Für mich vollkommen ungewohnt, ging meine Zellentür um 5:00 Uhr morgens auf, ein kurzes „Morgen“ war zu hören und ein leichter Windzug strich über mein Gesicht. Ich stand auf und wusste erst nicht, was zu tun ist. Seit gestern hatte ich den Job als Reiniger inne, dennoch hatte ich gestern nichts gemacht außer zuzusehen, zudem war das mein erster Morgen als Reiniger. Ich machte mich frisch und zog mich an.  Als ich die Schwelle der Zellentür überschritt, spürte ich eine innere Unruhe. Es fühlte sich falsch an, die Zelle zu verlassen.  Nur zögerlich verließ ich die Zelle und stand im Flur. Es war keiner zu sehen, nicht einmal ein Justizbeamter.  Noch zwei andere Türen waren geöffnet, die Zellentür vom kroatischen Reiniger Anton und jene des deutschen, Marcel. Der Anton war etwas älter, auf um die 40 schätzte ich ihn, er hatte also das Sagen. Dennoch war er wie ein Mentor für mich, ich verbrachte die nächsten Monate viel Zeit mit ihm, er erzählte mir, wie die Dinge abliefen, auf was man als Reiniger achten musste und auch, weswegen er saß: ‘Immobilienbetrug’. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen, auch seine Erklärung habe ich nicht mehr ganz in Erinnerung. Meiner Meinung nach saß er wegen etwas anderem. Dennoch könnte es in Richtung Betrug gewesen sein. Als Gewalttäter oder Drogendealer hatte man schlechte Karten, je Reiniger zu werden, wohingegen Betrüger, meist Richtung Steuerbetrug, für den Reinigerposten bevorzugt wurden. Der Marcel sah für mich nicht wie ein Betrüger aus, er sah für mich auch nicht wie ein Gewalttäter oder Drogendealer aus, in meinen Augen sah er einfach unschuldig aus. Ich fragte mich stets, wie so ein Musterdeutscher nur in die Haft kommen konnte. Er hatte mit Drogen gedealt, und das wohl mit etwas größeren Mengen, aber ausschließlich Gras – meinte er zumindest. Als ich ihm erzählte, weshalb ich saß, kam ihm das Lachen: „Bist Du Tickethall.de?“ fragte er grinsend, und wartete seltsamerweise darauf, dass ich ihm antwortete.


Nun stand ich da im Flur und sah, wie Marcel aus der Zelle kam und in einen kleinen Abstellraum ging. Ich begab mich zu ihm und bemerkte, dass sich auf einem Rollwagen ein großer Teekessel befand. Er packte noch Teebeutel auf den Rollwagen und ein Paket an Formularen/Anträgen. Anton war inzwischen auch da und drückte mir eine Rolle von gelben Säcken in die Hand. Nach einigen Minuten kam dann der Beamte. Herr Winter war sein Name: „Sind Sie der Neue?“, fragte er mich. Ich bejahte und dann ging’s los: Er öffnete die erste Zellentür, ging hinein, sah nach, ob alle noch lebten, fragte, ob sie was brauchten und befahl ihnen, den Müll rauszubringen. Einer von den Zellenbewohnern sprang aus dem Bett und brachte einen vollen Müllsack, den er in meinen gelben Sack werfen wollte: „Was tun Sie da? Das ist nicht getrennt! Plastik kommt in den gelben Sack, kein Biomüll! Bis morgen ist das getrennt!“. Herr Winter schickte den Häftling wieder mit dem Müllbeutel in seine Zelle. Dieser schien angepisst zu sein, aber im Moment war ihm wohl der Schlaf wichtiger. Wir liefen von Zellentür zu Zellentür, überall schliefen die Häftlinge noch tief und fest. Manchmal kam ein strenger Geruch aus der Zelle, manchmal roch es frisch und bei einer Zellentür duftete es nach Pfefferminz. Aus dieser Zellentür kam ein alter Mann raus, ziemlich dürr, Haare lang und zerstreut, er hatte etwas Albert-Einstein-mäßiges an sich. Seine ruckartigen Bewegungen schienen Herrn Winter in keinster Weise zu interessieren, der Alte ging zu Anton und verlangte nach zwei Packungen Pfefferminztee. Seltsamerweise nahm er sich aber kein heißes Wasser mit. „Frank, rauchst Du die Dinger schon wieder?“, rief Anton dem alten Häftling hinterher, als Herr Winter grinsend die Tür schloss. „Der hat lebenslänglich bekommen, ist aber in Revision“ teilte mir Marcel mit, „er hat sogar lebenslänglich mit SV“. „Was heisst SV?“ wollte ich wissen. „Sicherheitsverwahrung ist das.“ Bis heute weiß ich allerdings nicht, welche Nachteile genau eine Sicherheitsverwahrung mit sich bringt. Ich weiß nur, dass lediglich Schwerverbrecher solche Strafen bekommen. Bei dem alten Mann handelte es sich um einen Mörder, wie ich später erfuhr.

Als alle fast vier Dutzend Zellen abgeklappert waren, und ich mittlerweile zwei volle Gelbe Säcke mit mir trug, gingen die zwei anderen Reiniger in ihre Zellen. Anton rief mich zu sich, er hatte heißes Wasser aufgesetzt und bot mir eine Tasse Kaffee an: „Ich trinke keinen Kaffee, das schmeckt eklig, wie könnt ihr nur sowas trinken?“ Anton lachte: „Haha, ach das kommt noch mit der Zeit, soll ich Dir Kakao machen?“. Ich nahm den kalten Kakao dankend an.

In den nächsten Jahren sollte mir noch auffallen, dass ich wohl laktoseintolerant geworden war. Zudem – und ironischerweise zeitgleich mit dem Beginn der Laktoseintoleranz – gewöhnte ich mich langsam an den Geschmack von Kaffee und kann heutzutage keinen Tag mehr ohne eine Tasse davon verstreichen lassen. Wir unterhielten uns etwa bis nach einer halben Stunde die Durchsage kam, dass sich die Arbeiter bereit machen sollten. Um 6:30 Uhr wurde es dann laut im Gang: Ein Beamter öffnete eine Zellentür nach der anderen, ein zweiter Beamter schloss die Zellentüren hinter ihm wieder ab, nachdem sich die Arbeiter-Häftlinge aus der Zelle begeben hatten. Nicht einmal die Hälfte der Häftlinge ging arbeiten, der Rest lag noch im Bett. „In der Strafhaft muss man arbeiten gehen, man hat keine Wahl. In der U-Haft steht es einem aber frei, ob man das möchte”, klärte mich Marcel auf, während wir uns im Flur aufhielten und darauf warteten, dass die Arbeiter zum Innenhof geführt wurden. Wir nahmen die vollen blauen und gelben Müllsäcke mit und begaben uns mit den Arbeitern in den Innenhof. Es fühlte sich sehr gut an, einfach durch die Türen zu marschieren, und die sanfte Brise im Morgengrauen auf der Haut zu spüren. Auch die Enten im Teich hatten irgendwie eine angenehme Wirkung.

Als ich mich wieder oben im Gang befand und Herr Winter hinter uns die Tür zum Innenhof aufschloss, machte er  eine Fingerbewegung: „Mitkommen ins Büro“. Wenn es etwas gab, was man als Reiniger lernte, dann war es, Befehlen von Beamten sofort Folge zu leisten. Ich folgte ihm ins Büro, das Licht war aus, Herr Winter setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete seinen Computerbildschirm ein. Es verging fast eine halbe Minute in Stille, als er nach dem ganzen Rumgeklicke endlich ein Wort von sich gab: „Wissen Sie, wer Sie zum Reiniger ernannt hat?“. Die Frage schien ernst gemeint zu sein. „Ähm, nein, ich weiß nur, dass Herr Nil gekommen ist und gesagt hat, dass ich Reiniger bin.“ Herr Winter sah mich gar nicht an, klickte noch ein wenig weiter, gab ein knappes „Aha“ von sich. Dann stand er auf und kam in meine Richtung: „Also Herr Ates, Sie haben Glück, dass Sie Reiniger geworden sind. Missbrauchen Sie unser Vertrauen nicht. Damit das klar ist, in diesem Stockwerk habe ich das Sagen.“ Er grinste dabei, irgendwie wirkte er auch vom Aussehen her wie Clint Eastwood für mich. Ich dachte mir nur: „Was für ein Film läuft denn bei dem?“

Ich machte mich direkt an meine Arbeit. Anton und Marcel lernten mich ein, es war einfach: Der Gang musste gefegt und gewischt werden. Die Küchenzeile musste geputzt und desinfiziert werden. Die gesammelte Wäsche (heute gab es keine) musste in der Waschmaschine gewaschen werden. Die Freizeiträume mussten aufgeräumt werden, und dann gab’s einige Stunden Ruhe bis zur Mittagspause, vorausgesetzt, der sich aktuell im Dienst befindende Beamte hatte keine weiteren Aufgaben. Nachdem das Mittagessen verteilt und das Geschirr anschließend wieder eingesammelt worden war, gab es meist ein Mittagschläfchen für uns Reiniger, anschließend wurde das Abendessen schon um 17:00 Uhr wieder ausgegeben und dann war schon Feierabend angesagt. Außer mittwochs, da gab es Wäschetausch. Die Arbeiter durften ihre Arbeitsklamotten wechseln und auch Häftlinge ohne Privatkleidung hatten die Möglichkeit, frische Wäsche zu bekommen. Das war eine ziemlich eklige Angelegenheit. Obwohl ich Handschuhe besaß, wollte ich die Wäsche (meist auch noch Unterwäsche) nicht ansehen, oder gar anfassen. Vom Gestank kam mir das Kotzen, denn wir mussten immer die Anzahl der zurückgegebenen Wäsche zählen und dann in einen Sack packen. Die Häftlinge, die in der Wäschekammer arbeiteten, taten mir jedes Mal auf’s  neue Leid.

Meine Türken schmiedeten wohl schon die ersten Pläne, was sie Schönes mit meiner Hilfe und Stellung als Reiniger anstellen könnten, denn sie verhielten sich besser als gewohnt zu mir. Ich begriff, dass man sich als Reiniger einiges gegenüber anderen Häftlingen erlauben konnte, denn diese wollten diesen lieber als Freund statt Feind haben. Einmal, da war ich schon seit zwei Wochen als Reiniger tätig, rief ein Häftling nach mir: „Hey Reiniger! Komm mal her!“. Er befand sich am Ende des Ganges. Ich sah ihn an und lief einfach in meine Zelle rein, da ich mich sowieso auf dem Weg zu meiner Zelle begeben hatte. Dann hörte ich die lauten Schritte, und er stand vor meiner Zellentür. „Hey, hast Du mich nicht gehört? Wieso kommst Du nicht, wenn ich nach Dir rufe?“. Er war ein Russe, wohl etwas älter, aber klein geblieben und auch etwas dünn, er hatte etwas „Gollum – aus – Herr – der – Ringe“ – artiges an sich. „Ich bin nicht dein Hund, wenn Du was von mir willst, dann komm doch selber.“ Mittlerweile hatte ich genug Selbstbewusstsein aufgebaut und traute mir diese Aussage zu. Zudem hoffte ich, dass im schlimmsten Fall meine Türken hinter mir stehen würden. „Hund, ja? Das nächste Mal kommst Du, mir egal. Ich habe Dir letztens gesagt, dass Du meine Wäsche falten sollst, nachdem Du sie gewaschen hast.“ Das hatte er in der Tat: „Du hast mir morgens um 6:30 Uhr, kurz bevor Du zur Arbeit bist, den Wäschesack in die Hand gedrückt und ich hab’ nicht gesagt, dass ich das falten werde. Ist mir doch egal, was Du da gesagt hast.“ Er war etwas verwundert, dass ich ‘Milchbubi’ mich verbal wehrte: „Warum faltest Du dann die Wäsche von Savas und Taylan?“ fragte er mich. „Weil ich Bock drauf hab, bei Dir habe ich keine Lust dazu. Außerdem ist das nicht meine Aufgabe, ich mach das bei Taylan und Savas freiwillig.“ Er überlegte kurz: „Gut, dann sorgen wir dafür, dass Du nicht mehr Reiniger bist.“ Auch wenn ich etwas Angst hatte, dass da was Wahres dran sein könnte, antwortete ich tapfer: „Viel Spaß dabei.“ Verwundert war ich, als mich dann einige Minuten später unsere Türken zu sich in die Zelle riefen und sich dieser Gollum-Russe auch bei ihnen befand. Er hatte sich wohl beschwert, dass seine Wäsche nicht gefaltet wird, aber die von Taylan und Savas schon. Und dann kam etwas, was ich nicht erwartet hatte: „Emre, Du musst auch seine Wäsche falten, sonst ist das unfair“, sagte mir Taylan, vor den Augen des Russen. „Achso, okay. Wenn das unfair ist, machen wir folgendes: ich falte eure Wäsche auch nicht mehr.“ Taylan schien angepisst zu sein, Savas ergriff das Wort: „Emre muss die Wäsche nicht falten, er faltet die Wäsche von den Jungs, wo er es will. Wenn Du willst, dass er deine Wäsche faltet, dann musst Du ihm einen Tabakbeutel geben.“ Der Russe überlegte und war entschlossen, mir einen Tabakbeutel zu geben, damit ich seine Wäsche falte: „Gib mir lieber 10 Tafeln Schokolade, ich bin Nichtraucher.“ Keine 5 Minuten später stand er mit den 10 Tafeln in meiner Zelle, schien sogar eher froh als angepisst zu sein. Danach hatte ich nie wieder ein Problem mit ihm, lernte aber, wie ich als Reiniger nebenher noch etwas dazu verdienen konnte.

Doch das Reiniger-Dasein hatte auch seine schlechten Seiten. Herr Winter hatte mich die letzten zwei Wochen hart arbeiten lassen. Er wollte, dass ich den Boden mit irgendeinem Wachsmittel poliere, und das stundenlang. Er gab mir einen kleinen Schrubber und wollte, dass ich die ganzen Kanten im Flur, in der Küche und im Freizeitraum durchgehe, und die schwarzen Flecken wegschrubbe. Zudem erlaubte er mir nicht zum Sport zu gehen, da ich mich theoretisch in der Arbeitszeit befand. Auch sonst war er weniger nett als die restlichen Beamten. Ich hasste es, wenn morgens die Zellentür aufging und ich sein Gesicht sah. Dann wünschte ich mir einfach nur, dass die 8 Stunden baldmöglichst vergehen würden, damit er endlich Feierabend machte. Auch kontrollierte er meine Zelle häufiger. Es gab einige Sachen, die er mir in meiner Haftzeit nicht erlaubte oder bei denen ich das Gefühl hatte, dass er einfach nur wollte, dass es mir schlecht geht. Doch er war nicht nur gegenüber mir so, er war zu allen Häftlingen mies. Er gehörte zu den Beamten, die die Häftlinge einfach „brennen“ sehen wollten.

„Anton, was hat es mit dem Herrn Winter auf sich? Was ist sein Problem mit uns?“. Er war wieder am Kaffee kochen, ich glaube, stündlich trank er etwas davon. „Emre, scheiß auf den, da musst Du durch.  Der will BDL werden.  Aktuell ist es ja der Bender, der geht aber bald in Rente und der Herr Winter ist der Nächste, der höchstwahrscheinlich BDL wird. Deswegen ist der so streng, glaube ich zumindest.“ Das war eine interessante These, und diese bestätigten mir mit der Zeit auch andere Beamte, mit denen ich mich gut verstand. Nach fast einem Jahr war ich für eine gewisse Zeit weg von Schwäbisch Hall, nämlich in Stammheim. Als ich dann 5 Monate später wieder nach Schwäbisch Hall zurückverlegt wurde, sah ich die Beamtin Frau Duft, mit der ich mich vor meiner Verlegung bereits gut verstanden hatte. Als ich mich mit ihr unterhielt, kam das Thema Herr Winter auf. „Ist Herr Winter denn endlich BDL geworden, jetzt, wo Herr Bender endlich in Rente gegangen ist?“. Sie lachte: „Nein, er hat Mist gebaut, Herr Winter ist jetzt in einem anderen Stockwerk und wird wohl für eine lange Zeit kein BDL werden.“ Bis heute weiß ich nicht, was er angestellt hatte. Ich weiß nur, dass er alles dafür gegeben hätte und auch gegeben hat um BDL zu sein, doch das Schicksal hatte wohl andere Pläne mit ihm.

Es waren also nun fast 3 Monate seit meiner Verhaftung vergangen und ich hätte auch alles dafür gegeben, damit mein Bruder aus der Haft entlassen wird, doch das Schicksal hatte wohl auch andere Pläne mit ihm. Ich saß in meiner Zelle, in meiner Hand ein Brief von meinem Verteidiger. Er teilte mir mit, dass mein Bruder auch ein Geständnis bei den BKA-Beamten abgelegt hatte…

Und sie nun Haftbeschwerde einreichen würden, damit er entlassen wird.

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