Mein Herz raste wie verrückt, mein Gesicht lief rot an und ich spürte meine Beine nicht mehr. Ich wollte mich einfach auf den Boden werfen, weil ich mich so schwach fühlte. Mein Vater sah aus wie eine Leiche, er wusste nicht, was zur Hölle gerade los war und sah abwechselnd mich und den Polizisten, der wohl der Einsatzleiter war, an. Ein junger, muskulöser und blonder Polizist kam angelaufen und wollte, dass ich meine Hände auf den Rücken lege. Es machte „Klack“ und meine Hände spürten das erste Mal das kalte Eisen von Handschellen. Währenddessen kam eine andere Polizistin und übergab dem Einsatzleiter ein Dokument: „Herr Emre Ates, wir haben hier einen Durchsuchungsbefehl. Sie werden beschuldigt, durch illegal erworbene Kreditkarten Bahntickets gekauft…“ Ich konnte es nicht glauben, sie hatten mich tatsächlich bekommen, das war’s. Ich hatte mich immer so sicher hinter dem PC gefühlt, aber ich hatte mich geirrt. Oder vielleicht nicht?

„…und ein Kontaktformular erstellt zu haben, das die Kunden ausfüllen sollten, um die Bahntickets zu bekommen. Eines dieser Kontaktformulare wurde auf Ihre eMail-Adresse angelegt…“, fuhr der Einsatzleiter fort. Ich war vollkommen verwirrt. Was für ein Kontaktformular? Wie stellten sie meine private eMail-Adresse in Bezug mit den Bahntickets? Da stimmte irgendetwas nicht. Obwohl ich voller Aufregung war, konnte ich sehr klar denken und eins war mir bewusst: Die hatten keine handfesten Beweise, sondern nur eine doofe eMail-Adresse – aber wieso dann die Handschellen?

Ich war noch in meinem Schlafanzug, mein Gesicht ungewaschen und ich stand wie ein Verbrecher vor fast zwei Dutzend Polizeibeamten. Unsere Wohnungen waren klein, was wollten die mit so vielen Polizisten bloß durchsuchen? Als ich darüber nachdachte, ob ich irgendwelche Beweismittel daheim gelagert hatte, überkam mich schon mal eine gewisse Erleichterung, weil das nicht der Fall war. „Wir werden nun Ihr Zimmer und das Wohnzimmer durchsuchen. Wir haben hier jemanden von der Stadtverwaltung dabei, der uns bei der Durchsuchung zuschaut.“ Mein Vater sagte mir auf türkisch, dass ich Ruhe bewahren sollte. Ich war bereits extrem ruhig. „Hier wird deutsch geredet!“, brüllte der Einsatzleiter meinen Vater an. Die Beamten stürmten in die jeweiligen Zimmer, während ich im Treppenhaus stand und der junge blonde Polizist mich noch immer am Arm festhielt. Mein Vater ging mit dem Einsatzleiter in die einzelnen Zimmer, er sollte sagen, wem welcher PC und Notebook gehört, wessen Handy da auf dem Tisch und neben dem Bett lag. Während ich gut 20 Minuten im kalten Treppenhaus barfuß auf dem noch kälteren Marmor-Boden stand, dachte ich an ein Video, das ich vor geraumer Zeit gesehen hatte. Es ging darum, welche Rechte man bei einer Durchsuchung hatte, und es war mein gutes Recht zu schweigen. Also schwieg ich. „Kann ich mich wenigstens umziehen und mein Gesicht waschen?“, fragte ich den blonden Beamten. Er grinste nur: „Ach, Du kannst doch reden? Sag erstmal, was Du angestellt hast!“. Ich sah in seinen Augen Hass, ich glaube, wenn er gedurft hätte, hätte er es dort gewaltsam aus mir herausgeprügelt. Ich wurde mit Handschellen in das Wohnzimmer geführt und durfte mich endlich auf das Sofa setzen. Mein Vater saß mir gegenüber. Die Beamten waren wohl mit der Durchsuchung fertig, denn auf unserem großen Esstisch lagen eine Menge CDs, mein Handy, unser PC und sonstiger Papierkram von mir. Sogar ein elektronisches Spielzeug nahmen sie mit, weil ich ja irgendwas drauf installiert haben könnte. Die dachten wohl, ich wäre ein extremer Hacker. Während ein Mann alles protokollierte, schleppten andere die ganzen Sachen raus, womöglich ins Auto. In dem Moment war es mir nur peinlich, dass die eine Menge alter Rohlinge mit Pornofilmen mitnahmen. Die Handschellen an meinen Händen empfand ich noch immer nicht als besorgniserregend.

Andere Beamte beobachteten mich während ich dasaß, allen voran der blonde Beamte. Aber auch eine Frau, ein richtiges Mannsweib, machte mich dumm an. Ich schwieg weiterhin wie ein Grab, was den ganzen Einsatzkräften wohl ziemlich auf den Keks ging. Langsam fühlte ich mich in Gefahr, hatte wirklich Angst, dass einer von ihnen handgreiflich wird. Zumal die Frau von der Stadtverwaltung die ganze Zeit nur am Esstisch saß, sie hatte gar nicht gesehen, wie die Beamten mein Zimmer durchsuchten. Die hätten mir locker etwas unterjubeln können. Aber das würde die deutsche Polizei doch nicht tun? Sowas passiert nur in den Filmen, aber das, was ich gerade erlebte, kam mir wirklich vor wie ein schlechter Film. Meine Handgelenke taten weh und das führte dazu, dass ich sauer auf die Beamten wurde. Kein Wort würden die aus mir herausbekommen. Ein weiterer Beamte kam mit einem geschlossenen Brief von meiner Bank. „Öffne den Brief“, befahl er mir. Ich dachte erst an mein Briefgeheimnis, doch das war mir in dem Moment irgendwie doch schnuppe, mehr als rote Zahlen würde er ohnehin nicht lesen können. Sie nahmen mir die Handschellen ab und ich öffnete den Brief, ein Schaudern überkam mich in dem Moment – Der Brief vom Bankdrop-Verkäufer, er sollte doch heute ankommen? Ich schaute zur Uhr, und mein Herz fing erneut an zu rasen. Der Postbote kam immer um 9:30 Uhr bei uns an, es dauerte nur noch eine halbe Stunde, dann würde das belastende Beweismittel nebenan im Briefkasten meiner Oma landen. Jetzt bekam ich tatsächlich Angst. Mein Gehirn spielte verschiedenste Szenarien ab: was, wenn die Polizisten mir absichtlich das Bankkonto verkauft hatten? Was hatte ich falsch gemacht, wieso war da von einem Kontaktformular die Rede? „Hör zu, junger Mann. Am besten, du erzählst uns jetzt, was Du getan hast. Dann wirst Du es viel einfacher vor Gericht haben. Wir haben schon alles Nötige, um dich in den Knast zu stecken, wenn du kooperierst, ist das nur zu deinem Besten.“ Ich antwortete nicht. Er redete so lange auf mich ein, bis ich schließlich fragte: „Welche Beweismittel haben Sie denn gegen mich?“. Er war erstaunt, dass ich nach gut 10 Minuten endlich mal ein Wort von mir gab: „Habe ich Dir im Durchsuchungsbefehl vorgelesen, deine eMail-Adresse.“ Er und ich wussten ganz genau, dass das kein ausreichendes Beweismittel war, um jemanden zu verklagen, wohl aber um eine Hausdurchsuchung anzuordnen: „Jeder kann eine eMail-Adresse irgendwo angeben, wer sagt, dass ich das war? Vielleicht wurde ich mit einem Trojaner infiziert und meine eMail-Adresse wurde irgendwie abgegriffen.“ Der Einsatzleiter war sauer: „Vor wem hast Du mehr Angst? Vor uns oder deinem Vater?“. Ich sah meinen Vater an, so verzweifelt hatte ich ihn noch nie gesehen, was er wohl mit mir anstellen würde? Aber was war denn nun, würde ich in Haft kommen, oder lassen die mich hier? Immerhin hatten sie mir die Handschellen abgenommen und rein rational betrachtet hatten die ja nicht einmal einen Haftbefehl, sondern nur einen Durchsuchungsbefehl.

„Können wir uns kurz sprechen?“

Mein Vater wollte wohl Kompromissbereitschaft signalisieren. Er ging mit dem Einsatzleiter auf den Balkon, beide rauchten eine Zigarette und ich sah, wie mein Vater versuchte, etwas Väterliches zu tun und mich aus der Scheiße rauszuholen. Der blonde Polizist redete wieder auf mich ein: „Auch, wenn wir dich heute nicht mitnehmen, früher oder später landest Du sowieso im Knast.“ Der Gedanke erfreute ihn wohl. Mittlerweile war der Postbote schon da gewesen, denn ein Beamter kam mit ein paar neuen Briefen angetanzt. Diese waren allerdings alle an meinen Vater adressiert. Ich wartete aufgeregt, ob jetzt gleich ein: „Aha, was haben wir denn da im Briefkasten deiner Oma gefunden“ kommen würde. Es kam allerdings nichts … leider. Denn hätten die Beamten in dem Moment ihre Arbeit gut gemacht und diesen verdammten Brief mit der Bankkarte erwischt, dann wäre ich schon damals deswegen verurteilt worden und hätte wohl weniger Mist gebaut. Doch stattdessen kam der Einsatzleiter wieder mit meinem Vater in das Wohnzimmer hinein, wünschte mir viel Glück mit meinem Vater und dann war es plötzlich leise und leer in der Wohnung, sie alle waren einfach weg. Genauso wie meine ganzen Sachen.

Nun saß ich da mit meinem Vater. „Geh, wasch dein Gesicht, zieh dich um und mach dich für die Arbeit fertig.“ Er war immer noch in einem Schockzustand. Als ich mein Zimmer betrat, befand es sich in einem völlig verwüsteten Zustand: alles lag auf dem Boden, Tische und Stühle, sowie Schränke wurden komplett auf den Kopf gestellt. Nachdem ich mich frisch gemacht und umgezogen hatte, kam nun die wirkliche Angst zum Vorschein, die Angst vor meinem Vater. Das Gute war nur, dass ich in weniger als einer Stunde arbeiten gehen würde und mein Vater mich nicht ewig lang verhören konnte. Als ich wieder ins Wohnzimmer ging, sah ich meinen Vater am Telefon. Er sprach mit meiner Mutter, nein, er schrie sie an. Irgendwann fiel auch der Name meines Bruders: „Cem soll gefälligst eine Weile dort bleiben, die buchten den sonst auch noch ein.“ Das hatte mein Vater nicht so schlau angestellt, dieser Satz wurde später als Beweismittel bei der Verhandlung herangezogen, wir wurden zu diesem Zeitpunkt nämlich bereits abgehört. Ich ergriff die Chance und ging raus, ich musste mich mit Adnan treffen und ihn warnen.

Ich ging zu einer Telefonzelle, rief ihn an, und kurze Zeit später waren wir am Bahnhof. Als ich ihm erzählte, was passiert war, drehte er völlig durch, er bekam große Angst. „Adnan, schau mal, wo ich gerade stehe? Ich stehe vor dir und rede mit dir! Die haben einen Scheiß gegen mich, gegen uns, in der Hand! Siehst du das denn nicht? Das heißt für mich einfach, dass wir alles gut gemacht haben! Irgendwo habe ich wohl einen kleinen Fehler gemacht, ich habe keine Ahnung, was die mit diesem Kontaktformular wollten, aber wir finden das schon irgendwie raus.“ Adnan war diesmal nicht so leicht zu überreden und, um ehrlich zu sein, auch ich war etwas besorgt. Allein der Fakt, dass die Polizisten mich mitnehmen wollten, es aber am Ende nicht konnten, gab mir jedoch das Gefühl, dass ich gut war in dem, was ich tat. Wir beschlossen, für einige Zeit nichts zu machen, er hatte recht, es würde keinen Sinn machen, gleich wieder loszulegen. „Was ist mit dem Bankkonto?“ wollte Adnan noch wissen, bevor wir uns trennten. „Ich weiß es nicht, irgendwie glaube ich, dass das mit der Hausdurchsuchung zusammenhängt. Es kann kein Zufall sein, dass gerade, wenn das Bankkonto ankommen soll, die Polizisten eine Hausdurchsuchung machen.“

Ich stieg in das Auto und fuhr zur Arbeit, mein Vater hatte mich angerufen, doch ich hinterließ ihm nur eine SMS mit der Nachricht, dass ich zur Arbeit fuhr.

Als ich bei meinem Arbeitgeber ankam, wurde ich vom Werkschutz abgefangen, ich solle mitkommen. Und schon wieder war dieser blonde Beamte von heute morgen da. Jetzt ging es mir echt schlecht, die waren tatsächlich zu meinem Arbeitsplatz gekommen. Ich sollte zunächst meinen Spind zeigen. „Ich habe keinen Spind”, erwiderte ich, was sie mir einfach nicht glaubten. Doch viel weniger konnten die ganzen sich im Aufenthaltsraum befindlichen Türken nicht glauben, dass ich mit vier großen Männern, also dem Werkschutz und der Bundespolizei, vor den Spinden stand und sagte: „Das hier, das ist mein Spind.“ Ich nannte einfach irgendeinen Spind, die Wahrheit war ihnen wohl nicht gut genug. Sie brachen das Schloss auf und sahen nur eine Vesperbox und eine Kaffeetasse. „Wir können nicht alle Spinde aufknacken, das geht nicht”, meinte der eine Mann vom Werkschutz. Und sie verschwanden wieder. Der Arbeitstag verlief schrecklich, ich wurde von allen Kollegen darauf angesprochen und war den ganzen Tag vertieft in Gedanken, was mich nun erwarten würde. Doch viel mehr hatte ich damit zu kämpfen die Entscheidung zu fällen, ob ich weitermachen sollte oder nicht. Und wie immer fiel es mir unglaublich schwer, eine Wahl zu treffen.

Als ich dann abends zu hause ankam, wartete mein Vater bereits auf mich. Er packte mich sofort am Arm und meinte, dass wir jetzt rausgehen. Er hatte wohl die Befürchtung, dass die Polizei uns in der Wohnung abhören könnte. Es war seltsam, anstelle, dass mich mein Vater anschrie oder fertigmachte, redete er das erste Mal auf Augenhöhe mit mir. Wir beredeten meine Taten bis in die tiefe Nacht, mit Kaffee von der Tankstelle ausgerüstet, während mein Vater eine Kippe nach der anderen rauchte. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass wir ein richtiges Gespräch von Mann zu Mann hatten, und er mich endlich auch als solchen wahrnahm, und nicht nur als den Sohn, der sowieso keine Ahnung hatte. „Papa, versprochen, ich mach das nie wieder.“ Ich hatte ein gutes Gefühl und mein Vater auch, denn er schien davon auszugehen, dass ich nicht log. Als ich ihm versprach aufzuhören und meine Lektion gelernt zu haben, war dies auch mein voller Ernst. Ich konnte Entscheidungen eben schwer fällen, diesmal hatte mein Vater mir dabei geholfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Vorerst.

Wir kamen daheim an, ich war todmüde, mein Vater auch. Wir legten uns beide schlafen. Doch dann fiel mir etwas ein. Ich schlich leise zur Tür hinaus ins Freie und ging zum Haus nebenan. Der Briefkasten war riesig, ich hätte mit meiner Faust reingreifen können. Ich schaute hinein und da war er, ein großer brauner Briefumschlag… meine Oma hatte Post bekommen, die nicht für sie bestimmt war. Ich nahm den Umschlag heraus, schlich mich wieder heim in mein Bett, versteckte den Brief darunter, zückte mein “neues” Smartphone und begann zu tippen:

„Wir müssen uns morgen treffen, hab gute Nachrichten“.

Diese WhatsApp-Nachricht ging an Adnan.