Während des Hofgangs umringten unsere Türken den Mustafa und fragten, was er getan hatte, weshalb er saß usw. Ich unterhielt mich mit anderen Häftlingen und beobachtete unsere Türken. Mir wurde klar, dass sie sich gegenüber ihm ganz anders verhielten als zu mir in meiner Anfangszeit. Er wurde viel ernster genommen und wenn er was sagte, wurde ruhig zugehört, vielmehr war er es, der das Gespräch leitete. Aus weiter Ferne erkannte ich, dass er eine gewisse Führungseigenschaft besaß.

Als der Hofgang vorbei war, kam der Beamte auf mich zu: „Herr Ates, sie bekommen einen neuen Zellenkollegen, sie wissen Bescheid?“ Ich nickte und ging zu meiner Tür.

Die Häftlinge standen reihenweise vor ihren Zellentüren, während der Beamte von Tür zu Tür ging, sie einzeln aufschloss, den jeweiligen Häftling hineinließ und dann die Türen wieder zuschloss. Als er bei mir ankam, ließ er die Tür geöffnet: „Ich lass offen, dann kann der Mustafa gleich umziehen.“ Während der Beamte dann weiter ging und sich um die anderen Häftlinge kümmerte, kam der Mustafa schon mit seiner Bettwäsche angetanzt und meinte sofort mit einem fiesen Grinsen: „Du schläfst oben!“

Ich dachte mir nichts dabei, immerhin war er groß, daher wäre es unpraktischer, wenn er jedes Mal hoch auf das Bett klettern musste. Außerdem war es mir auch nicht so wichtig, ob ich nun unten oder oben schlafen würde, bis ich dann nach ein paar Tagen verstand, dass es doch einen Unterschied macht.

Mittwochs gab es frisches Rasierzeug, Seife, Zahnbürste und weitere Hygieneartikel. Es war Pflicht, die alten Rasierklingen zurückzugeben und auch bis vor die Tür zu kommen, um neue Hygieneartikel zu bestellen. Als es dann soweit war und um 5:30 Uhr die Tür aufgeschlossen wurde, wartete ich einige Sekunden bis der Beamte dann reinkam und schaute, ob wir noch lebten: „Braucht ihr nichts?“

Der Mustafa rührte sich kein bisschen, er hatte wohl einen sehr tiefen Schlaf.

„Doch!“ ich sprang runter, nahm die alten Rasierklingen und Zahnbürsten von Mustafa und mir, tauschte diese aus und legte mich wieder in mein Bett. Täglich gab es die Möglichkeit, seinen Müll abzugeben und neue Müllbeutel zu bekommen. Auch hier rührte Mustafa keinen Finger, und ich schoss jedes Mal aus dem Bett, sprang runter und übergab meinen Müll. Mustafa schrieb Briefe, die man morgens abgeben musste, auch hier stand ich auf und übergab seinen Brief, obwohl ich selbst keinen Brief hatte. Auch für Anträge war es dasselbe Spiel. Nachts schlief ich recht früh, meist zwischen 22:00 und 23:00 Uhr, Mustafa hatte natürlich stets die Fernbedienung. Wirklich jede Nacht wachte ich auf, sah wie der Fernseher lief und das auf einer Lautstärke, die den Schlaf einfach störte, sodass ich aus dem Bett springen musste, um den Fernseher manuell auszuschalten, denn wie immer war die Fernbedienung auf dem Boden neben dem Bett von Mustafa. Dass ich auch mal etwas snderes als D-Max anschauen wollte, interessierte ihn nicht: „Du bist doch ein Mann?! Also schau Dir einen Männerkanal an, etwas Besseres als D-Max gibt es nicht.“

So langsam wurde mir der Haftaufenthalt unangenehm, denn mein Zellenkollege war unerträglich. Doch das größere Problem war sein Trieb nach Fitness, wo er mich unbedingt miteinbeziehen wollte. „Du bist so dünn! Das ist gar nicht männlich von dir! Bau mal paar Muskeln auf.“ Ich wusste gar nicht, was sein Problem mit mir war: „Also ich habe eigentlich kein Problem mit meinem Körper. Außerdem habe ich sowieso gerade andere Probleme, als dass ich die Motivation hätte, hier Fitness zu machen.“

„Junge Junge, stell Dir mal vor, du und deine Freundin laufen die Straße entlang und da kommen drei, vier Besoffene und machen deine Freundin an, was machst Du dann?“ Er erwartete wohl, dass ich sage, dass ich die zusammenschlage: „Also wenn sie erwartet, dass ich mich da in eine Schlägerei verwickle, dann ist sie sowieso die Falsche. Ich würde erwarten, dass sie versteht, dass ich das zwar nicht gutheiße, aber es einfach die bessere Lösung ist, die Typen zu ignorieren und seinen Weg zu gehen.“ Er lachte sich kaputt: „Was anderes hätte ich von Dir nicht erwartet. Junge ich sag dir, was Du dann tun musst: Du sagst deiner Freundin, dass sie gehen soll und dass du nachkommst. Und wenn sie weg ist, dann haust Du einfach ab! Oder Du baust eben paar Muskeln auf und stehst deinen Mann!“

Er brachte mich dazu, mich an den Fenstergittern fest zu heben und meine Beine hochzuziehen, sodass ich Sit-Ups oder was auch immer machen sollte. Dabei schrie er mich jedes Mal wie verrückt an, wenn ich nachließ. Genauso war es bei den Liegestützen, und auch bei Übungen für die Arme war er kreativ: Er nahm die Wäschesäcke und stopfte sie mit vollen Flaschen zu. Diese nutzte er quasi als Hanteln. Ich “durfte” anfangs jeweils mit einer Flasche trainieren, aber mit der Zeit wurde mir das Fitnessgedöns in der Zelle einfach zu viel. Das Problem war, dass er mich immer wieder anschrie und mich manchmal sogar hart am Arm packte. Einmal nahm er sogar einen Kulli und stach ihn an mein Ohr, zwar nicht ganz rein, so dass ich eine Verletzung davon tragen würde, aber es hatte schon wehgetan: „Was würdest Du machen, wenn das jetzt kein Kulli sondern ein Messer wäre?! Du musst lernen, dich zu verteidigen!“ Für mich war dieser Typ einfach nur verrückt: „Ich habe bisher nie irgendwelche Probleme mit irgendwelchen Menschen gehabt, wieso sollte sich das in Zukunft ändern?“ Als ich in dieser Nacht im Bett lag, war mir zum Heulen zumute. Ich war am Boden zerstört, er machte mich sowohl psychisch als auch physisch fertig. Jeden Tag bemängelte er männliche Eigenschaften von mir und auch meinen Körper machte er stets fertig. Ich war damals nicht Manns-genug ihn loszuwerden oder ihm meine klare Meinung mitzuteilen. Stets dachte ich daran, dass ich die Spannung zwischen uns nicht vergrößern wollte, da ich 24 Stunden mit ihm in einer Zelle war und ihm quasi nicht aus dem Weg gehen konnte.

Er war damals Kickboxer und auch bei der türkischen Armee hatte er gedient, war sogar in einer etwas höheren Position gewesen. Kein Wunder, dass er in mir eine völlig hilflose Person sah. Er bekam oft Briefe von seiner Freundin, manchmal gab er mir sogar die Briefe zu lesen, er war wohl stolz auf die Sätze, die seine Freundin ihm geschrieben hatte. Und bei jedem Brief war ich geschockt, denn alles im Brief bestätigte, was Mustafa mir seit geraumer Zeit erzählte: Er hatte seine Freundin sehr oft betrogen, er hatte etwas mit seiner Therapeutin und hatte sogar eine reiche Freundin, die ihm alles Mögliche kaufte. Einmal war ich schockiert, als ich las, dass seine deutsche Freundin bei seinen Eltern zu Besuch war. Sie wollten dann irgendeinen Film schauen und fanden ein paar Rohlinge im Regal. Sie legten dann eine DVD ein und waren völlig entsetzt, als sie ein Sex-Tape mit seiner Therapeutin und ihm sahen. Sie hatte sich so geschämt vor seinen Eltern und sei sich jedoch trotzdem sicher, dass das nur eine Ausnahme war. Aber als sie dann in den nächsten Briefen schrieb, dass sie einige Frauen angerufen hatten um ihr mitzuteilen, dass er mit ihnen fremd gegangen ist und sie auch das Handy von Mustafa durchwühlte und vieles vorfand, was sie lieber nie gesehen hätte, gab sie Mustafa eine letzte Chance. Ich wusste nicht, was bei dieser Frau verkehrt gelaufen und warum sie so verschossen in Mustafa war, dass sie ihm jedes Mal eine neue Chance gab.

Mustafa antwortete natürlich immer zurück, denn er hatte tonnenweise Briefmarken bekommen, die symbolisierten, dass er auch oft zurückschreiben soll.

Als dann auch gut zwei Wochen um waren und auch bald der Termin für mein Geständnis anstand, war ich total deprimiert und rannte zum Beamten: „Wann bekomme ich endlich meine Einzelzelle?“ fragte ich. Und dann kam die glückliche Nachricht: „Morgen hat einer einen Gerichtstermin, gut möglich, dass er entlassen wird, dann bekommst du die Einzelzelle.“

Der nächste Tag stand an, es war ein Freitag. Als ich am Donnerstagabend Mustafa mitgeteilt hatte, dass ich eventuell morgen in eine Einzelzelle verlegt würde, wurde er ganz verrückt: „Nein! Du gehst nirgendwo hin! Was soll ich dann am Wochenende ohne Fernseher machen? Bist Du verrückt?“ Ich überlegte kurz: „Der Fernseher kann am Wochenende bei Dir bleiben, ich les einfach ein Buch. „Nein, ist mir egal, nachher stecken die irgendsoeinen Rumänen in meine Zelle! Und außerdem erlauben die das nicht, dass der Fernseher, der auf dich angemeldet ist, in meiner Zelle bleibt.“

Ich wusste einfach nicht was ich tun sollte, eigentlich wusste ich das schon, konnte es aber nicht umsetzen.

Am Freitag kam dann wirklich der Bereichsleiter Bender in unsere Zelle: „Herr Ates, die Einzelzelle ist frei geworden, wollen Sie rüber?“ Mustafa sah mich böse an und alles was ich sagen konnte war: „Herr Bender, ist es okay, wenn ich am Wochenende noch hierbleibe, damit der Mustafa nicht ohne Fernseher bleibt und ich dann erst am Montag umziehe?“ „Herr Ates, das ist kein Kindergarten hier. Entweder Sie ziehen jetzt um, oder nicht.“ Ich war sehr traurig, als mir folgender Satz über die Lippen ging: „Ok, dann kann ich leider nicht umziehen. Ich bleib dann wohl hier.“

Das Wochenende verging etwas ruhiger, der Mustafa wollte sich wohl auf diese Weise bedanken, dass ich geblieben war. Dennoch war ich mehr als nur traurig.

Am Montag war Mustafa recht früh wach, wo er doch ansonsten so lange schlief. „Emre ich habe gleich Besuch, meine Freundin kommt. Mach uns mal Frühstück, bis ich wieder da bin.“ Durch den Einkauf hatten wir einige Lebensmittel, wie Nougatcreme, Brot usw. in unserem Schrank. Als er dann zum Besuch ging, stand ich auf und machte mich frisch.

Plötzlich ging die Tür auf und erneut stand Herr Bender da: „Also Herr Ates, das ist ihre letzte Chance, wollen Sie nun in die Einzelzelle oder nicht?“ Ich war in den letzten Monaten nie so glücklich gewesen wie jetzt, ich konnte es kaum glauben, mein Herz raste und ich ergriff die Chance, Mustafa war nicht da: „Ja, ich will!“ Sofort packte ich meine Sachen, meinen Fernseher und auch meinen Einkauf und rannte in meine neue Einzelzelle, mit der Angst, dass Mustafa gleich von seinem Besuch zurückkommen würde.

Als ich dann komplett umgezogen war und sich die Tür meiner Einzelzelle schloss, war ich überglücklich. Nach ungefähr 10 Minuten hörte ich dann einen Schrei: „EMREEEEE!“

Es war Mustafa, und er war wütend. Noch wusste ich nicht, was passieren würde. Denn was in den nächsten zwei Tagen passierte, hätte niemand ahnen können.