In meiner Zelle dachte ich über den Grund nach, weshalb Kartal mir heute Mittag die Tabakdose gezeigt hatte: „Das Handy befindet sich geschickt verpackt darin,“ meinte er bloß, als er die Dose wieder in seinen Schrank packte.

Irgendwie war mir bewusst, dass es etwas mit meiner Vertrauensposition als Reiniger zu tun haben musste, dass Kartal mir sein Geheimnis mitteilte. Vielleicht war er auch beeindruckt, dass mich der Justizbeamte bei ihm einschloss, obwohl er „Besondere Sicherheitsmaßnahmen“ hatte. Zudem saß Kartal bereits eine Weile in Haft, vielleicht hatte er eine gute Menschenkenntnis. Er dachte vielleicht gar nicht daran, dass er mir vertrauen, sondern viel mehr mich ausnutzen könnte. Dachte er, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ein Beamter auf den wahren Tabakdoseninhalt stößt und er einen Gehilfen brauchte, jemanden, der Zugang zu anderen Räumlichkeiten hatte? Der Gedanke, meine Eltern sofort telefonisch erreichen zu können, war aufregend und erleichternd zu gleich. Das Schlimmste an der Haft war, dass Informationen über soziale Kontakte sehr spät ankamen. Der grausame Gedanke, meiner Mutter würde es nicht gut gehen, ihr könnte etwas zugestoßen sein, machte mich stets psychisch fertig. Durch einen einzigen kurzen Anruf könnte ich sichergehen, dass mit meiner Familie alles in Ordnung ist. „Eine Hand wäscht die andere“ – ich brauchte mir nichts vorgaukeln, Kartal würde mich sicherlich bald fragen, ob ich das Handy für ihn verstecken könnte. Als Gegenleistung würde ich dann das Recht auf tägliche Telefonate mit meinen Eltern verlangen. Ich spielte mit diesen Gedanken und es kaum mir traumhaft vor, das konnte nicht der Realität entsprechen. Ein Angsthase war ich – niemals hätte ich mich getraut, das Handy zu benutzen, niemals hätte ich mich getraut, das Handy zu verstecken. Außerdem würde ich doch sowieso bald rauskommen.

Der Tag verging wie immer, abends kochten wir in der Freizeit unter den Türken und ich berichtete Savas & Co. von Kartal. Vom Handy erzählte ich nichts, das war mir viel zu heikel. Wenn man in der Haft Stress vermeiden wollte, dann musste man einfach lernen, so wenig wie möglich zu erzählen und vor allem nichts weiterzuerzählen. Durch Langeweile passierte es oft, dass eine im Vertrauen getätigte Aussage rasend ihre Runde bei den Häftlingen machte. Als ich gerade mein Geschirr spülte, hörte ich wieder den Ton, der jedes Mal durch die Flure erklang, bevor es eine Durchsage des Beamten gab. Ein paar Namen wurden aufgezählt – „… Ates, …“ – unter anderem auch meiner. Im Eiltempo begab ich mich zum Beamtenbüro mit der Hoffnung, einen Brief von meiner Familie bekommen zu haben: „Herr Ates, morgen früh haben Sie einen Termin beim Amtsgericht.“ Die gelassene Aussage des Beamten traf mich wie ein Schlag. „Wie jetzt, habe ich morgen einen Gerichtstermin? Mein Anwalt hatte mir da nichts gesagt?“ Eigentlich hatte ich mehr Fragen, die ich stellen wollte, doch ich war nicht in der Lage, irgendwelche Infos aufzunehmen. „Das weiß ich nicht, hier steht nur, dass wir Sie um 10 Uhr dorthin transportieren sollen. Sie werden um 8 Uhr abgeholt.“

Völlig verwirrt, was das für ein Termin morgen sein sollte, ging ich zu Tayfun und hoffte, dass er mir Klarheit verschaffen könnte. „Ich weiß nicht, was das ist, aber niemals ist es ein Gerichtstermin, du hast doch noch nicht mal deine Anklageschrift? Ich sag mal so, Bruder, entweder ist morgen dein Glückstag und Du kommst raus, oder viel wahrscheinlicher, die werden dich sowas von an den Eiern packen und nicht mehr loslassen.“ Tayfun war einer der Häftlinge, die am längsten in der U-Haft waren, deshalb hoffte ich immer auf qualitativ hochwertige Ratschläge mit Erfahrungswerten, aber selbstverständlich konnte er es mir auch nicht genau sagen. Den Abend verbrachte ich damit, die anderen Häftlinge zu fragen, doch als ich dann zu Bett ging, war ich genauso klug wie vorher. Also gar nicht.

Ich klammerte mich an dem Wunschdenken fest, morgen endlich entlassen zu werden, denn mit diesem Gedanken fiel es mir leichter einzuschlafen.  Wenn ich nachts am Nachdenken war, waren meine Träume auch dementsprechend intensiv. Ich träumte, wie ich morgens aufwachte, mich in der Zelle befand, meine Tür aufging und wie ich erstarrt vor der Zellentür stand. Ich konnte die Türschwelle nicht überschreiten, obwohl die Türe offen war, als wäre da noch eine unsichtbare Barriere. Mit Herzrasen wachte ich auf, beruhigte mich und fing wieder an verschiedenste Gehirngespinste und Szenarien durchzugehen, bis dann tatsächlich meine Zellentür aufging. Die anderen zwei Reiniger erledigten den heutigen Job alleine, ich durfte direkt unter die Dusche und mich danach gehbereit machen. Ich spürte, wie greifbar nahe die Freiheit war.

Ich war extrem nervös, als ich ungeduldig auf den Justizbeamten wartete, der mich zum Transporter bringen sollte. Dann stand er endlich vor meiner Tür, der junge spanische Vollzugsbeamte. Irgendwie brachte seine Gelassenheit eine gewisse Ruhe mit sich, außerdem war er stets gut drauf und humorvoll. Es war seltsamerweise ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass er mich dem Amtsgericht vorführen würde.

Bei allen Häftlingen genoss er ein gewisses Vertrauen und gewann viel Sympathie, daran änderte auch die folgende Geschichte nichts: Vor einigen Wochen am Wochenende begaben sich viele von uns in den Freizeitraum, als Umschluss-Zeit war. Einigen bevorzugten es, sich bei anderen Zellenkollegen einzuschließen und Zeit mit diesen zu verbringen, es waren sowieso nur 2 Stunden. Tayfuns kurdischer Zellenkollege kam nicht mit uns in den Freizeitraum um zu Pokern, stattdessen begab er sich zu einem Deutschen in die Zelle. „Er lässt sich tätowieren, der Deutsche hat so ein Tätowier-Gerät gebaut“, erklärte mir Savas, als ich wissen wollte, wie es sein kann, dass Tayfuns Zellenkollege sich bei einem Deutschen einschließen ließ. Der spanische Beamte hatte an diesem Tag Dienst und schloss die Zellentüren zu, nachdem sich alle in die jeweiligen Räumlichkeiten begeben hatten. Als der Umschluss dann vorüber war und ich wie üblich meine Schokoladen-Einsätze beim Pokern verloren hatte, war eine Unruhe im Flur zu hören. Ich sah und hörte, wie Tayfun mit seinem Zellenkollegen redete. „Der hat uns beim Tätowieren erwischt“, erzählte der Kurde, „ich habe dem Beamten gesagt, dass ich mich tätowieren lasse und er die Zellentür während der Umschluss-Zeit auch geschlossen halten soll. Er hat auch gemeint, dass das klargeht. Ich dachte, er wäre korrekt und würde das zulassen, aber dann ging einfach die Zellentür auf und er stand mit dem Bereichsdienstleiter da.“ Wir anderen Häftlinge lachten auch Tage danach noch über die Dummheit, die der Häftling an den Tag gelegt hatte und verstanden natürlich, dass der Beamte nur seinen Job gemacht hatte.

In der morgendlichen Frische begab ich mich an der Seite des spanischen Beamten im Innenhof Richtung Transporter. „Echt jetzt? Handschellen?“, ich war verwundert, dass der Beamte, nachdem er mich auf die Rückbank im Transport verwiesen hatte, seine Handschellen zückte und mir diese anlegte. „Tut mir leid, ist leider so vorgeschrieben. Kann ja sein, dass Du während der Fahr irgendwas versuchst, um aus dem Auto zu entkommen.“ Glücklicherweise legte er die Handschellen nicht so fest an, wie damals die BKA-Beamten. Es war seltsam, wieder dieses harte Eisen an den Handgelenken zu spüren. Die Fahrt dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit, denn obwohl es ein berauschendes Gefühl war, andere Autos, Bäume, Straßen, Gebäuden und Landschaften zu sehen, war der Input viel zu groß, mir wurde übel. Zudem schien die Strecke irgendeine seltsame Landstraße mit vielen Kurven zu sein, mein Kopf drehte sich, was wohl auch an der Aufregung und meinem Gedankenkarussell lag. Geschlafen hatte ich auch schlecht und wenig, weshalb ich bei der Ankunft aussah, als hätte ich gerade eine Achterbahnfahrt hinter mir. Die Transporter-Tür ging auf und während der Fahrer noch irgendwelche Unterlagen auf dem Fahrersitz ausfüllte, zückte der spanische Beamte eine Kette, kettete diese an meine Handschellen und dann an eine Handschelle an seinem Handgelenk. „Krass, das ist echt erniedrigend, wenn Du mich wie ein Hund an der Kette zum Gericht führst“, sagte ich, als ich aus dem Transporter stieg. „Lauf direkt neben mir, ich halt dich an den Armen fest, dann sieht die Kette auch keiner.“ Ich war erfreut, dass der Spanier mir so entgegenkam und verständnisvoll war. Bevor ich durch den Haupteingang ins Amtsgericht-Gebäude hineingeführt wurde, konnte ich noch einen Blick in die Stadt erhaschen und realisierte, dass ich nur einige Meter entfernt vom Amtsgericht verhaftet wurde, ich konnte die Gasse von hier aus sehen, in der wir mit meinem Bruder anfangs geflüchtet waren. Die ganzen Bilder von der Verhaftung schossen noch einmal hoch. Mein Herz pochte wie verrückt und mein Körper wartete bloß darauf, die Endorphine auszuschütten, es war endlich an der Zeit, entlassen zu werden. Meinen jüngeren Bruder Cem konnte ich nirgends sehen, stattdessen stand da ein alter Mann und ein noch älterer neben ihm.

Mein Vater und mein neuer Anwalt, Herr Mayer.

Vor einigen Tagen hatte ich einen Brief vom Amtsgericht bekommen, in dem mir der Pflichtverteidigerwechsel vom alten Anwalt Herrn Sponer auf den neuen Anwalt Herrn Mayer zugestimmt wurde. Ich wusste nicht, wie eine Gerichtsverhandlung aussah, und ich wusste nicht, was mich gleich erwartete. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, Herr Mayer hätte das Ganze initiiert. Es würde sich zeigen, ob der Wechsel irgendetwas bewirkt hatte, vielleicht hatte es Herr Mayer tatsächlich in den paar Tagen geschafft, mich aus dem Gefängnis rauszuholen. Doch bevor ich meinen Vater überhaupt begrüßen konnte, kam sofort mein Anwalt auf mich zu, um alle meine Hoffnungen zu zerschmettern und mich auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen.

„Herr Ates, heute kommen Sie nicht raus, damit Sie Bescheid wissen.“

Das kam sehr unerwartet, ich hatte nach meinen verzweifelten Träumen in der vorhergehenden Nacht nicht damit gerechnet. Plötzlich war ich wütend auf die Person, die mir diese Nachricht überbracht hatte. Dennoch begrüßte ich kurz meinen Vater, der mir mitteilte, dass mein Bruder Cem vorhin auch da war. Erst spät realisierte ich, dass Cem wohl nicht entlassen wurde, weshalb sonst stünde er nicht neben meinem Vater? Bevor ich überhaupt meinen Vater danach fragen konnte, wurde ich in einen Raum geführt, auch ohne mit Herrn Mayer genauer reden zu können, um was es sich hier handelte. Es ging alles so schnell, plötzlich saß da neben mir mein Anwalt, mir wurden die Handschellen abgenommen, rechts neben mir eine Frau, die irgendetwas tippte, und neben ihr die Richterin im Rollstuhl, welche meinen Bruder und mich damals in die U-Haft gesteckt hatte. Mein Kopf brummte, es ging alles so schnell, aber ein einziges Wort verlangsamte mein Gefühl für die Zeit.

„Herr Ates, wir haben uns heute hier versammelt, um Sie über den Beschluss bezüglich ihres neuen Haftbefehls zu belehren.“

Mir wurde plötzlich etwas klar: Ich hatte seit einigen Wochen nicht mehr von der Freiheit geträumt, ich träumte eigentlich nur noch vom Gefängnis.