Mein Geständnis hatte bereits die Runde gemacht, und überall war nur Gelächter zu hören: „Emre, Du bist so dumm, die Bullen werden Dich ficken”, war die Standardaussage meiner Mithäftlinge. Sie schüttelten ihre Köpfe, wenn sie mich sahen, für einige Tage war ich der dumme kleine Häftling, dessen Schicksal besiegelt war.

„Das war schon dumm von Dir, wenigstens dein Passwort hättest Du nicht rausgeben sollen.“ meinte Taylan. Ich fühlte mich sehr mies, tagelang schwirrten unangenehme Gedanken durch meinen Kopf, nachts konnte ich nicht schlafen. „Taylan, eigentlich habe ich das nur gemacht, weil ich gehofft hatte, dass mein Bruder entlassen wird.“ Ich versuchte mein Geständnis, welches in seinen Augen ein Fehler war, zu rechtfertigen, doch er blieb bei seinem Standpunkt: „Sei einfach froh, dass Dich die Leute nicht fertigmachen, weil Du mit Bullen kooperierst und vor allem, weil du niemanden verraten hast. Und ich hoffe für Dich, dass dein Bruder rauskommt, denn damit hast du recht, als älterer Bruder hast Du die Verantwortung für ihn zu tragen. Soweit ich verstanden habe, ist er auch nur wegen dir in dieser Sache verwickelt.“ Obwohl mich diese Aussage wohl aufmuntern sollte, verursachte sie ein schlechtes Gefühl in mir. Nun fürchtete ich nicht nur, dass sie meinen Bruder nicht entlassen würden. Ich hatte auch Angst, dass sie auf den dritten Mittäter kommen könnten.

Die Tage vergingen, meine Eltern besuchten mich wöchentlich, mal kamen beide Elternteile, mal nur meine Mutter, ein anderes Mal nur mein Vater. Im Endeffekt waren es nur diese beiden, die mich besuchten. Meine Schwester durfte wohl nicht: „Sie soll Dich nicht in diesem Zustand sehen.“ sagte mein Vater bloß – er dachte wohl, meine Schwester sei nicht alt genug, um das selbst zu entscheiden. Was ich durchaus schade fand, immerhin war sie mein Zwilling. Auf dem Besuchszettel, den ich bekam, standen immer beide Namen meiner Eltern drauf, allerdings war das wie ein Glücksspiel: Kam ich in den Besucherraum rein und meine Mutter war alleine da, war ich überglücklich. War mein Vater da, wurde ich sofort deprimiert, waren beide da, hatte meist mein Vater das Wort, meine Mutter und ich waren nur stille Zuhörer. Es war teils ziemlich lustig anzuhören, wie mein Vater versuchte, mir ein schlechtes Gewissen – welches ich ohnehin hatte – einzureden. Da er das aber aufgrund der akustischen und optischen Besuchsüberwachung auf deutsch sagen musste, war mir meist eher zum Lachen zu mute. Mein Vater war wie der böse Bulle und meine Mutter war die Gute. Mein Vater kotzte sich bei mir aus, und ich kotzte mich bei meiner Mutter aus. „Erzähl deiner Mutter nicht, dass es Dir hier schlecht geht, wir schauen doch nach Dir, mach sie nicht traurig, erzähl ihr gute Sachen, dass Du hier Freunde hast, usw.“, riet mir Savas jedes Mal vor meinem Besuch. Dies tat ich auch: „Savas Abi, ich erzähl ihr die ganze Zeit, dass es mir gut geht. Aber mitten im Gespräch beschwere ich mich dann über meinen Vater. Das war früher so, und ist auch heute noch so. Meine Mutter muss sich von mir leider viel anhören in Bezug auf meinen Vater. Er kommt einfach, macht mich fertig und dann bin ich in der Zelle und zerbreche mir den Kopf. Wenn ich nicht mit jemandem darüber rede, dann fällt es mir auch schwer, in Ruhe zu schlafen. Meine Mutter weiß schon seit Jahren, dass ich mich mit meinem Vater nicht verstehe. Ich denke, sie ist trotzdem froh, wenn mein einziges Problem mein Vater ist, und nicht irgendwelche anderen Häftlinge.“

Das schönste Gefühl waren immer noch die Briefe, bunt bemalt, verziert mit Blümchen, Schmetterlingen und mit allem, was noch so ein kleines Kind an Fantasiekraft hatte: die Briefe meiner kleinen Schwester, ich vermisste sie von Tag zu Tag immer mehr. „Vor einigen Tagen kam deine kleine Schwester in die Küche, als ich am Kochen war, und hat einfach angefangen zu weinen. Als ich fragte, was denn los sei, meinte sie: „Ich vermisse Emre Abi, wo ist er? Warum kommt er nicht mehr?“, und sie tupfte ihre Tränen an meinem Kleid ab. Sie liebt Dich sehr Emre, du hast Dich mit ihr immer am besten verstanden, du bist mit ihr so oft ausgegangen wie kein anderer Bruder es in deinem Alter tun würde. Du bist ein guter Sohn und Bruder.“ Meine Mutter fing wieder an zu weinen, als sie mir dies im Besucherraum erzählte. Jedes Mal trafen ihre Worte direkt mein Herz, die Wärme, die ich verspürte, wenn sie in meiner Nähe war, war unbeschreiblich, ich hatte Sehnsucht nach ihr, auch wenn sie vor mir im Besucherraum saß. Denn ich wusste, nach einer halben Stunde war dieser rare und zugleich schöne Besuch vorbei. Ich war der Inbegriff eines Muttersöhnchens. Ich redete, meine Mutter hörte mir zu, meine Mutter redete, ich unterbrach sie, um selber reden zu können, weil ich einfach so viel zu erzählen hatte. Nach meinem Besuch stellte ich immer fest, dass ich soviel erzählt hatte, aber von meiner Mutter nie etwas mitbekommen hatte, weil ich sie so selten reden ließ. „Mama, ich lass Dich nie viel reden, das tut mir echt leid, ich habe aber ein großes Bedürfnis, Dir so viel zu erzählen.“ Meine Mutter mit ihrem Engelslächeln meinte immer nur, dass sie mir gerne zuhört.

Von meinem Vater bekam ich mit, dass mein Bruder bald einen Termin mit denselben Beamten wie ich hätte, er müsse auch aussagen. Danach würden sie eine Haftbeschwerde einlegen, damit er entlassen wird. Ich freute mich darauf so wie sich ein kleines Kind auf Weihnachten freut. Von meinem Anwalt war aber kein Wort zu hören, kein Brief, kein Anruf, kein Besuch.

In der Tat war ich vor meiner Haft der Meinung gewesen, dass Häftlinge nur auf Stress aus sind und tagtäglich Schlägereien in Höfen stattfinden, aber das war zum Glück nicht der Fall. Jeder wollte nur seine Ruhe, und solange sich keiner aufspielen wollte, hatte alles einen schönen geregelten Ablauf. Es schien so, als würde in der Haft alles mit rechten Dingen zugehen – doch ich war so blind.

„Hey Emre, ich werde morgen entlassen, ich hab einen Gerichtstermin”,  sagte der rumänische Reiniger, mit dem ich mich richtig gut verstand. „Woher weißt Du, dass Du entlassen wirst?“ fragte ich verwundert. „Du, ich hab nur was geklaut, und weil ich Rumäne bin, haben die mich einfach reingesteckt, es war klar, dass ich nur bis zur Verhandlung sitzen muss. Die dachten sonst, dass ich nach Rumänien fliehe.“ Ich teilte mit, dass ich mich für ihn freue, er wünschte mir auch eine baldige Entlassung: „Du, die brauchen einen neuen Reiniger und ich hab gedacht ich schlag Dich vor, Du passt am besten zu der Stelle.“ Ich war eigentlich zufrieden mit meiner Einzelzelle und dass ich nicht arbeiten musste, denn ich hatte keine Lust wieder, wie beim letzten Mal, irgendetwas transportieren zu müssen. Dennoch wusste ich nicht, was mich als Reiniger erwarten würde, und fragte nach, was denn ein Reiniger sei. „Achso, Du weißt das gar nicht? Das ist der beste Job in der Haft. Deine Tür ist den ganzen Tag offen, du kannst im Flur rumlaufen und kannst auch zu fast jeder Sportveranstaltung, also zum Fußball für Arbeiter und auch für Nichtarbeiter. Du musst nur morgens bisschen putzen, dann Essen verteilen und Wäsche waschen. Das ist aber eine Vertrauensposition, also Du hast Zutritt zu den ganzen Kammern usw.“ Mein Gesicht strahlte vor Glück: „Meine Tür ist den ganzen Tag geöffnet?“. Dafür hätte ich wirklich jeden Job angenommen. Als er mir am Abend während der Freizeit ganz genau erklärte, was ich zu tun habe, gefiel mir der Job als Reiniger immer mehr. „Können wir direkt zum Beamten gehen und fragen, ob ich dann morgen Reiniger sein darf?“, fragte ich kurz vor dem Einschluss. „Ich erledige das morgen, keine Angst.“ versicherte mir der Rumäne.

In dieser Nacht schlief ich sehr gut, mein Herz pochte vor Glück, meine Tür wäre den ganzen Tag offen…besser ging es wohl kaum! Doch am nächsten Tag hörte ich nichts von irgendjemandem in Bezug auf den Reinigerposten, den Tag danach auch nicht und auch am dritten Tag war der Reinigerposten unbesetzt. „Jeder will Reiniger werden, ich auch Emre, ich glaub kaum, dass die dich nehmen, weil die dich nicht kennen, du bist noch zu neu“, teilte mir Taylan im Hofgang mit. „Aber Du bist doch bestimmt auch bald weg, das würde sich doch gar nicht lohnen, wenn Du Reiniger bist?“ fragte ich ihn. „Haha, ich bin noch lange hier, glaub mir. Außerdem kennen die mich schon sehr gut.“ Meiner Meinung nach lag er falsch, denn er war seit knapp einem Jahr hier. Warum also war er nicht längst Reiniger geworden?

Dann, am vierten Tag, die glückliche Nachricht: Ich war gerade dabei, mein Gesicht zu waschen, da öffnete sich meine Zellentür und mein Lieblingsbeamter stand vor der Tür, Herr Nil: „So, Herr Ates, wie wär’s, wenn die Tür ab jetzt offen bliebe?“. Ich wusste, dass das das Codewort für „Sie sind jetzt Reiniger“ war. Ich war sehr glücklich: „Herr Nil, kann die Tür noch für 10 Minuten geschlossen bleiben?“. Er sah mich verwundert an. „Ich muss was erledigen“. Er lachte und schloss die Tür ab.

Was ich bis dahin nicht wusste, war, dass man als Reiniger einen guten Draht zu den Justizbeamten aufbauen und dies von Vorteil sein konnte. Doch alles Gute hatte auch eine schlechte Seite an sich. Der Reiniger hatte tatsächlich eine gewisse Vertrauensstellung bei den Beamten, man befand sich als Reiniger immer zwischen beiden Fronten, zwischen Häftlingen und Beamten. Der Job als Reiniger war das Beste, was mir in der Haft passieren konnte, doch anfangs gab es Probleme mit Mithäftlingen. Irgendwann fragte ich mich, ob unsere Türken extra dafür gesorgt hatten, dass mal wieder ein Türke Reiniger wird. Denn man hatte tatsächlich einen seiner eigenen Leute in einer gewissen Machtstellung. Auch, wenn sich das wie aus einem Film anhört, unsere Türken profitierten am meisten von meiner Stellung als Reiniger.

Ich habe meine Vertrauensposition einige Male missbraucht.