Mein Vater war bereits wach, als ich mich auf die Socken machen wollte: „Ich geh kurz zum Supermarkt, Brötchen für die Arbeit holen.“ Mein Vater nickte und übergab mir seinen Autoschlüssel. Ich düste zum Supermarkt, holte die Brötchen, damit mein Vater keinen Verdacht schöpfen konnte, und traf mich danach mit Adnan am Bahnhof.

„Wir haben einen neuen Bankdrop!“, begrüßte ich ihn. „Wie jetzt?“, Adnan schaute mich fragend an, konnte sich meine Begeisterung nicht erklären. Ich ging zum Auto und nahm den Briefumschlag an mich, packte den bereits geöffneten Brief von der Bank aus und zeigte ihm die rote Bankkarte: „Adnan, wir können weitermachen, die Bullen haben mit dem Bankdrop nichts zu tun gehabt, die haben nicht mal gecheckt, dass da ein Bankdrop im Briefkasten meiner Oma liegt!“ Adnan war etwas skeptisch, doch auch froh darüber, dass wir endlich wieder einen Bankdrop hatten. Diesmal war mein Bruder Cem nicht dabei, Adnan würde viel Geld verdienen können. Nachdem ich ihn wieder überredet hatte das Ding durchzuziehen, kam nun der etwas schwierigere Part:

„Adnan, Du musst den Bankdrop fillen, ich habe da keine Zeit für, ich muss ja Vollzeit schaffen in den Ferien.“ Auch wenn ich in Sorge war, dass er einen Fehler begehen würde indem er beispielsweise vergaß, seine IP-Adresse zu verschleiern, vertraute ich dennoch darauf, dass er die simplen Schritte einhalten konnte. Adnan hatte bereits ein präpariertes Notebook. Alles, was er zum Verkauf der Bahntickets brauchte, war dort bereits vorhanden.

Die Tage vergingen, ich arbeitete als Ferienjobber und Adnan verkaufte währenddessen Bahntickets. Nach meinem Feierabend gingen wir beide das Geld abheben und teilten uns das Geld. Daheim gab es hin und wieder Auseinandersetzungen mit meinem Vater, doch alles schien rund zu laufen. Und dann kam der Unfall.

„Emre, ich will glaub aufhören.“ Adnan zog fest an seiner Shisha, während ich mich – mal wieder – darauf vorbereitete, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Was, wieso?“

„Ich hatte gestern einen Autounfall, weißt Du.“

„Wirklich? Dir geht es hoffentlich gut?“, fragte ich besorgt. Er nickte und schaute die ganze Zeit auf den Boden, so als überlegte er, was er als Nächstes sagen sollte, wobei er meinen durchdringenden Blick vermied. „Also weißt Du, ich habe mir eine Playstation gekauft mit dem Geld. Und als ich dann vom Media Markt zurück nach Hause fahren wollte habe ich einen Unfall gebaut, aber so einen richtig dummen. Das hätte nicht passieren müssen, hätte ich besser aufgepasst. Es ist keinem was zugestoßen, aber ich denke, der Unfall ist passiert, weil ich die Playstation mit dem illegalen Geld, dem Haram Geld, gekauft hab. Ich glaube, Allah hat mich deswegen bestraft.“ Jetzt kam Adnan wieder mit der religiösen Tour, wir beide hatten viel Zeit in der Moschee verbracht. Dort lernt man, dass wenn im Leben etwas Schlimmes passiert, es immer eine Strafe Allahs darstellt, und wenn etwas Gutes passiert, dann nur, weil man fleißig betete. Adnan war sich in seinem Fall sicher, dass Allah ihn bestraft hatte für sein Vergehen, dass er sich ohne Reue eine Playstation mit illegalem Geld gekauft hatte. „Und dein Auto bezahlst Du dann wie? Deine Schule hat begonnen, Du bekommst sehr wenig Schülerbafög. Unfälle passieren Adnan, zerbrich Dir nicht den Kopf deswegen.“ Diesmal schien es schwieriger,  ihn zum Weitermachen zu bewegen. Ich wollte nicht, dass er aufhörte, da ich dann alleine gewesen wäre – und das machte einfach weniger Spaß. Ich hatte das Bedürfnis, das Ganze mit jemand anderes abzuziehen. Wenn Adnan ausstieg, verlor ich mit ihm einen Eingeweihten und Gefährten.

Doch genau zu der Zeit kam mein Bruder wieder aus der Türkei zurück.

Cem und ich unterhielten uns eine ganze Weile. Er erzählte von der Türkei, ich von der Hausdurchsuchung, und wir verstanden uns gut. Die Auszeit hatte eine positive Wirkung auf unsere geschwisterliche Beziehung gehabt, im Nu waren wir wieder Freunde geworden, das Vergangene geriet in Vergessenheit. „Cem, ich muss Dir was beichten. Ich habe einen neuen Bankdrop und mach gerade mit Adnan den ganzen Ticketverkauf.”

Ich wartete nur darauf, dass mein Bruder versuchte, mir die Sache mit Adnan auszureden. „Alter, kick den doch endlich raus, ich bin dein Bruder! Mach das Ganze mit mir, was teilst Du mit dem das Geld. Scheiß auf den.“

Ich stand nun abermals vor der Entscheidung: Adnan oder mein Bruder? Alleine wollte ich es auf keinen Fall durchziehen. Und was war schon dicker als Blut? Nach den Geschehnissen mit Adnan fiel mir die Wahl diesmal relativ leicht. Ich hatte es satt, Adnan jedes Mal aufs Neue überreden zu müssen. Es kam, wie es kommen musste, die Geschichte wiederholte sich: Ich traf mich mit Adnan und teilte ihm mit, dass die Bankkarte eingezogen wurde und ich aufhören wollte. Als ich Adnan dies mitteilte, erkannte ich an seinem Blick, dass er ganz genau wusste, dass ich bei ihm exakt das Gleiche wie mit Cem damals abzog. „Gut, ich wollte ja sowieso nicht mehr.“ Das war das letzte Mal, dass ich Adnan sah, ich brach auch den freundschaftlichen Kontakt ab.

Die Ära Adnan war beendet, nun kam wieder die gute alte Zeit mit meinem Bruder. Ich hatte mich für ihn entschieden. Hätte ich das nicht getan, wäre er womöglich nie in der Haft gelandet.

Ich lag nun also in meinem Bett in der Zelle und machte mir die ganze Zeit Gedanken um die beiden. Das Grinsen meines Bruder, als ich ihm mitteilte, dass ich mich für ihn und gegen Adnan entschieden hatte, erschien mir vor meinem geistigen Auge. Nun stand ich also zum dritten Mal vor der Entscheidung. Sollte ich Adnan verpfeifen, damit mein Bruder rauskommt? Sollte ich die gleiche Wahl treffen, mich wieder für meinen Bruder entscheiden? Aber hatte er nicht auch eine gewisse Schuld, dass er nun in Haft war? Als der Morgen anbrach und ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ich mich entschieden – diesmal für Adnan. Er hatte es nicht verdient, auch in den Knast zu wandern, seine Familie sollte nicht den gleichen Schmerz spüren wie meine Eltern. Ich hatte Adnan immer überredet mitzumachen, er hätte von sich aus nie solche Taten begangen. Ich war die Ursache für seine Taten gewesen…dann wollte ich wenigstens nicht die Ursache für seine Haft sein.

Als die Tage langsam verstrichen und ich auf eine Antwort wegen des Widerspruchs der Haftbeschwerde meines Bruders wartete, bekam ich Besuch. Diesmal war nur mein Vater da, und er war stinksauer, dass ich keinen Namen genannt hatte.

„Bravo, Du hast das toll gemacht, Emre. Der Widerspruch wurde abgelehnt.“

Mein Vater brachte mir das nicht im Mindesten schonend bei – das war sein erster Satz zur Begrüßung. Der Funke Hoffnung, den ich  zuvor noch gehabt hatte, löste sich in diesem Moment in Luft auf.  „Mit welcher Begründung?“, wollte ich wissen, während meine Ohren rot anliefen und mein Herz pochte. „Naja, laut deinem Anwalt haben die Ermittler sich gewundert, wie Du Bahntickets verkaufen konntest, während Du Vollzeit gearbeitet hast und waren sich dann sicher, dass es noch einen Dritten gegeben haben muss. Hast Du gedacht, Du bist schlauer als die Polizei? Dank Dir bleibt dein Bruder nun in der Haft.“ Ein Licht ging mir auf, daran hatte ich tatsächlich nicht gedacht, wie dumm konnte ich nur gewesen sein? „Deinen Freund, den Adnan, sie haben ihn verhaftet.“ Mein Vater wollte wohl, dass ich einen Herzinfarkt bekomme. Mir wurde sehr schlecht, nun waren wir alle drei dran. „Aber Papa, warum lassen die Cem nicht gehen? Er hat doch gar nichts gemacht.“ Der uns überwachende Justizbeamte hörte fleißig zu und schien zudem ein paar Notizen zu machen. „Cems Anwalt meinte, er hätte gute Chancen gehabt rauszukommen. Aber das ist nicht mehr möglich, weil nämlich Adnan entlassen wurde.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich wollte meinen Vater nur noch anschreien, dass er mir das Ganze gefälligst gescheit erklären und mich nicht durch alle möglichen Gefühlslagen durchjagen sollte. „Wie, Adnan wurde entlassen?“, fragte ich stattdessen.

„Adnan wurde entlassen, er war nur zwei oder drei Tage in Haft. Er hat gegen deinen Bruder ausgepackt!“