Neues Stockwerk, neue Gesichter, Regeln und Probleme – was würde da auf mich zukommen? Und noch viel wichtiger: wie lange werde ich hier verweilen müssen? In zwei Kisten hatte ich mein ganzes Hab und Gut in das erste Stockwerk transportiert und befand mich in meiner neuen Zelle – der Reiniger-Zelle. Die Zelle unterschied sich komfortmäßig von anderen Zellen nur in dem Punkt, dass sie immer offen war. Doch sie war unangenehmer als jene in der JVA Schwäbisch Hall, was schon damit anfing, dass ich nur ein Minifenster in der Zelle hatte. Mal abgesehen von der Tatsache, dass damit nicht gut gelüftet werden konnte, war mein Ausblick deprimierend. In Schwäbisch Hall hatte ich über die Mauer sehen können, konnte die Freiheit, die grüne Landschaft und das Leben sehen und bei offenem Fenster auch einatmen. Und hier? Je nachdem, welchen Blickwinkel ich einnahm, sah ich entweder eine riesige Gebäudewand oder den Hof vor mir. Ich befand mich zwar im ersten Stockwerk, doch der Ausblick über die Mauern vom 7. Stock war auch nicht besser – die Mauern waren um einiges höher als jene in Schwäbisch Hall. Während wir in Schwäbisch Hall noch Utensilien an die Nachbarzellen „schicken“ konnten (man nehme hierfür einen Wäschesack mit dem gewünschten Utensil, binde diesen an einen Gürtel und schwinge den Wäschesack aus dem Fenster in Richtung der gewünschten Nachbarzelle, woraufhin deren Insasse nach dem Wäschesack greifen kann), war dies hier unmöglich. Die Zellen waren diagonal im Gebäude untergebracht, und derart versetzt, dass die Nachbarzelle sich nicht auf derselben Höhe wie die eigene befinden konnte. Das Stockwerk war auch um einiges größer, als ich in Erinnerung hatte. Im 7. Stockwerk war mir das ebenfalls nicht aufgefallen. Es gab zwei Flügel – ich nannte sie immer West- und Ost-Flügel, obwohl ich mir der Himmelsrichtungen nicht bewusst war – die nahezu gleich lang waren. Jeder Flügel hatte ca. 35-40 Zellen, was einem gesamten Stockwerk in Schwäbisch Hall entsprach. Es gab lediglich eine Dusche, sowie eine Küche, welche sich gleich neben meiner Zelle befand.

Als ich gerade dabei war, mich in meiner neuen Zelle einzurichten, hörte ich eine Stimme an meiner Tür: „Hey, bist Du der neue Reiniger, oder?“, die Antwort war dem Fragesteller wohl klar, die Frage rhetorisch. Ich blickte den draußen stehenden Häftling an, er hatte Lackschuhe, eine Jeans, sowie ein hellblaues Hemd an – unschwer zu erkennen, dass es Kleider der JVA waren. Er machte auf mich einen sehr gepflegten Eindruck, oder wie mein Vater sagen würde: „Der ist doch metrosexuell!“ Sein Bart war gepflegt und hatte klare Linien, seine Augenbrauen waren extremer gezupft als viele, die ich zuvor bei Männern gesehen hatte, seine lockigen schwarzen Haare schienen mit viel Gel versehen zu sein und seine braune Haut glänzte ein wenig. Wahrscheinlich verwendete er eine Hautcreme. Er schien mir wie eine aus dem Nahen Osten stammende Version Tayfuns. „Hey, ja, ich bin der Emre.“ Meinen Handschlag nahm er freundlich entgegen. Im Grunde genommen waren alle Reiniger, die ich bisher gesehen hatte, freundlich. Wahrscheinlich war dies eines der Kriterien, die man für diese Rolle erfüllen musste. „Mein Name ist Hakim! Bin auch Reiniger – von wo kommst Du? 7. Stock, oder?“ Selbstverständlich war er neugierig, und natürlich wusste ich, dass ich mich bei den anderen Häftlingen erst beweisen musste. Denn ein völlig Fremder kommt in ein Stockwerk, welches schon potenzielle Reiniger-Kandidaten besitzt, und nimmt jemandem den Job weg. „Das werden die nicht gerne sehen. Doch ich habe extra Sie ausgewählt, da Sie neu sind…wohlmöglich noch eine Weile dableiben und niemanden aus dem ersten Stockwerk kennen. Würde jemand aus dem ersten Stockwerk den Job erhalten, hätte dieser bereits die Kenntnisse über die Beamten, die Strukturen und bereits Häftlinge, die er bevorzugt und er würde sich gewiss einen Vorteil aus seiner vertraulichen Position verschaffen.“ Dies waren die intelligenten Worte von Herrn Leder, als er mir den Reiniger-Posten angeboten hatte. Doch ich verheimlichte Hakim nichts, erzählte ihm in knappen Worten von meiner Straftat, über mein bevorstehendes Urteil, meinen Job als Reiniger in Schwäbisch Hall und den Grund meiner Verlegung nach Stammheim. Seine Reaktion war vorhersehbar und ich hatte sie bereits zum gefühlt hundertsten Mal gehört: „Bruder, bist Du ein Hacker?“

Herr Leder hatte gerade Dienst und beobachtete uns von seinem Büro aus, welches zwischen Ost – und Westflügel lag, als er plötzlich neben Hakim stand: „Wieso wird hier nicht gearbeitet? Die Arbeiter rücken gleich an, haben Sie schon den Flur gewischt?“ Mir wurde eiskalt, Herr Leder war dann wohl der Herr Winter von Stammheim. „Ja, aber die Dusche macht Osman. Der ist gerade beim Arzt.“ Herr Leder war wohl enttäuscht, dass sein Anraunzer unberechtigt gewesen war, seine strafenden Blicke legte er trotz allem nicht ab: „Gut. Sagen Sie ihm, dass er es nach dem Mittagessen machen soll. Solange geben Sie Herrn Ates Reiniger-Klamotten und zeigen ihm den Putz-Raum.“

Hakim zeigte mir die heilige Kammer der Reiniger, in der es Putzmittel in Hülle und Fülle gab. „Warum haben wir so viele Sanitärreiniger und Lappen, aber nur ein paar Besen?“, wollte ich wissen. „Jeder Arbeiter hat Sanitärreiniger in seiner Zelle und Lappen, die müssen selber saubermachen. Wir Reiniger gehen zwei Mal in der Woche die Zellen durch, um zu fegen und zu wischen.“ Ich war entsetzt: „Wie jetzt? Wir putzen deren Zellen? Können die nicht gleich selber fegen und wischen?“ Hakim lachte nur: „Wir sind Reiniger, man.“ Er erklärte mir den Ablauf, während er mir aus seinem Schrank Reiniger-Klamotten übergab: „Morgens geben wir Frühstück aus. Warmen Tee, Brötchen und Streichkäse, Honig, manchmal auch Nutella. Zusätzlich sammelt ein anderer den Müll ein, gibt neue Hygienemittel wie Rasierer, Seife etc. aus. Nachdem die Arbeiter abgerückt sind, beginnen wir mit dem Wischen der Flure und dem Desinfizieren der Duschen. Dafür muss man immer ins Büro und so spezielles Desinfektionsmittel nehmen, niedrig dosiert natürlich. Wenn die Arbeiter kommen, ist meist das Mittagessen von der Küche da, mit dem auch gleichzeitig das Abendessen kommt. Nach der Ausgabe des Mittagessens an die Arbeiter können wir auch zu Mittag essen. Meistens räumen die dann ihre leeren Essens-Behälter in den Essens-Wagen ein, oder wir sammeln es wieder ein. Das Abendessen müssen wir dann in der Küche lagern. Jeden Mittwoch gibt es Wäscheausgabe, neue Arbeiterklamotten. Und ganz wichtig: Wir Reiniger dürfen die Küche zum Kochen benutzen, aber sonst niemand anderes. Herr Leder ist da sehr streng!“ Ich nahm alles zur Kenntnis und zog mich um, Herr Leder hatte mir in der Zwischenzeit die Lackschuhe gebracht, welche mehr als unangenehm zu tragen waren. Später würden wir mit Hakim in die Kammer gehen, um neue Arbeitsklamotten für uns Reiniger zu holen.

Als der Mittagessenswagen kam, war auch der dritte Reiniger angekommen. Osman war sein Name, ein älterer, türkischer und dürrer Mann. Mit ihm hatte ich auch ein kurzes Gespräch, als dann plötzlich mehrere Stimmen zu hören waren. Eine Horde von Häftlingen befand sich plötzlich im Flur, alle warteten vor ihren Zellentüren. Meine zwei Reiniger-Kollegen zogen sich Hygiene-Kappen und Handschuhe an. Ich sollte erstmal nur zuschauen. Die Reiniger übergaben dem jeweiligen Häftling das Essen, Herr Leder öffnete die Zellentür, bat den Häftling hinein und schloss hinterher ab. Es waren verschiedenste Gestalten zu sehen, einige beäugten mich gründlich, andere wiederum nahmen mich nicht einmal wahr. Es schien, als bestünde der Großteil aus Albanern und Arabern, aber auch eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Deutschen gab es hier. Die Türken hingegen waren deutlich in der Unterzahl. Einer fiel mir besonders auf, er hatte Haare, die bis zur Schulter gingen, einen Ziegenbart, und war etwas breiter gebaut. Er müsste etwa um die 40 sein, seine Zelle war groß, eine Viermannzelle. Ganz groß an einer Wand sah ich die Aufschrift „Hells Angels“. „Du, ich habe gleich Besuch von meinem Anwalt. Lass meine Tür offen, damit ich duschen kann.“ Das waren seine Worte an den Beamten Herrn Leder, und das Seltsame daran war, dass es war vielmehr ein Befehl als eine Bitte zu sein schien. Ich war schockiert, noch nie hatte ich einen Häftling so mit einem Beamten reden hören. Noch schockierender war die Tatsache, dass Herr Leder darauf einging.

Nachdem das Essen vollständig ausgeteilt und die Schalen wieder eingesammelt worden waren, rückten die Arbeiter ab. Osman rief mich zu sich: „Lass uns die Dusche putzen, ich zeig Dir das.“ Er nahm einen Behälter voll Wasser, ging ins Büro und füllte Desinfektionsmittel ein. Danach begaben wir uns in die Dusche und schrubbten das Mittel auf die Wände. Plötzlich kam der Häftling von den Hells Angels rein: „Meine Güte, was macht ihr da?! Mensch, ich wollte jetzt duschen. Hättet ihr das nicht später machen können?“ Osman sah ihn verwirrt an: „Jetzt ist keine Freizeit, duschen musst Du abends, David. Woher sollen wir das wissen?“. David machte eine „Halt dein Maul“-Handbewegung und verließ das Bad. Nachdem wir das Desinfektions-Mittel für eine halbe Stunde hatten einwirken lassen, wuschen wir das Mittel mit einem Wasserschlauch von den Wänden ab. Osman lästerte ein wenig über diesen David ab, es hatte wohl etwas auf sich mit ihm. „Du kannst dich in deiner Zelle ausruhen, bis die Arbeiter wieder zurück sind.“ Osman erlöste mich von der Arbeit, und ich hatte die Ruhe dringend nötig. Als ich es mir auf meinem Bett gemütlich gemacht und einen türkischen Sender eingeschaltet hatte, klopfte es an meiner Tür. Überrascht war ich, als David da stand und mir eine Frage stellte, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte: „Hey Junge, kannst Du deutsch?“ – „Ähm, ja?“, ich wunderte mich, dass es keine Selbstverständlichkeit zu sein schien, die deutsche Sprache hier zu beherrschen. Mit den Worten „Hier hast ein Snickers“, warf er es mir auf mein Bett. Ich war verwirrt: „Ähm, danke. Aber ich brauch das nicht, hier, nimm es zurück.“ Er machte einen genervten Gesichtsausdruck: „Nimm das jetzt einfach. Das ist ein Geschenk. Kannst Du lesen?“, ich bedankte mich und bejahte erneut. „Wie gut kannst Du lesen?“ So langsam dachte ich, dass er mich für dumm hielt: „So gut, dass ich verstehe, was ich lese.“ Er befahl mir, ihm zu folgen und ich ging mit ihm in seine Zelle. Er kramte ein Magazin aus und empfahl mir, einen Artikel zu lesen: „Nimm das mit in deine Zelle. Da steht, was ich gemacht habe.“ Das war ja mal eine ganz andere Art und Weise, seine Tat mitzuteilen, anstatt wie gewohnt mündlich davon zu berichten oder gar den Haftbefehl zum Lesen zu geben. Er schien wohl eine große Nummer zu sein und aus der Tatsache, dass er von den Hells Angels war, machte er wohl kein Geheimnis. Überall in seiner Zelle waren die Aufschriften dieser Rocker-Gang zu lesen. Ich begab mich in meine Zelle und las die Tat: Er hatte Schulden eines Barbesitzers eintreiben wollen, da dieser nicht bezahlt hatte. Er hatte den Gläubiger an einen Stuhl gefesselt und mit einem Hammer seine Finger gebrochen. Auch, wenn das bei mir einen gefährlichen Eindruck über ihn hinterließ – so war das Unangenehmste an ihm, dass er in einer Haftanstalt, in der Rolle des Häftlings, einem Beamten Befehle erteilen konnte.

Nach dem Eintreffen der Arbeiter gab es die Abendessensausgabe und gleich darauf folgend den Hofgang. Der Hofgang war um einiges größer als jener vom 7. Stockwerk, oder gar von Schwäbisch Hall. Mehrere Stockwerke hatten zur selben Zeit Zugang zum Hof. Danach gab es für ca. 90 Minuten die Möglichkeit, sich im Flur frei zu bewegen und zu duschen. Einige Leute sprachen mich an, mehrmals musste ich meine Geschichte erzählen. Und so vergingen die Tage. Meinen Bruder sah ich einige Male, wenn er Hofgang hatte. Vom Fenster aus unterhielten wir uns ein wenig. Ich machte Bekanntschaften mit einigen Häftlingen, mit manchen verstand ich mich besser, mit anderen wiederum weniger gut.

Das Wochenende brach schließlich an, und mit ihm die Besucherzeit. Diesmal klappte es auch bei mir und es war das erste Mal, dass meine Mutter, meine Zwillingsschwester, Cem und ich in einem Raum saßen. Es war ein emotionaler, aber auch freudiger Moment. „Hey Jungs, morgen wird es genau 1 Jahr her sein, seitdem ihr in Haft gekommen seid. Ihr habt es echt gut überstanden! Ich hoffe, in 4 Tagen können wir uns in Freiheit begegnen.“ Meine Schwester erinnerte mich daran, wie schnell und doch auch langsam die Zeit vergangen war. Ich erzählte von meiner neuen Tätigkeit als Reiniger, von den Lockerungen, die ich dadurch hatte und machte mich über Cem lustig: „Haha Cem, kein Wunder, dass Mama immer gesagt hat, dass es Dir schlechter geht als mir. Du siehst ja total müde aus, hast nicht geduscht, deine Haare sind zerzaust und du redest ja gar nichts.“ Er grinste nur: „Ja man, Du redest echt viel. Bei mir redet immer Mama. Wenn Papa da ist, antworte ich nicht mal.“ Meine Mutter hatte Freudentränen in den Augen, sie genoss es, ihre beiden Söhne gemeinsam zu sehen. Als sie sich verabschiedete, umarmte sie uns beide fest und sagte, wie sehr sie uns liebte: „Ich bete zu Allah, ich bete, dass ich beide meiner Söhne in 4 Tagen in Freiheit sehen darf. Meine starken, wundervollen Jungs. Ich liebe euch!“, rief sie und küsste uns auf die Wange. Als Cem und ich uns wieder in der Wartezelle befanden, übergab er mir seine Süßigkeiten: „Bruder hier, mir reicht der Tabak, ich mag keine Schokolade.“ Ich bedankte mich: „Cem, ich hoffe echt, dass wir beide rauskommen. Wenigstens du sollst aber rauskommen, für mich sieht das glaub schwieriger aus. Ich möchte Mama nicht mehr weinen sehen. Ich glaube, wir beide würden es verkraften, wenn wir nicht rauskämen. Aber Mama?“ Er bestätigte es mit einem Nicken, die Aufregung stieg von Minute zu Minute an. Der Countdown lief. Ich ging meinem Reinigerjob nach und plötzlich stand eine der berühmt – berüchtigten Sozialarbeiterinnen vor meiner Tür: „Herr Ates?“

Sie erzählte mir, dass sie wegen meines Antrags auf die Verlegung mit meinem Bruder in eine gemeinsame Zelle käme. Ich grinste bei dem hoffnungsvollen Gedanken, dass es klappen würde. „Wieso lachen Sie? Sind wir hier im Kindergarten? Sie haben als älterer Bruder einen schlechten Einfluss auf Ihren jüngeren Bruder!“ Sie fuhr mit irgendwelchen Anschuldigungen und Behauptungen fort, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass wir beide nicht in eine gemeinsame Zelle dürfen. Mich überkam eine Welle von Hass. Wie konnte eine Sozialarbeiterin, ohne mich oder meinen Bruder zu kennen, die Beziehung zwischen uns beurteilen? „Ähm, Entschuldigung. Aber ich denke kaum, dass Sie eine Ahnung davon haben, welchen Einfluss ich auf meinen Bruder habe. Sie kennen uns doch nicht mal.“ Nach einer hitzigen Diskussion verließ sie meine Zelle. Ich hoffte einfach, dass Cem am Urteilstag rauskommen würde, damit mir eine weitere Diskussion mit der Dame erspart bleiben würde. Denn im worst – case Szenario bräuchte ich die Sozialarbeiterin noch, um meinen Plan, das Studium während der Haft wiederaufzunehmen, verfolgen zu können. Ich war nun ein Jahr in Haft. Angenommen, ich bekäme 3 Jahre: Aufgrund guter Führung würde ich sicherlich 2/3 – Strafe erhalten, was heißen würde, dass ich effektiv 2 Jahre würde absitzen müssen. Da ich allerdings bereits ein Jahr in Haft war, müsste ich nur noch 1 Jahr absitzen. Da wir uns im April befanden, würde das perfekt passen, das letzte halbe Jahr meiner Strafe in den offenen Vollzug zu gehen, damit ich dann hoffentlich mein lang ersehntes Studium beginnen konnte. Ob die Rechnung aufgehen würde, zeigte sich sehr bald. Doch bis dahin konnte ich nur weiterhin hoffen und hypothetische Rechnungen aufstellen.

Irgendwann war es dann so weit. Der Urteilstag stand an. Mein Bruder und ich wieder in schicken Klamotten gekleidet, saßen wir im Transportbus und redeten vor Nervosität kein einziges Wort. Ein Schaudern machte sich in meinem ganzen Körper breit, ich sah meinen Bruder an und wir grinsten nur. Am Landgericht Stuttgart angekommen begleiteten uns Beamte in den Gerichtssaal. „Endlich ist es so weit“, flüsterte ich meinem Bruder zu. Meine Eltern und meine Zwillingsschwester saßen ganz vorne im Zuschauerbereich. Ich lächelte sie an, sie lächelten zurück. Angekommen an meinem Platz, konnte ich mich nicht wirklich hinsetzen, da die Richter bereits eintraten. Meine Beine fühlten sich gelähmt an, mein Herz pochte, mir wurde heiß und mein Kopf juckte irgendwie. Als ich die Stimme der Staatsanwältin hörte, fing mein Herz an zu pochen, erst langsam, dann schneller, erst leise, dann lauter. Mein Herz fühlte sich an wie ein Stein, welcher viel zu schwer war. Meine Schweißperlen trockneten einfach nicht.

Wie lange hatte ich auf diese eine Passage gewartet…seit einem Jahr und drei Tagen…nur auf diese eine. Meine Hoffnung lebte aufgrund dieser Ungewissheit. Und meine Hoffnung, sie sank mit einem Mal ins Grab:

„Ich beantrage 4 Jahre Freiheitsstrafe für den Angeklagten Emre Ates.“

Mein Herz stand still, ich hörte nichts mehr, bis ein lautes Geräusch meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das seltsame Geräusch, ich werde es niemals vergessen: Mein Vater, ob dieser Worte zutiefst schockiert, presste seine Hand fest auf den Mund. Das Gesicht meiner Mutter wollte ich nicht sehen. Die Staatsanwältin fuhr fort: „…3 Jahre Freiheitsstrafe für den Angeklagten Cem Ates…“ Mein Gesicht lief rot an und tausende Gedanken rasten durch meinen Kopf, die traurigen Seufzer aus dem Zuschauerraum waren nicht zu überhören. Adnan sollte 2 Jahre auf Bewährung bekommen. Genau das hätte ich mir eigentlich für Cem gewünscht. Meine Mutter weinte. Zwar traute ich mich nicht, sie anzublicken, doch es war deutlich zu hören. Ich war wie gelähmt, und plötzlich stieg die nackte Angst in mir hoch. Angst davor, Cem in die Augen zu schauen und Angst davor, ihn anzulügen, indem ich ihm mitteile, dass die Hoffnung noch nicht gestorben ist.

Ich hoffte einfach nur noch auf das Urteil.