Randall, „die Petze“, nannte man den unbeliebten Charakter in Walt Disneys’ Zeichentrickserie „Die große Pause“. Wir in der Haft hatten eine andere Bezeichnung für Leute wie ihn: Wir nannten sie “31er”. Die meisten Häftlinge – mich eingeschlossen – wussten eigentlich nicht, weshalb wir Leute, die ihre Mittäter verpfiffen, um so gut wie straffrei rauszukommen, mit dieser Zahl bezeichneten. Es musste wohl ein Paragraph aus dem Gesetzbuch sein.

Ich war nicht sauer auf Adnan, obwohl er gegen meinen Bruder ausgesagt hatte. Es war sein gutes Recht, um seine Freiheit zu kämpfen, und das deutsche Recht war auf seiner Seite. Mein Bruder war nicht unschuldig, Adnan war nicht unschuldig, ich war es nicht – Aber, wenn man uns drei in Relation zueinander betrachtete, hatte es Adnan am wenigsten verdient, in den Knast zu wandern. Ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber. Vielmehr tat es mir leid, weil er nun Probleme mit seiner Familie bekam. Mein Vater gab ihm nämlich die Schuld daran, dass mein Bruder Cem nicht entlassen wurde.

Nach einem Jahr Haft kam dann die vermeintliche Erkenntnis:  mein Bruder war auch ein 31er!

Ich befand mich bereits in der Strafhaft, als mich ein Albaner zu sich rief: „Bring mal dein Urteil mit!“ Die Prozedur war mir bereits bekannt, ich hatte kein Problem damit, mein Urteil offenzulegen. „Wer ist dieser Cem Ates?“, wollte der Albaner wissen, während sich ein Kreis von Interessierten um ihn bildete und das Urteil weitergereicht wurde. „Mein jüngerer Bruder“, antwortete ich gelassen. „Dein Bruder ist ein scheiß 31er!“, rief jemand aus der Runde, verzog die Miene und sah mich an, als würde er gleich auf mich spucken wollen. „Was redest du da für einen Unsinn?“, entgegnete ich und riss ihm das Urteil aus der Hand. Gänsehaut überkam mich, als ich hinter dem Namen meines Bruders eine Lister voller Paragraphen las, und tatsächlich der verfluchte §31 dabei war. „Was zur Hölle?!“ Die Albaner tuschelten miteinander, hauptsächlich fielen dabei jede Menge Schimpfwörter – etwas albanisch konnte auch ich nach einer gewissen Zeit in der Haft, und wenn ich albanisch sage, meine ich eine ganze Palette an Flüchen und harten Ausdrücken. Tagelang schwirrte dieser Paragraph durch meinen Kopf. Auch wenn ich deswegen letztlich keine Probleme hinsichtlich meiner Mithäftlinge bekam, beschäftigte mich dieser Paragraph so sehr, dass ich den Gang in die Haftbibliothek nicht scheute und mich mit mehreren Gesetzesbüchern eindeckte. Kaum eine halbe Stunde später machte sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit. Ich hatte gefunden, was ich wollte. Was waren die anderen nur für dumme Fische.

Der §31 im StGB und der im BtMG waren zwei Paar Schuhe. Mein Bruder wurde (unter anderem) nach dem §31 im StGB (Strafgesetzbuch) verurteilt und nicht nach dem bei meinen Mithäftlingen so unbeliebten Paragraphen, dem §31 nach BtMG (Betäubungsmittelgesetz). Doch dies war mir zu der Zeit als Adnan ausgepackt hatte nicht bewusst, ich war genauso ein Fisch wie die Anderen.

Mit der Zeit begann ich bereits während der Untersuchungshaft, die anderen Häftlinge auf diese Weise zu kategorisieren, sobald ich sie kennenlernte: entweder als Fisch oder als Hai. Fische konnte man wiederum einteilen in jene, die viel dummes Zeug von sich gaben, ohne viel dahinter zu haben, und die, die einfach gar nichts sagten. Haie waren im Gegensatz dazu entweder in einer übergeordneten Machtstellung oder sehr gefährlich. Doch alle hatten sie was gemeinsam: bissen sie zu, verloren sie ihre Zähne, denn dann steckte man sie erstmal in den Bunker – und dort dauerte es eine ganze Weile, bis sie wieder wuchsen – die Zähne, und mit ihnen die Bissigkeit.

Cem und ich waren also noch in der Untersuchungshaft, die Haftbeschwerde war wirkungslos und knapp 4 ½ Monate waren nun seit unserer Verhaftung um. Die maximale Dauer für eine Untersuchungshaft betrug 6 Monate, dann musste es zu einem Gerichtstermin kommen – das war eine ebenso geläufige und dumm daher gesagte Annahme unter den Häftlingen wie die Bezeichnung für den „31er“. Ich hatte das gute Gefühl, dass mein Bruder zum Gerichtstermin entlassen werden würde. Zudem hatte er sich sicherlich ebenso wie ich an die Umstände gewöhnt. Ich blickte durch den Gang, als das erfreuliche Signal erklang und die Zellentüren sich zur Freizeit öffneten. Alle wuselten durch die Gänge – oder besser gesagt, sie schwammen ohne Sinn und Verstand in diesem Aquarium aus Gittern umher.

Jeder Fisch und jeder Hai gehörte meiner Meinung nach einer Gruppe an. Was interessant war: die Gruppendynamik entschied letztendlich, ob du Hai oder Fisch wurdest – denn es konnte immer nur einen Hai pro Gruppe geben. Schnell erkannte man, wer zu welcher Sorte gehörte, wer der Hai und der Fisch bei den Russen, den Rumänen, den Türken, den Albanern und den Deutschen war. Dies waren die fünf Hauptgruppen, die es gab, und die jeweils ihre eigenen Strukturen und Rollen innerhalb der Gruppe definierten.

Der Hai unter den Rumänen war auf jeden Fall Cristian. Er war der Einzige unter den Rumänen, der sehr gutes Deutsch sprach. Seine Fische wollten immer, dass er als Übersetzer für sie fungierte. Irgendwann kam es dazu, dass er zu uns Türken stieß und mit uns gemeinsam kochte. Seine rumänischen Mithäftlinge waren oft hungrig und baten um Essen. Es war für ihn kein Problem, seinen Landsleuten mal die ein oder andere Tafel Schokolade oder gar einen Tabakbeutel zu geben – doch bekam er nie etwas zurück. Das lag daran, dass die meisten Rumänen kein Geld von draußen bekamen und auch sonst kein Geld besaßen, um etwas einkaufen zu können. Cristian jedoch saß wegen etwas Größerem, er hatte anscheinend ein Bordell auf Flatrate-Basis eröffnet – „Ich habe die Steuern nicht richtig abgeführt“, teilte er mir mit, als ich fragte, weshalb die ihn in die U-Haft gesteckt hatten. Rumänische Frauen waren bekannt dafür, in deutschen Bordells einer Tätigkeit als Prostituierte nachzugehen, weshalb ich während meiner Haft einigen rumänischen Zuhältern begegnete.

„Weswegen sitzt Du eigentlich?“, wollte ich einmal von einem Rumänen wissen, als ich ihm bei der Essensausgabe etwas Brot und die widerliche Wurst in die Hand drückte. „Warum ich sitzen du fragen?“, fragte er in gebrochenem Deutsch, welches noch immer um etliches besser war als das vieler anderer Rumänen. „Ja genau.“ Der Justizbeamte lauschte unserem Smalltalk, während mein anderer Reiniger-Kollege die anderen Zelleninsassen bediente.

„Ich sitzen wegen Prostitution.“ Ich blickte ihn an und konnte mich nicht halten. Mein Speichel traf sein Gesicht, als ich anfing wie wild loszulachen, so lange, bis mir Tränen aus den Augen flossen. „Du sitzt wegen… du sitzt wegen Prostitution?!“ Das war, so glaube ich, einer der lustigsten Momente während meiner Haftzeit. Der Beamte, mein Reiniger-Kollege und die restlichen Zelleninsassen sahen mich verwirrt an, während ich mich fast auf den Boden schmiss. „Haha, bitte, Herr Winter! Sagen Sie mir, dass Sie es gecheckt haben?“ Er sah mich nur fragend an. „Er sitzt doch nicht wegen Prostitution, sondern wenn, dann wegen Zuhälterei!“ Ich schaute wieder zu dem Rumänen und fragte ganz blöd: „Oder bist Du echt eine Nutte?“ Und fing wieder an zu lachen. Auch, wenn ich wohl der Einzige war, der das ganz besonders lustig fand – so war ich ebenfalls derjenige, der verglichen mit ihnen recht wenig zu lachen hatte. Die Rumänen waren nämlich wie Eintagsfliegen, von einem Tag zum anderen waren sie plötzlich weg – in der Freiheit, abgeschoben nach Rumänien.

Es gab nur wenige deutsche Insassen, und entweder waren sie recht sympathisch oder praktisch unsichtbar. Haie konnte ich unter ihnen nicht ausfindig machen, sie gehörten stets zu den ruhigen Fischen. Die meisten von ihnen saßen wegen Drogendelikten, meistens handelte es sich um sehr starkes Zeug, was sie zu sich genommen hatten. Einer von ihnen war mir besonders im Gedächtnis geblieben. Er sah aus, als sondere sein Körper Gift, und keinen menschlichen Schweiß aus. Niemand wollte ihn berühren oder ihm gar zu nahekommen. Einen anderen sprach ich an und wollte wissen, wann er denn in unser Stockwerk verlegt wurde: „Ich? Ich bin schon fast 3 Monate hier“, meinte er. Das schockierte mich, hatte ich seine Anwesenheit in den ganzen Monaten doch kein einziges Mal registriert.

Keiner begegnete den Deutschen mit Misstrauen, andererseits wollte auch keiner etwas von ihnen. So geschah es, dass ein junger deutscher Vater sich mit allen gut verstand und einen sympathischen Eindruck erweckte, bis er dann seinen Gerichtstermin hatte und uns ein Beamter die Tageszeitung in die Hand drückte. Wir waren voller Wut, als wir die Schlagzeile der regionalen Tageszeitung lasen: der augenscheinlich nette Vater hatte sein Neugeborenes geschlagen, weil es nicht aufgehört hatte zu weinen. „Der Staatsanwalt hat 7 Jahre gefordert, der Richter gab ihm aber 8 Jahre“, meinte der Beamte. Wir wünschten uns, dass er wiederkam, sodass wir ihm eine Lektion erteilen konnten. „Er wird direkt in die Schutzhaft verlegt, Jungs“, meinte er erneut, als wir sauer aufeinander waren, dass keiner auf die Idee gekommen war, den Haftbefehl des jungen Vaters anzuschauen. Trotz dieser Tatsache blieben die Deutschen auch in Zukunft eher unsichtbar. Der Fall des jungen Vaters blieb auch in Zukunft die Ausnahme.

Bei den Russen hingegen war eher das Gegenteil der Fall. Es schien so, als wollten alle der Hai in der Gruppe sein, keiner machte den Eindruck, als sei er einer der Fische. Doch bei genauerer Betrachtung erkannte man, wer das Sagen hatte. In diesem Fall war es ein älterer Russe, der sicherlich schon länger auf der Welt war als mein Vater. Auch, wenn er eher ruhig war, umgaben ihn alle Russen und fragten ihn um Erlaubnis und Rat. Die Russen im Allgemeinen machten für mich bereits einen sehr gefährlichen Eindruck, nur ein falsches Wort und schon spürte man die Faust im Gesicht. Alleine ihre Art zu sprechen war schon angsteinflößend. Keiner, auch nicht unsere Türken, wollten sich mit den Russen anlegen. Wenn ein Russe mit Worten drohte, einen zu schlagen, beließ er es meist nicht dabei. Auch durch ihre große Anzahl hatten sie eine gewisse Machtposition in der Haft. Glücklicherweise gab es eine inoffizielle Abmachung zwischen Türken und Russen. Beispielsweise wurden die zwei Küchen und zwei Duschen im Stockwerk strikt nach Nationalitäten getrennt. Nur war es so, dass die Russen komplett eine Dusche und eine Küche für sich beanspruchten, und die anderen auf dem Stockwerk sich befindlichen Räumlichkeiten für den Rest blieb. Sie hatten quasi die Hälfte des Stockwerks für sich beansprucht. Einmal wollte mich ein Russe tatsächlich schlagen, weil ich unbedacht in der „Russen-Dusche“ geduscht hatte – glücklicherweise konnten das unsere Türken verhindern, indem sie mit Bedacht mit den Russen redeten. Und das war es auch tatsächlich, was unsere Türken gut konnten. Ich sah Savas als unseren Hai an, er war der älteste unter uns und er war auch schon länger in Haft. Zudem machte er einen selbstbewussten Eindruck, war aber dennoch sympathisch und gut darin, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Er war der Diplomat unter uns. Während ein Großteil der Russen auf einen physisch ausgetragenen Konflikt hinarbeitete, erinnere ich mich nicht daran, dass einer unserer Türken je in eine Schlägerei geriet. Unsere Machtstellung beruhte darauf, dass wir viele waren, auch wenn es mal Zeiten gab, in der es nur eine Handvoll Türken gab – es kamen immer wieder Neue rein.

Dann wurde Yilmaz, das meiner Meinung nach größte Arschloch, welches die JVA je erblickt hat, in unser Aquarium aus Gittern geworfen. „Ich habe nichts gemacht – meine Frau und ich haben uns im Hotel gestritten. Ich habe sie dann, weil ich alkoholisiert war, geschubst und sie ist auf eine Tischkante gefallen. Die anderen Hotelgäste haben die Polizei gerufen, und jetzt sitz ich hier.“ Seine Erzählungen ließen uns stark an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln, uns war nicht klar, weshalb die ihn wegen sowas in die U-Haft stecken sollten. Verwunderlich war es zudem, dass seine Frau ihn nach der Sache auch noch besuchte. Doch er war der älteste unter uns Türken – durch unseren kulturellen Hintergrund bedingt respektierten wir Yilmaz.

Ich hasste ihn so sehr, dass ich nie mehr in meinem Leben so glücklich über die Tatsache war, dass jemand hart bestraft wurde. „3 Jahre und 6 Monate?“, ich setzte eine traurige Miene auf, während sich in meinem Kopf Partystimmung breitmachte. Yilmaz war eine Heulsuse, überall nervte er mit seinem heuchlerischen Geflenne  – anders konnte man es nicht nennen. „Zeig uns mal dein verdammtes Urteil.“ Wir Türken hatten uns versammelt, Savas übernahm die Moderation für die Show: „Wir analysieren jetzt dein Urteil und suchen etwas, um Dir die restliche Zeit hier zur Hölle zu machen“.

Nachdem er sich des Urteils bemächtigt hatte, ging es auch schon los: „Du Arschloch, da steht, dass du deine Frau auf das Übelste verprügelt und einen Stuhl auf ihr Gesicht geworfen, eine Flasche auf ihrem Kopf zerschlagen und mit deinen Füßen auf ihr Gesicht eingetreten hast. Willst Du uns verarschen?“  Der Aufstand war riesig. Ich war total angeekelt, weil ich mit Yilmaz zwei Monate lang Reiniger gewesen war und gedacht hatte, dass er einem Missverständnis zum Opfer gefallen war. Die zwei Wochen bis er zur Strafhaft in eine andere JVA verlegt wurde waren für ihn definitiv die Hölle, alle hassten ihn und ließen ihn das auch spüren. Einer von unseren älteren Türken, der auch nur für eine kurze Zeit in der U-Haft war, rief Yilmaz einmal zu sich und sagte: „Hey Yilmaz, deine Frau ist doch die, die immer samstags in mein Casino kommt?“ Yilmaz nickte und während wir alle in der Zelle saßen, sich der türkische Casino-Besitzer sicher war, dass auch alle zuhörten, erzählte er: „Ich habe die mehrmals gefickt, hat sie Dir das nicht gesagt? Jeder weiß, dass sie mit anderen Männern rumvögelt.“ Und dann lachte er und wir alle waren geschockt, weil der Yilmaz keine Anstalten machte, diese Behauptung zu widerlegen, vielmehr bestätigte er sie: „Ja, sie ist eigentlich nicht meine Frau. Nur eine, die ich auch vögle.“ In diesem Moment degradierte sich Yilmaz definitiv zum minderwertigsten Menschen, der mir je untergekommen war. Nicht nur, dass er diese Frau auf schlimmste Art verprügelt hatte, nein – er verteidigte nicht einmal die Person, die er all die Monate „meine Liebe, meine Frau, mein Schatz, mein Herz, meine Seele“ genannt hatte, als sie als Nutte beschimpft wurde.

Neben Yilmaz gab es noch ein paar andere Türken, die nur am Rumheulen waren. So der Beray, der wegen Steuerhinterziehung saß: „Ich habe nur das Geld hin und her getragen, sonst nichts. Außerdem habe ich eine Freundin Emre, da ist es einfach schlimmer, in der Haft bleiben zu müssen.“ Erstaunlich viele waren der Ansicht, dass sie es wohl weniger verdient hätten, eine Haftstrafe zu bekommen, nur, weil sie eine Frau oder gar nur eine Freundin hatten. Beray war nur am Meckern und unglücklicherweise befand er sich genau in der Zelle neben meiner. Ständig klopfte er gegen meine Zellentür, so dass ich ans Fenster ging und er dann anfangen konnte von seiner misslichen Lage zu erzählen und seinen Frust abzulassen. Sein Haftbefehl sah überhaupt nicht gut aus, mehrere Millionenbeträge wurden darin erwähnt, er konnte ohne weiteres auf jeden Fall eine saftige Haftstrafe erwarten. Als er dann bereits nach 3 Monaten zu seinem Gerichtstermin ging, kam er nicht wieder – Gerüchten zufolge hatte er gegen alle seine Mittäter ausgesagt und wurde wegen Hilfe zur Tataufklärung freigelassen.

Vor allem nach dieser Story war ich mir sicher, dass jeder, der die Möglichkeit hatte seinen Arsch zu retten, wenn er andere verpfiff, diese auch nutzte. Keiner wollte wahrhaben, dass er es verdient hatte, in die Haft gesteckt zu werden. So auch meine kürzeste Bekanntschaft in der Haft: Ich lief gerade im Hofgang meine Runden, als ein etwas molligerer Türke im Nachhinein in den Hof gelassen wurde. Ich ging direkt zu ihm und fragte, ob er Türke sei. Als er es bejahte, nahm ich ihn mit und lief eine Runde mit ihm. Natürlich wollte ich direkt wissen, weshalb er saß: „Ich bin wirklich unschuldig. Ich muss hier raus, ich bin seit Montag drin, heute ist Mittwoch, ich hab eigentlich gerade Urlaub, aber Freitag muss ich wieder zur Arbeit.“ Immer wieder dieselbe Tour, ich fühlte mich langsam wie ein alter Hase und beließ es nur bei dem Gedanken: „Einen Scheiß‘ kommst du bis Freitag hier raus.“ Und gerade als ich wissen wollte, was er genau gemacht hatte und wir eine Runde gelaufen waren, rief ihn ein Beamter. Ich wartete auf ihn, während er mit dem Beamten sprach. Nach kurzer Zeit kam er auf mich zugerannt, schüttelte mir die Hand und sagte: „Hey, hat mich gefreut dich kennengelernt zu haben, ich werde entlassen!“ Und weg war er – ich kannte nicht einmal seinen Namen. Das war die kürzeste Haftdauer, die ich je mitbekommen hatte.

So langsam reichte es mir, auch ich wollte wissen, was Sache war. Spätestens in einem Monat musste doch auch mein Gerichtstermin stehen. Aber es war noch keine Anklageschrift da.

Mittlerweile hatte ich auch meine Therapie-Vorbereitungssitzungen hinter mir und befand mich gerade im Büro der Sozialarbeiterin: „Also Herr Ates, bevor wir überhaupt einen Antrag auf Therapie stellen können, müssen wir wissen, was für eine Strafe Sie ungefähr erwartet. Was sagt denn ihr Anwalt?“ Ich antwortete ihr mit einer für sie wohl sehr überraschenden Aussage: „Von meinem Anwalt habe ich seit meinem Geständnis eigentlich nichts mehr gehört, also vergingen schon knapp 3 Monate, seit ich mit ihm Kontakt hatte. Aber spätestens in einem Monat muss ja mein Gerichtstermin sein, dann weiß ich, was ich bekomme.“ Sie griff sofort zum Telefon und wollte die Nummer von meinem Anwalt wissen: „Herr Ates, Sie sollten sich echt überlegen, ob Sie einen guten Anwalt haben. Denn es ist nicht normal, dass Sie noch keine Anklageschrift haben und er ihnen auch nichts mitteilt.“ Im Endeffekt hörte ich heraus, dass mein Anwalt ein Fisch war – weder entgegenkommend, noch sonst in irgendeiner Richtung fähig. Sie telefonierte mit meinem Anwalt und erklärte ihm die Sachlage, ich durfte irgendwie nicht an den Hörer. Schließlich legte sie auf und meinte: „Herr Ates, ihr Anwalt geht davon aus, dass Sie um die 4 Jahre bekommen. Natürlich kann er das nicht genau sagen, aber Sie sollten nicht davon ausgehen, dass die Strafe gering ausfallen wird.“ Ich glühte vor Wut, wie konnte mein Anwalt nun so etwas behaupten, mir jedoch niemals in der Hinsicht etwas kommunizieren? Auf welchen Annahmen überhaupt basierte seine Behauptung?

Wir entschieden uns dazu, vorerst nichts in Richtung einer Therapie vorzunehmen, die Sitzung wurde lediglich in den Akten vermerkt und beiseitegelegt. Diese Akte wurde mir später leider zum Verhängnis.

Sofort suchte ich Rat bei meinen Türken und erzählte ihnen von den Aussagen meines Anwalts. Ich war so aufgewühlt, als wenn das Urteil schon gefallen wäre. „Du brauchst einen guten Anwalt! Hol dir den Herr Mayer!“, empfahl mir einer der Türken, dem ich eigentlich in dieser Hinsicht vertraute. Ich hoffte, dass Herr Mayer kein Fisch, sondern der Hai war, den ich brauchte. In diesem Moment war es mir egal, was mein Vater vom Anwaltswechsel halten würde, ich musste schnell schauen, dass ich einen Anwalt zu Rate zog, der nicht von Vorneherein davon ausging, dass es mich hart erwischen würde. Es war nur noch einen Monat hin zu der theoretischen Maximal-Grenze von 6 Monaten U-Haft, am nächsten Tag würde ich einen Termin mit dem Rechtsanwalt Herr Mayer haben und ich hoffte, dass er mich aus der Scheiße rausholen konnte. Ich malte mir eine Zukunft in Freiheit aus, zusammen mit meiner Familie.

Doch die Zukunft meinte es nicht gut mit mir, anstelle meiner Familie gab es erstmal diesen mysteriösen Typen mit der roten Beschriftung auf der Zelle, „Besondere Sicherheitsmaßnahmen“. Er wurde neulich erst verlegt, weil er viel Mist gebaut hatte, und er würde in der nächsten Zeit auch viel Mist bauen – nur diesmal mit mir.