterin reden, damit ich in den Freigang nach Ravensburg verlegt werde. Das Gute ist, die kennen mich hier, dann müssen die mich keine sechs Monate beobachten!“ Meine Mutter wünschte mir viel Glück bei meinem Vorhaben und versicherte mir, sofort einen Besuchstermin auszumachen. „Mama, bring den Cem mit! Der darf doch jetzt, oder?“, fragte ich. Sie bejahte.

Ich fühlte mich so gut, alles lief zu meiner Zufriedenheit und endlich hatte ich auch einen Ausgleich: Den Sport hatte ich sehr vermisst, vor Allem das Volleyballspiel bereitete mir große Freude. Ich hatte mich in dem einen Jahr in der U-Haft merklich verbessert und hatte von Mal zu Mal mehr Spaß beim Spielen. Als mich der Beamte dann bereits am nächsten Morgen zum Sport mitnahm, spürte ich, wie die Phase des Glücks ihren weiteren Lauf nahm. Als der Beamte mich dann vor der Sporthalle abließ und der Sportbeamte kam, erkannte er mich sofort wieder. Ich begrüßte ihn herzlich mit seinem Namen, während er mich etwas schief angrinste: „Ah, der Wäscheschnüffler ist zurück!“ Mir stieg die Schamesröte ins Gesicht. Bevor ich die JVA Schwäbisch Hall verlassen hatte, hatte mich – wohlgemerkt ein anderer Beamte! – erwischt, wie ich auf seinen Wunsch hin an der Wäsche von Tayfun gerochen hatte, um zu überprüfen, ob der Weichspüler die Wäsche frisch genug riechen ließ. Wie es aussah, hatte sich dies unter den Beamten rumgesprochen. Noch peinlicher war es, dass sich der Sportbeamte auch nach ca. 5 Monaten daran erinnern konnte. Doch andererseits wertete ich dies auch als positiv. Ich war mir sicher, dass ich diese sechs-monatige-Beobachtungsphase würde überspringen können. Die Tage vergingen, und ich freundete mich mit einem Albaner an, welcher mich wiederum einem weiteren Albaner vorstellte, welcher mich schließlich dem Reiniger-Albaner vorstellte, dessen Stelle ich übernehmen sollte. Sie waren alle sehr freundlich, und als ich von einigen Albanern aus Stammheim berichtete, erkannten sie so manch einen wieder. Zirka eine Woche nach meiner Ankunft ertönte auch schon das erste Mal mein Name in der Freizeit. Der Beamte rief mich, ein Brief war gekommen: Er war von der Staatsanwaltschaft Stuttgart.

Ich riss den Brief sofort auf und traute zunächst meinen Augen kaum.