Der Ausflug zum Amtsgericht endete also weniger erfreulich als gedacht, die Verhandlung ließ noch auf sich warten. Mehr als fünf Monate hatte ich bereits hinter mir, doch noch immer hoffte ich, dass es sich nur noch um Wochen handeln würde.

Der Knastalltag hatte mich trotz allem wieder im Griff, ich war auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Morgens den Müll einsammeln und wegbringen, die Gänge und Räume fegen und wischen, Essensausgabe am Mittag und am Abend und bei Neuankömmlingen „Starter-Packs“ vorbereiten – das waren meine täglichen Aufgaben.

„Emre, ich muss zugeben, du bist ein stabiler Junge. Kein einziges Mal habe ich dich meckern hören, du hast dich besser integriert, als ich es erwartet hätte. Meinst du nicht auch, Savas?“ Tayfun sah meinem Gesicht wohl an, dass ich deprimiert war. Wir aßen gerade zu Abend, und hatten wieder mal Nudeln mit Thunfischsoße gekocht. Mit ein wenig Erschrecken stelle ich fest, dass sich bei mir ein kleines Bäuchlein bildete – die Kost in der Haft war nicht die gesündeste.. „Haha, der Junge ist schon stabil. Voll der Betrüger ey, ich habe seinen neuen Haftbefehl gelesen, du hast es der Deutschen Bahn voll gegeben“, schmatzte Savas. „Ich bin nicht stolz darauf, im Nachhinein hat es sich ja nun leider nicht bezahlt gemacht.“ Ich begriff erst allmählich, dass es kein Kinderspiel gewesen war, was ich da durchgezogen hatte. Der Ernst der Lage wurde mir bewusster…jeder Tag, den ich hier verschwendete, rief mir diesen Fakt ins Gedächtnis. Savas klopfte auf meine Schulter: „Hey Emre, ich würde mich auch schlecht fühlen, so als Betrüger. Aber auf Deutsch klingt das nicht mal so schlimm. Betrüger – Was ist das schon? Aber auf Türkisch, ja, da heißt es einfach „dolandırıcı“, haha, das ist ein ziemlich krasses Wort. Dein Vater denkt jetzt die ganze Zeit daran, dass sein Sohn ein „dolandırıcı“ ist.“ Offensichtlich wollte er mich damit provozieren. Doch diesmal musste ich kontern, auch wenn ich seine Reaktion nicht einschätzen konnte: „Also Savas, auf Deutsch hört sich Zuhälter auch nicht so schlimm an. Aber auf Türkisch? Da heißt es einfach „pezevenk“, was ja, wie du wahrscheinlich weißt, eines der übelsten Schimpfwörter im türkischen Sprachgebrauch darstellt.“ Alle lachten, auch Savas. Nachdem ich wieder mal den Abwasch gemacht hatte, kam Savas auf mich zu und machte eine „Komm-Mit“-Handbewegung. Ehe ich mich versah, befanden wir uns in meiner Zelle, wobei die Tür von Tayfun bewacht wurde. Bevor ich fragen konnte, was los war – ich stelle mich schon auf eine Entschuldigung wegen des Witzes vorhin ein –  fragte er: „Du warst in der Zelle bei Kartal. Herr Nils hat dich da einfach so reingelassen?“ Ich bejahte überflüssigerweise, schließlich hatte ich ihm ja bereits erzählt, dass ich ein Käffchen mit Kartal getrunken hatte.  „Ich habe mit ihm in der Freizeit durch den Türschlitz geredet, und der meinte, dass du es auch weißt.“ Savas sprach es bewusst nicht aus – ich hingegen nahm kein Blatt vor den Mund. „Meinst du die Tabakdose?“, wollte ich von ihm wissen. Er grinste erst und nickte dann. „Guck mal, Emre, du bist Reiniger. Die erwischen das Ding bei Kartal, so oft wie seine Zelle kontrolliert wird. Zu einem geeigneten Zeitpunkt übergibt er dir die Tabakdose, verstehst du? Versteck sie bei dir, Reiniger werden nie kontrolliert.“ Nun war ich in einem Dilemma: einerseits fiel es mir immer schwer, Nein zu sagen, die übliche Problematik eben – und andererseits hatte er mir gar keine Frage gestellt oder mich um etwas gebeten, er hatte es mir quasi befohlen, was mir sehr hart gegen den Strich ging. Meine Überlegungen unterbrach er mit einem Angebot: „Du kannst das Gerät auch benutzen, wir kümmern uns um das Guthaben.“ „Geht klar.“ Ich schlug ein, damit hatte ich mir soeben eine Vorrangstellung bei unseren Türken verschafft.

Die Tage vergingen, und ich besuchte jeden Morgen Kartal in seiner Zelle. Es war nicht nur Herr Nils, der mich in die Zelle von Kartal ließ. Offenbar hatten die meisten Beamten Mitleid mit ihm, weil er sonst keinerlei soziale Kontakte hatte und sich wenigstens mit mir verstand. „Trinkst Du Cappuccino? Ist mit Schokoladengeschmack.“ Das Angebot von Kartal nahm ich dankend an, ich liebte Schokolade und Kaffee pur war mir immer zu stark. Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Zukunftspläne, über unsere Vergangenheit und über unsere Familien. „Haha Mist, ich muss aufs Klo, tut mir echt Leid“, meinte er plötzlich mitten im Gespräch. Ich drückte auf den Notruf, da unsere Zellentür verschlossen war, und bat den Beamten, mich rauszulassen. „Ich muss zufällig auch“, ich grinste Kartal an, während ich an der Zellentür wartete, bis ebendiese aufging. „Bist Du auch laktoseintolerant, oder wie?“ Diese Frage konnte ich ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht beantworten, weil ich das Wort nie zuvor gehört hatte. Der Beamte machte mir die Tür auf und drückte mir einen Besucherzettel in die Hand. „Mein Anwalt? In einer Stunde?“ Ich schaute ihn fragend an, er nickte. Schnell sprang ich unter die Dusche, immerhin hatte ich den ganzen Vormittag Kontakt mit irgendwelchen Chemikalien gehabt und musste dank meines Anwalts auch nicht zur Mittagsessensausgabe. Gerade als ich am Duschen war, kam Kartal rein: „Ich darf duschen, bis die anderen von der Arbeit kommen“. Er grinste und begab sich, wie üblich bei uns Türken nur mit Unterhose bekleidet, unter die Dusche. „Weißt Du, Emre, ich habe meinen Körper erst in der Haft richtig kennen gelernt. Davor habe ich nie drauf geachtet.“ Es war seltsam, dass er mir das sagte, während er seinen Körper rasierte. „Was ist denn diese Laktose?“, wollte ich von ihm wissen. Als er mich aufklärte, kamen plötzlich Erinnerungen an meine Kindheit hoch: „Ich glaub, ich habe das auch?! Ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter mir damals zu Grundschulzeiten immer heiße Milch gekocht hat, bevor ich zur Schule ging. Und jedes Mal musste ich zurück nach Hause laufen, weil ich dann dringend aufs Klo musste.“ Er lachte ein wenig: „Ja, siehst du! Ich würde an deiner Stelle mal rumexperimentieren, das findet man in der Regel schnell heraus. Und du gehst gleich zu deinem Anwalt? Wer ist es denn?“ Als ich ihm den Namen nannte, verzog er die Mimik: „Also, ganz ehrlich Emre, wer hat dir denn den alten Sack empfohlen? Der ist total schlecht, mein Mittäter hatte den.“ Das ganze Ich-habe-den-besten-Anwalt-Gerede ging wieder los, und er empfahl mir wärmstens einen sogenannten Herrn Steiner. Nach der Dusche zog ich mich an und schilderte ihm mein bisheriges Pech mit den Anwälten: „Und darum kann ich jetzt nicht nochmal meinen Anwalt wechseln. Mein Vater meint sonst wieder, ich hätte einen ‚Affengeschmack’, das tut er nämlich immer, wenn ich mich oft umentscheide. Ich glaube, der übersetzt das 1:1 aus dem Türkischen, und da bedeutet es einfach, dass man gierig wie ein Affe sei.“

Ein Beamter brachte mich hinunter in die Besucherräume, und diesmal durfte ich glücklicherweise direkt zu meinem Anwalt, ganz ohne Wartezeit. „Ich fühle mich wie ein VIP-Häftling, wieso darf ich gleich rein?“, wollte ich vom Beamten wissen, als ich in Richtung Besucherraum geführt wurde. „Na, Du musst noch Essen ausgeben, der andere Reiniger ist sonst alleine.“ Ich schaute ihn verdutzt an: „Wieso das? Wo ist der andere?“ Er öffnete die Tür: „Er hatte heute eine Gerichtsverhandlung und wird entlassen.“ Als ich davon hörte, keimte ein starker Neid in mir auf. Ich begab mich mit ziemlich mieser Laune zu meinem unfähigen Anwalt. Nach einer laschen Begrüßung und sinnlosem Smalltalk über das Wetter kam mein Anwalt endlich zu den Fakten: „Ich habe mit der Staatsanwältin geredet, die Ermittlungen dauern leider noch an. Der Fall ist sehr groß. Wir müssen leider mit der Gerichtsverhandlung warten, da die Anklageschrift noch verfasst werden muss, was wiederum erst geschieht, sobald die Ermittlungen beendet sind. Ihre U-Haft wurde bis zum 15.01.2014 verlängert, spätestens dann haben Sie ihre Gerichtsverhandlung.“  Das waren keine guten Nachrichten. Es war das erste Mal, dass ich nicht nach seiner Einschätzung bezüglich meiner endgültigen Haftstrafe fragte. „Da ist noch etwas wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft. Ihre Eltern meinten, dass sich das Landratsamt gemeldet habe. Sie sollen Ihren türkischen Pass abgeben, ich habe das nicht ganz verstanden, ihre Mutter meinte, Sie würden wissen, um was es geht?“

Mir wurde plötzlich ganz heiß. Ich hatte das Thema „Staatsbürgerschaft“ total vergessen und, so muss ich gestehen, auch ziemlich vernachlässigt. „Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft, also sowohl die türkische, als auch die deutsche. Allerdings muss ich spätestens zu meinem 23. Lebensjahr eine von beiden Staatsangehörigkeiten abgeben. Kurz vor meiner Verhaftung bin ich zum türkischen Konsulat und habe mitgeteilt, dass ich meinen türkischen Pass abgeben möchte. Daraufhin meinten diese, ich müsse erst meinen Wehrdienst in der Türkei verlängern – das sei die übliche Prozedur. Nachdem ich meinen Wehrdienst verlängert habe, könne ich die weiteren Schritte zur Abgabe meines türkischen Passes einleiten. Also habe ich den Antrag auf Verlängerung meiner Wehrdienstpflicht gestellt. Kurz vor meiner Verhaftung kam dann auch die Bestätigung, dass meine Wehrdienstpflicht verlängert wurde. Doch bevor ich zum Konsulat gehen konnte, um meinen türkischen Pass abzugeben, wurde ich verhaftet. Das Landratsamt entzieht mir automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ich bis zu meinem Geburtstag nicht nachweisen kann, dass ich die türkische Staatsbürgerschaft abgegeben habe.“ Der Anwalt schien bei der langen Erzählung fast eingeschlafen zu sein. „Ich werde mich nochmals mit ihrer Mutter in Verbindung setzen, um das zu klären“, sagte er vage zur Verabschiedung.

Nachdem ich mich in den Warteraum begeben hatte und vom Beamten direkt zur Essensausgabe hoch gebracht worden war, konnte ich mich nach knapp einer Stunde auf mein Bett legen und mich in meine Gedanken vergraben. Ich musste irgendetwas wegen meiner Staatsbürgerschaft tun. Am besten würde es sein, wenn ich den Sozialarbeiter in der Sache aufsuchte. Als meine Gedanken zu der verlängerten U-Haft schweiften, bekam ich einen Hass auf die Beamten, dass die Ermittlungen so schleppend voran gingen…Plötzlich unterbrach mich ein Klopfen an meine Zellentür.

„Herr Ates, möchten Sie auch zur Opferfest-Veranstaltung?“

Es war der Beamte Herr Winter. Mit einem Zettel und einem Stift in der Hand stand er neben meinem Bett. Ich stand auf und fragte nach, was genau das sei. „Zu eurem religiösen Fest kommt das türkische Konsulat. Sie haben angegeben, dass sie Moslem sind. Also dürfen Sie da auch hin.“ Ich war überrascht: „Das türkische Konsulat … von Stuttgart?“ Er bejahte meine Frage. Das war mehr als nur ein glücklicher Zufall! „Sie müssen nur hier unterschreiben.“ Er legte den Zettel auf den Tisch und übergab mir den Stift.

Als ich unterschrieb, wurde mir plötzlich schlecht, als ich zufällig neben das Blatt schaute.

Auf meinem Tisch lag eine Tabakdose. Und hinter mir stand noch immer Herr Winter.