Cems Auftritt wurde auf nach der Mittagspause verlegt. Genug Zeit, um sich von dem stressigen Geständnis vor Gericht zu erholen. Alle strafenden Blicke der Anwesenden fühlten sich schmerzvoll an, ich fühlte mich wie der Teufel, der zur Pilgerfahrt symbolisch gesteinigt wird. Der Zellenkollege war ebenfalls zur Mittagspause da, Abde hieß er, und schien unbeeindruckt von seinem Gerichtsverfahren zu sein: „Ich halte einfach meine Fresse, der Richter kann mich mal.“ Sein Mittäter befand sich mit Cem in einer anderen Zelle. Er schwieg auch wie ein Grab – ganz anders als ich. Meine Hoffnung bestand darin, dass Cem ebenfalls mit dem Gericht kooperieren würde. Durch unser voreiliges Geständnis blieb uns sowieso nichts Anderes übrig, als die reine Wahrheit zu sagen. Wichtig war es nun, das Gericht davon zu überzeugen, dass wir nicht logen. Die Richterin schien weder die Beziehung zwischen meinem Bruder und mir, noch die türkische Kultur zu verstehen: „Weil er mein Bruder ist“, war meine Antwort auf die Frage der Richterin, weshalb ich Cem am Gewinn beteiligt hatte. Die Unzufriedenheit über meine Begründung hatte ich allen Vorsitzenden aus den Gesichtern lesen können.

Ich nahm große Schlucke von meinem Wasser, als frühzeitig ein Beamter vor meiner Zellentür stand: meine Anwältin suchte das Gespräch mit mir. Der „Besprechungsraum“ war direkt nebenan, meine Anwältin saß hinter einer Scheibe und ich setzte mich auf den einzig vorhandenen Stuhl ihr gegenüber. „Das war toll, Herr Ates! Ich bin mir sicher, dass Sie das Gericht überzeugt haben und glaubwürdig erscheinen. Etwas Sorgen um ihren Bruder mache ich mir jedoch schon, er scheint das Ganze nicht ernst zu nehmen. Die Vorsitzenden schienen nicht positiv auf ihn zu reagieren, vor Allem nach Ihrem sympathischen Auftritt fällt ihr Bruder mit seinem Verhalten deutlich negativ auf“. Da war sie nicht die einzige, die diesen Eindruck über meinen Bruder vertrat: „Das Problem ist, es ist erstmal total egal, was mit mir passiert. Also wäre schon super, wenn ich eine so geringe Strafe wie möglich bekomme, aber wenn mein Bruder nicht rauskommt, dann war alles, vor Allem das Geständnis, für die Katz.“ Ich bekam eine Wut gegenüber meinem verantwortungslosen Bruder, am liebsten hätte ich ihm ein paar Respektschellen gegeben und ihm gesagt: „Raff dich mal auf und sei dir dem Ernst deiner Lage bewusst!“ Doch etwas viel Wichtigeres stand im Raum: „Wir müssen darum kämpfen, dass Sie drei nicht als Bande verurteilt werden, damit steigt die Strafe um einiges, dann kann nicht nur Ihr Bruder die Bewährung vergessen, sondern Sie müssen auch mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe rechnen. Daher habe ich auch mit dem Anwalt von Herrn Polat geredet, er ist natürlich derselben Meinung. Sie haben bereits die Vorlage gegeben, dass Sie zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig agiert haben, die anderen beiden müssen dies nur noch so unterschreiben.“ Ich bedankte mich bei ihr und wurde zurück in meine Zelle gebracht, die ich dann nach einigen Minuten Richtung Gerichtssaal verließ. Es ging nun weiter.

Cem war dran.

Die Richterin begann sofort damit, den Nachrichtenaustausch vorzulesen und gab an, dass der SMS – Verkehr am 15. Februar 2013, also ca. 2 Monate vor der Verhaftung, nachts um 1:21 Uhr stattgefunden hatte:

Cem: „Hey Bruder, kannst Du bitte heute woanders schlafen? Ein Kumpel und Ich haben hier eine auf der Party abgecheckt und brauchen eine Wohnung.“

Emre: „Ähm, nein?! Ich arbeite gerade, während Du Spaß auf der Party hast, ein scheiß bekommst Du heut meine Wohnung.“

Cem: „Bitte Bruder, komm schon! Kannst Du nicht in ein Hotel gehen? Komm schon.“

Emre: „Alter, ich habe morgens um 8:00 Uhr Uni, einen scheiß gehe ich in ein Hotel, geh Du doch! Du kannst ja ihre Nummer nehmen und Dich mit ihr morgen treffen.“

Cem: „So ne gelgeneit kannst du mir nicht nehmen, denkst du treffen sich wan anders oder was, das sibd kahbas, bitte man, du kriegst die nächsten 2 zahlungen alles man bitte oder was anderes, bitte man ich tue alles du kannst mir nicht die gelgenheit nehmen man, nicht diese, steh zu deinem wort bitte, du musst Ja nich nach stgt. Einfach raus bitte, würdest du es machen wenn für dich auch eien rauspringt, bitte man bitte.“

Emre: „Junge du raffst es wohl nicht, ich muss morgen für die Prüfung lernen und Brauch meinen Schlaf. Geht doch zu den Tussen nach Hause oder dann Check nächste Woche einfach Tussen ab, heute kannste es aber vergessen, ich Schlaf jetzt muss früh aufstehen und für Prüfung mit Freunden lernen. Im Gegensatz zu dir bin ich jetzt nur wach weil ich gearbeitet und nicht wie du Feiern gehe. Die nächsten 2 Zahlungen werd sowieso ich nehmen weil ich nur arbeite und du eigtl heute den ganzen Tag arbeiten wolltest du spaßt! Schreib mir jetzt Auch nicht weiter und vergiss es einfach! Ich Brauch nichts von dir.“

Cem: „OK amk!“

Mein Gesicht glich am Ende einer reifen Tomate, es war mir extrem peinlich, dass meine Eltern das hörten. Ich blickte zu ihnen und stellte fest, dass meine Mutter auch rot angelaufen war. Nicht vor Wut, sondern weil es ihr ebenfalls peinlich war. Meine Zwillingsschwester war weniger aufgebracht, vielmehr erwischte sie mich dabei, wie ich zu ihr blickte, und grinste mich an à la „Du Idiot, haha“. Über die Reaktion meines Vaters wunderte ich mich sehr: er hatte sich vornübergebeugt, die Arme auf den leeren Stuhl vor sich angelehnt und bekam ein breites Grinsen auf dem Gesicht. So wie ich meinen Vater einschätzte, war ich mir sicher, dass er sich gerade dachte: „Gott sei Dank, wenigstens einer meiner Söhne ist nicht vom anderen Ufer.“ Ein Grinsen machte sich auch auf meinem Gesicht breit und die Rötung flachte etwas ab. Cem wiederum schien ganz stolz darauf zu sein, dass seine Eroberung an jener Nacht hier so öffentlich präsentiert wurde.

Die Richterin fuhr fort: „Also, Herr Ates…“, sie blickte auf meinen Bruder, „Sie haben bei Ihren Eltern gewohnt, Ihr Bruder hatte eine eigene Wohnung in Esslingen, Sie waren in jener Nacht auf einer Party und wollten, dass Ihr Bruder für die eine Nacht Ihnen seine Wohnung zur Verfügung stellt. Was sie dort machen wollten, geht ja sehr deutlich aus dem eben Vorgetragenen hervor. Ist das alles richtig?“ Cem grinste weiterhin und bejahte. „Von welcher Arbeit spricht denn Ihr Bruder bei seinen Nachrichten?“, wollte die Richterin wissen. Dass das eine rhetorische Frage war, verstand mein Bruder wohl nicht und antwortete mit einem Tonfall, der das Gegenüber unweigerlich dumm dastehen ließ: „Ähh, den Ticketverkauf natürlich?!“ Den Richterinnen gefiel diese Art, mit ihnen zu sprechen, natürlich gar nicht: „Also der Ticketverkauf, an dem Sie auch beteiligt waren?“ Cem blickte fragend durch die Gegend: „Nein, mein Bruder hat immer am Computer verkauft. Ich habe das nicht gemacht.“ Die Richterin zur Rechten der Hauptvorsitzenden übernahm nun das Wort: „Sie sprechen von einem Anteil, den Sie ihrem Bruder überlassen wollten. Wofür haben Sie denn den Anteil bekommen?“ Cem machte nun einen Fehler und gab den Richterinnen einen Grund, ihn als Mittäter einzustufen: „Für das Geld abheben. Mein Bruder hatte immer Schiss Geld abzuheben, der hat jemanden gebraucht, der es für ihn gemacht hat. Deswegen habe ich immer mit Helm, Sonnenbrille und Schal das Geld abgehoben. Er hat dann halt Schmiere gestanden. Und dann kam ich mit dem abgehobenen Geld. Er hat mir dann das gegeben was er wollte. Meistens halt die Hälfte.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Die Richterinnen, hatten sie doch endlich etwas gefunden, zückten sogleich ihre Stifte und begannen, sich Notizen zu machen. Ich entnahm ihrem Blick, dass meine Anwältin sich am liebsten auf die eigene Stirn geschlagen hätte, auch sie notierte sich etwas. Cems Anwalt schien ebenfalls überrascht von der Aussage zu sein.

Die Stimmung der Richterinnen wandelte sich ob dieser Entwicklung so langsam zum Positiven: „Erzählen Sie mal, was haben Sie denn noch so gemacht, was Ihr Bruder nicht machen wollte oder konnte? Er hat Sie doch sicherlich auch für andere Zwecke gebraucht, z.B. weil er zeitlich durch seine Arbeit oder den Vorlesungen verhindert war?“ Cem überlegte kurz: „Nichts. Das war das Einzige was ich gemacht hab, Geld abheben.“ Die Richterin rutschte wieder in ihre negative Gemütslage: „Sind Sie sich sicher? Wir haben ihre ICQ-Chatverläufe von „prestige“, also Ihren Usernamen. Aus diesen geht in vielen Unterhaltungen hervor, dass Sie Kreditkarten beschafft haben, auch an dem Kauf der Bankdrops haben Sie sich beteiligt.“ Ihre Aussagen basierten – inklusive Seitenangaben – auf den Ermittlungsakten. Meine Anwältin öffnete sofort die entsprechenden Unterlagen auf ihrem Rechner und deutete mit dem Stift auf die zitierten Passagen, so dass ich mir ebenfalls ein Bild davon machen konnte. Es lief gerade sehr schlecht. Auch wenn Cem Recht damit hatte, dass ich Angst vor dem Geldabheben hatte und lieber Schmiere gestanden war, weil ich den Überblick behalten wollte –  war die Behauptung der Richterin, dass er sonstige Aufgaben übernahm, einfach falsch. Mein Bruder sollte dann noch erzählen, wie es dazu kam, dass er sich mit mir verstritt, für einige Monate in der Türkei war und wie er mich dazu brachte, die Mittäterschaft mit Adnan aufzugeben.

„Als ich zurück aus der Türkei war, wusste ich, dass mein Bruder noch weitermacht. Er hatte immer genug Geld dabei. Ich habe auch gesehen, dass er angefangen hatte, mit Adnan abzuhängen, die ganze Zeit. Da habe ich mir schon gedacht, dass die gemeinsam Geschäfte machen. Meinen Bruder konnte ich schon immer leicht überzeugen, vor Allem wenn es darum ging, sich für mich zu entscheiden. Irgendwann hat er dann Adnan gesagt, dass die Bankdrop-EC-Karte eingezogen wurde und er aufhören möchte. Weiß nicht, ob Adnan ihm das abgekauft hat, aber danach hat er auch nicht darauf gepocht, weiterzumachen.“ Wenigstens hatte mein Bruder diesmal mit seiner Aussage dafür gesorgt, dass die Mittäterschaften klar dargestellt wurden. Ein Schmunzeln gab es dann doch noch, als die eine Richterin, die bisher kein Wort von sich gegeben hatte, wissen wollte, wofür das Kürzel „amk“ in der SMS von Cem stand. „Ähm, das ist ein türkisches Schimpfwort“, grinste Cem: „’amına koyayım’ heißt es ausgeschrieben.“ Die Richterin schaute ihn fragend an. Ich fragte mich, was sie erwartet hatte. „Und auf Deutsch?“, wollte sie wissen. Cem zögerte erst, doch als die Richterin auf die Antwort bestand, übersetzte es Cem. Ich weiß nicht, ob dies der Auslöser war, dass ich an die türkische und dann an die deutsche Sprache dachte, doch mir kam ein Geistesblitz: „Darf ich kurz was sagen?“, fragte ich. Die Hauptvorsitzende hatte mich schon aus ihrem Fokus verloren und schien verwundert, meine Stimme zu hören: „Ja, bitte. Sie haben das Wort, Herr Ates.“

„Also, Sie haben ja gesagt, dass aus den ICQ-Chatverläufen hervorgeht, dass Cem auch Kreditkarten gekauft hat usw. Das hat er auf jeden Fall nicht, er hat nur Geld abgehoben. Ich kann das beweisen, wenn Sie mal bitte die Chatverläufe nochmals ansehen würden. Ich habe nämlich den Account von meinem Bruder ständig verwendet. Und wenn Sie den Schreibstil ansehen, dann werden Sie erkennen, dass ich stets auf die Groß – und Kleinschreibung, sowie Kommasetzung achte. Das macht so gut wie keiner auf ICQ. Ebenso wenig mein Bruder, er schreibt sogar Wörter total falsch. Wenn Sie dann einfach mal schauen, wo auf einen korrekten Schreibstil geachtet wurde, werden Sie sehen, dass genau diese Verläufe etwas mit Kreditkartenverkäufen zu tun haben. Dort, wo nicht drauf geachtet wurde, war es mein Bruder und dann immer nur Smalltalk, ohne jeglichen Geschäftsvorgang.“ Ich war stolz auf meine Erkenntnis und schien die Richterinnen auch überzeugt zu haben, dies konnte ich spüren, als sie die Chatverläufe kurz überflogen.

Doch dann begaben Sie sich wieder in den Angriffsmodus: „Sie haben aber erwartet, dass Ihr Bruder „arbeitet“, ist das nicht so? Ihrer SMS kann man entnehmen, dass Sie enttäuscht sind, dass er nicht arbeitet.“ Ich versuchte, meine Intention hinter der SMS zu erklären: „Ich wollte einfach nur, dass er es nicht als selbstverständlich ansieht, dass ich ihm Geld gebe. Dass er es sich nicht „verdient“ hat, dass ich es ihm nur gebe, weil er eben mein Bruder ist.“ Die Hauptvorsitzende war genervt: „Herr Ates, Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir Ihnen diese „Er-ist-mein-Bruder“-Geschichte abkaufen. Ihr Bruder hat zugegeben, dass Sie ihn für das Geld-Abheben bezahlt haben.“ Ich war ebenfalls genervt, sie schien es einfach nicht zu verstehen: „Ich hätte mir genauso gut einen Läufer holen können und dem nur 10% abgeben können, statt meinem Bruder 50% zu geben. Ich hätte mich auch selbst dazu bewegen können, Geld abzuheben. Ich habe aber meinem Bruder etwas Gutes tun wollen, ich hatte schon jahrelang das Gefühl, für ihn verantwortlich zu sein. In unserer Kindheit musste ich als älterer Bruder immer eine gewisse verantwortungsvolle Rolle einnehmen. Ich fühlte mich dadurch, dass ich ihm das Geld gegeben habe, von dieser Verantwortung befreit. Ich kann nur sagen, dass ich ihm das Geld gegeben habe, weil er mein Bruder ist und nicht, weil ich ihn für irgendeine Tätigkeit bezahlt habe.“

Meine Anwältin klinkte sich in die Diskussion ein und erhoffte sich dadurch wohl, mir einen Vorteil zu verschaffen: „Darf ich mich kurz einmischen? Ich möchte eine Frage an den jüngeren Ates stellen, wenn dies in Ordnung ist.“ Die Richterin gestattete es.

Meine Anwältin drehte sich zu meinem Bruder um: „Also Cem, nehmen wir einfach mal an, dein Bruder hätte keinen Betrug gemacht. Wäre einer ganz normalen Arbeit nachgegangen und hätte eine Menge Geld. Wenn Du zu ihm gekommen wärst, weil du Geld gebraucht hättest – denkst du, er hätte dir Geld gegeben, nur aufgrund der Tatsache, dass du sein jüngerer Bruder bist?“

Cem blickte mich direkt an: „Natürlich nicht.“