Zurück in der JVA Schwäbisch Hall, wurde ich sofort von Herrn Winter auf meine Verlegung angesprochen. „Herr Ates, Sie werden übermorgen in die JVA Stammheim verlegt. Bitte packen Sie morgen alles zusammen.“ Ich stellte mir vor, wie er nun seine eigenen Lieblinge als Reiniger einstellen würde, immerhin waren jetzt 3 Posten freigeworden. Keiner konnte Häftlinge leiden, die sich bei den Beamten einschleimten. Schlussendlich jedoch kam man dadurch zu gewissen Lockerungen, die es durchaus wert waren. Außerdem hatte ich es mir angewöhnt, die Beamten nicht als Feinde oder Gegner zu sehen, sondern als Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen. Leider gab es auf beiden Seiten immer welche, die ihre Rolle als Häftling oder Gefängniswärter zu ernst nahmen – die Machtgefälle taten dem Rollenverständnis in der Hinsicht nicht gut und bedurften meines Erachtens nach einer Neuordnung.

So ganz konnte ich mich mit dem Gedanken der Verlegung nicht anfreunden. Die angenehme JVA, der tolle Job und meine Bekannten hier, alles im Tausch gegen eine Zelle mit meinem Bruder? Aber an sich klang das nach einem fairen Deal. Ich war bereits ein alter Hase in der U-Haft, so gut wie niemand sonst war für fast ein Jahr in U-Haft gewesen, schon viel früher bekamen andere ihr Urteil. Dementsprechend kannte ich alle Häftlinge und hatte mit den meisten schon mehr oder weniger Gespräche über Herkunft, Straftat und sonstige persönliche Informationen geführt. Ich verabschiedete mich allerdings von den Haftkollegen wie Savas, Tayfun und Kartal. Obwohl am nächsten Tag meine Verlegung anstand, arbeitete ich am letzten Tag noch als vollwertiger Reiniger weiter. Der letzte Arbeitstag war immerhin auch wichtig für den letzten Eindruck. „Bruder, kannst Du bitte mal schauen, warum meine Wäsche nicht gut riecht? Ich habe extra diesen teuren Weichspüler gekauft, dennoch riecht meine Wäsche nach gar nichts. Riech mal nach dem Waschvorgang an der Wäsche, ob es gut riecht, und dann nochmal, nachdem du sie getrocknet hast. Möchte wissen, ob es an der Waschmaschine oder am Trockner liegt“, sprach Tayfun seinen letzten Wunsch an mich aus. Er war einer der wenigen, die sich tagtäglich rundum und gründlich pflegten. Immer frisch rasiert und mit Niveacreme auf dem gewaschenen Gesicht traf man ihn an. Aber auch ein großes Sortiment an den verschiedensten Duschgels gehörte zu seinem Repertoire. Er hatte sich sogar mal parfümierte Wäsche von daheim zusenden lassen, nur, damit er diese beim Besuch seiner Freundin tragen konnte. Dass die Wäsche nun trotz des teuren Weichspülers schlecht roch, konnte er also gar nicht ertragen. Natürlich konnte ich seinen Wunsch nicht abschlagen, zumal es keine große Sache war. Also begab ich mich in den Waschraum, als gerade der Waschvorgang mit der Wäsche Tayfuns fertig war. Ich neigte mich vor die Waschmaschine, öffnete die Luke und nahm die Wäsche in die Hand. Obwohl ich schon eine Prise des frischen Dufts der Waschmaschine entnehmen konnte, roch ich vorsichtig an der eben herausgeholten Wäsche. Sie roch nach Weichspüler. Plötzlich ging die Tür des Waschraums auf, ein Beamter stand vor der Tür… und blickte mich ziemlich entsetzt an: „Schnüffeln Sie etwa an der Wäsche der anderen Häftlinge?“, fragte er doch sehr verdutzt und war dabei kurz vor einem Lachanfall. Ich lief rot an wie eine Tomate und erklärte ihm die Situation, dass mich ein Mithäftling darum gebeten hatte, dass ich doch nur schauen sollte, warum die Wäsche nicht gut duftete…

„Ja, ist klar“, grinste er mich daraufhin nur an und bat mich in sein Büro. Ich sollte ein paar Unterlagen zur Verlegung unterschreiben.

„Welcher Beamte ist eigentlich morgen da?“, wollte ich von ihm wissen. „Wieso fragen Sie?“, wollte mein Gegenüber wissen. „Naja, morgen werde ich verlegt. Ich möchte nicht schon um 7:00 Uhr in die Wartezelle und dann bis 13:00 Uhr auf den Transportbus warten. Ich habe gesehen, dass je nach Beamter, die Reiniger das Privileg haben, bis 13:00 Uhr in ihrer Zelle warten zu dürfen“, erklärte ich ihm offen und ehrlich. Seiner Mimik konnte ich entnehmen, dass er davon Bescheid wusste, dennoch kam er mir nur halbherzig entgegen: „Ich darf Ihnen nicht sagen, welcher meiner Kollegen morgen Schicht hat. Jedenfalls ist es ein neuer Kollege, den Sie nicht kennen.“ Das war kein gutes Zeichen. So wie er es vorhergesagt hatte, stand am nächsten Morgen auch ein völlig unbekanntes Gesicht vor meiner Zellentür und informierte mich, dass ich mich nach dem Abrücken der Arbeiter bereit machen und zum Arzt gehen solle. Folglich würde ich direkt zur Kammer gehen, meine Sachen abgeben und müsste dann in die Wartezelle. Schnell sprach ich ihn bezüglich der Privilegien, die man als Reiniger genoss, an, und ob ich denn nicht nach der Kammer noch zu meinem albanischen Reiniger – Kollegen in die Zelle könne. „Ich würde auch noch arbeiten bis 13 Uhr!“, bot ich ihm an. Er lachte nur und würdigte mich keines Blickes: „Privilegien? Hier werden alle Häftlinge gleichbehandelt!“ Ich war verärgert: „Ich bin schon seit einem Jahr hier, habe immer gut gearbeitet und alles getan, was die Beamten von mir verlangt haben. Sie können mir doch etwas entgegenkommen? Eine Art Belohnung für gute Dienste?“, doch auch diese Argumente stießen auf taube Ohren. Nachdem ich dann beim Arzt fertig war und meine Sachen in der Kammer abgegeben hatte, konnte ich den Beamten immer noch nicht überzeugen. Als ich sehr enttäuscht von einem anderen Kammer-Beamten in Richtung Wartezelle gebracht wurde, erkannte ich plötzlich einen sehr vertrauten und penetranten Parfümduft. Das war eine Beamtin, mit der ich mich sehr gut verstand! „Frau Habich! Können Sie mir helfen? Ich werde heute verlegt. Die wollen mich in die Wartezelle stecken, bis der Transportbus kommt. Können Sie nicht mit dem Beamten reden und fragen, ob ich bis zum Mittagessen oben auf dem Stockwerk warten kann?“ Ich sah sie ziemlich verzweifelt an. Sie konnte wohl nicht widerstehen und war überrascht, dass ich verlegt wurde: „Ach nein, Du wirst verlegt? Ich kümmere mich darum!“ Keine fünf Minuten vergingen in der Wartezelle, als der neue, nun mies gelaunte Beamte die Zellentür öffnete: „Herr Ates, ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben…Aber nur bis zum Mittagessen! Danach gehen Sie wieder hier runter wie alle anderen.” Ich hatte mich schon seit geraumer Zeit nicht so gut gefühlt – so von Erfolg gekrönt!

Schlussendlich saß ich dann wie jeder andere auch in einer engen Kabine im Transportbus und malte mir einen Unfall aus. Niemals würden wir lebend aus dem Bus kommen – nicht bei den verschlossenen Türen und diesen beengten Verhältnissen. Eine halbe Ewigkeit verging, als ich dann vor diesem runtergekommenen Gebäude stand. Es war genauso hässlich und düster, wie ich es in Erinnerung hatte! Lustiger weise wurde ich in dieselbe Transportzelle verlegt, wie vor einem Jahr – Zelle 39. Diesmal mit einem breit gebauten Kurden und einem Polen in der Zelle. Ersterer kam erst von seinem Mexico-Urlaub zurück, er war im Spring-Break in Cancun gewesen. Letzterer bestätigte das Klischee über Polen – er hatte Autos geklaut. Der Kurde war aus der Red Legions Gruppe und war verwundert, als ich ihm einige kurdischen Namen aufzählen konnte – Häftlinge der Red Legions, die ich aus der JVA Schwäbisch Hall kannte. Es war ein Jahr vergangen, niemals hätte ich mir erträumt, wieder hier in der Zelle zu stehen. Das Einzige, was sich verändert hatte, war meine Erfahrung und eventuell meine Persönlichkeit. Was sich nicht verändert hatte, war die Tatsache, dass ich keine Lust hatte, in einer Toilette mein Geschäft zu verrichten, während mir meine Zellenkollegen dabei zuschauen konnten. Als der Hofgang anstand, wollte ich in der Zelle bleiben. „Das geht so nicht. Entweder alle gehen in den Hofgang, oder alle bleiben in der Zelle!“, herrschte uns der mehr als unfreundliche Beamte an. „Wie jetzt? Wieso darf ich nicht alleine in der Zelle bleiben? Ich muss scheißen“, erklärte ich ihm böse. „Ihr seid alle suizidgefährdet, ihr dürft nicht alleine in der Zelle bleiben.“ Diese Begründung war mehr als absurd. „Was? Ich bin seit einem Jahr in Haft, warum sollte ich gerade jetzt suizidgefährdet sein?“, war meine mehr als berechtigte Frage darauf. Die Begründung war abermals unbefriedigend: „Alle Neuankömmlinge werden so eingestuft, bis der Arzt eine Untersuchung vorgenommen hat.“ Und selbstverständlich war ich wieder mal an einem Wochenende verlegt worden, musste also bis Montag warten. Auch, wenn es meinem Darm keineswegs guttat, blieb ich das Wochenende stark und flehte die Beamten bei der „Erstaufnahme“ an, mich in eine Einzelzelle zu stecken. Sauer war ich dann auf den offensichtlich homosexuellen Häftling, der mit mir in die oberen Stockwerke verlegt wurde, als er mir im Aufzug nach oben mitteilte, dass ich niemals eine Einzelzelle bekommen würde: „Die Einzelzellen sind heiß begehrt, da ist nichts mehr übrig. Du musst sicherlich mit mir in die Zelle.“ Mein einsetzendes Kopfkino gefiel mir ganz und gar nicht… das konnte der sich gleich mal abschminken. Glücklicherweise hatte er unrecht, die Beamtin brachte mich in eine Einzelzelle – die für mich heilige Toilette stand da und wirkte sehr einladend auf mich. Doch bevor ich meinen langersehnten Stuhlgang erledigen konnte, musste die Beamtin wohl auch dringend etwas los werden: „Wissen Sie, wessen Zelle das ist? Hier hat sich ein Terrorist umgebracht.“ Ich schaute sie fragend an, ich befand mich im 7. Stock, in einer Zelle ganz hinten im Flur: „Äh, wie jetzt? Ein Islamist oder wie?“ Sie lachte wie eine Hexe: „Haha nein, ein RAF Terrorist!“ Mein einziger Gedanke war: „Wow – ich scheiß mir gleich in die Hose!“

Einige Tage musste ich noch bis zum vierten Verhandlungstag warten. Diese Tage waren mitunter die schlimmsten meiner Haftzeit. Ich musste tatsächlich 23 Stunden in der Zelle verbringen, 1 Stunde Hofgang gab es nur morgens um 7:00 Uhr, duschen durfte man nur zwei Mal in der Woche, maximal für 10 Minuten, das Essen war mehr als schlecht und die Fenster sehr klein. Ich fühlte mich erst jetzt wirklich gefangen – das davor war dagegen noch erträglich gewesen.

Von meinem kleinen Fenster aus hatte ich einen guten Blick auf den Hofgang, und auch, wenn die Leute schwer zu erkennen waren, hätte ich Cem sicherlich erkennen können. Meinen Antrag auf eine gemeinsame Zelle mit ihm hatte ich bereits abgegeben – ich hoffte, dass er diesmal durchgehen würde. Als ich im Hof lauter Jugendliche sah – keiner wirkte älter als 20 Jahre – rief ich nach Cem. Plötzlich blieb einer der Jugendlichen stehen und blickte hoch: „Wer bist Du?“, schrie er hoch, und suchte nach meinem Fenster. „Hier bin ich! Kennst Du Cem? Ich bin sein Bruder!“, rief ich runter. „Ah, bist Du sein Bruder? Ja, ich kenne ihn! Er ist mit mir auf dem Stockwerk!“ Er hatte mich nun entdeckt. „Wo ist er? Kannst Du ihn rufen?“, fragte ich interessiert. „Er schläft. Der Hofgang ist ihm zu früh am Morgen!“ Das war typisch Cem. Ich bat ihn darum, Cem mitzuteilen, dass sein Bruder da sei und, dass er bitte zum Hofgang kommen möge. In meinem Hofgang lief ich alleine im Kreis herum, keiner sprach mich an – bis auf diesen alten türkischen Mann. Was er getan hatte, fragte ich nie, alles, was mich interessierte, betraf meinen Bruder. Dementsprechend war ich erfreut, als der alte Türke mir versicherte, dass es bei den Jugendlichen lockerer zu Sache ginge – Freizeit, Sportaktivitäten, Unterricht und dergleichen stand auf dem Tagesplan. Enttäuscht war ich dann von Cem, als er die nächsten Tage nicht zum Hofgang erschien, obwohl ich mehrmals nach ihm rufen ließ: „Doch, aber er ist einfach zu faul. Er kann nicht so früh aufstehen“, antwortete mir der jugendliche Häftling vom Hofgang, als ich ihn  – wohl eher rhetorisch – fragte, ob er denn Cem nicht mitgeteilt hatte, dass sein Bruder da sei.

Enttäuscht darüber, meinen Bruder nicht sehen zu können, versuchte ich, die Zeit irgendwie herumzubekommen. Mein Hass auf die TV-Programme kam wieder hoch, ich wollte nicht anderen Leuten dabei zusehen, wie sie ihr Leben in Freiheit lebten. Das Essen kam mir auch immer wieder hoch, mir fehlte Nervennahrung – bis zum Einkauf musste ich mich noch eine Weile gedulden. Auch hatte ich keine wirklichen Kontakte, es gab nur eine Stunde Hofgang pro Tag, es war mir schlicht unmöglich, mich zu „integrieren“. Die Beamten hier schienen viel kälter drauf zu sein, wenn die Tür aufging und man eine Frage hatte, versuchten sie, einen schnell abzuwimmeln – man musste die Tür regelrecht gegendrücken, um mehr Zeit zum Reden zu gewinnen. Bei Nachfragen zu Anträgen wurde man abgespeist: „Ich habe schon vor ein paar Tagen einen Antrag abgegeben, mit der Absicht, in eine Zelle mit meinem Bruder verlegt zu werden. Wann bekomme ich da Rückmeldung?“, wollte ich wissen, als mir die Beamtin zum Abendessen einen Besucherzettel in die Hand drückte. Sie wusste mal wieder von gar nichts und haute mir die Tür vor dem Gesicht zu. Wenigstens hatte ich hier zwei Stunden Besuch, anders als in Schwäbisch Hall – dafür aber auch nur alle zwei Wochen. Die Tage bis zum Besuch vergingen, ohne, dass ich meinen Bruder gesehen hatte.

Ganz früh stand ich auf, damit ich mich frisch machen konnte. Meine Anwältin war vor der Verhandlung zu Besuch gekommen, um mit mir den aktuellen Stand zu besprechen: „Oh meine Güte, wie sehen Sie denn aus? Stammheim tut Ihnen gar nicht gut. Sie haben ja tiefschwarze Augenringe.“ Ich teilte ihr mit, dass Stammheim einem alles abforderte und ich mich alleine in der Zelle total schlecht fühlte. Ich konnte mir einfach nicht erklären, wie zwei JVAs im selben Bundesland so unterschiedlich sein konnten. Doch vor meiner Mutter wollte ich nicht schwach wirken, ich wollte nicht, dass sie sich unnötig mehr Sorgen macht – die Nivea Creme sollte Abhilfe schaffen. Mit Motivation und Vorfreude folgte ich dann der Beamtin zum Aufzug. Das System war hier völlig anders, wahrscheinlich wegen der Größe der JVA. Die Stockwerksbeamtin übergab mir einen Zettel, und während ich sie fragend anblickte, erklärte sie mir, dass dies ein Laufzettel sei: „Zeig das den Beamten, die führen Dich dann damit zum Besucherraum. Verlier den Zettel nicht.“ Das war wohl sowas wie ein Eintrittsticket in den Besucherraum. Ich wartete vor dem Aufzug. Aufgrund der langen Wartezeit verstand ich auch, weshalb ich bereits eine Stunde vor Besuchsbeginn von der Zelle abgeholt worden war. Als der Aufzug ankam, kamen ein paar Häftlinge raus. Ein Beamter mit dem magischen Aufzugsschlüssel fragte mich, wo ich hinmüsse. Ich zeigte ihm den Laufzettel und begab mich in den Aufzug. Bis wir ganz unten ankamen, kamen in jedem Stockwerk neue Häftlinge hinzu, es gab einen regelrechten Häftlingsverkehr. Als meine Blicke im Aufzug umherschweiften und ich versuchte, den anderen Häftlingen – sie wirkten viel gefährlicher als jene in Schwäbisch Hall – nicht in die Augen zu schauen, blieb mein Blick an dem Arsch des Beamten hängen. Ich musste mir das Lachen stark verkneifen.  Der Beamte hatte einen viel zu fetten und festen Arsch, der sehr markant vom restlichen Körper abstand – es sah aus wie operiert. Noch nie zuvor hatte ich sowas gesehen und ich denke, als Frau wäre er sicherlich schon von so manch einem Häftling angebaggert worden. Wobei, als Mann in einer JVA – man weiß nie, was für Häftlinge mit einer wie auch immer gearteten Orientierung sich hier aufhielten.

Im Warteraum angekommen, machte ich es mir in einer Ecke gemütlich. Noch war kein anderer Häftling im Besucherraum. Ich freute mich wie ein kleines Kind auf meine Mutter – vor allem aber auf die Schokolade. Von einem Häftling im Hofgang hatte ich erfahren, dass der Besuch bis zu 10 EUR Waren für den Häftling kaufen durfte. Schokolade für 10 EUR sollte mir bis zur Verhandlung erstmal reichen. Als die Tür des Warteraums aufging, wollte ich mich schon aufrappeln, um zum Besucherraum zu gehen. Statt meiner Eltern kam ein junger Mann herein: Die Haare waren zerzaust, die Augen dick angeschwollen und ein starker Zigarettengeruch umhüllte ihn, als er mich angrinste. „Ach Du meine Scheiße! CEM!“ Ich umarmte ihn – er erwiderte die Umarmung nur halbherzig. „Was geht, Lan? Man, Du siehst voll fertig aus!“ Ich war total aufgeregt. „Haha, Bruder, es ist so früh Lan, die kommen immer so früh.“ Wir plauderten etwas über das letzte Jahr und ich war erleichtert, als er mir mitteilte, dass er als Jugendlicher nicht 23 Stunden in der Zelle war. Er hatte Freizeit, Sportaktivitäten und auch für seine Bildung konnte er hier etwas tun. Als ich ihm versicherte, dass er zum Urteil rauskommen würde, wurde er sauer. „Sag das nicht, sonst komm ich nicht raus“, meinte er. „Na gut, dann kommst halt nicht raus“, grinste ich. „Nein, sag das auch nicht, dann komm ich erst recht nicht raus!“ Er meinte es wohl ernst, etwas abergläubisch war er immer gewesen. Die Zellentür des Warteraums ging erneut auf, die Beamtin blickte besorgt in unsere Richtung: „Leider kann nur Cem Ates zum Besuch. Herr Emre Ates, Sie müssen wieder in die Zelle.“ Die Aussage traf mich wie ein Schlag ins Gesicht: „Aber wieso?“ Sie hielt einen Zettel in der Hand: „Ihre Mutter hat nur eine Besuchsbescheinigung für die JVA Schwäbisch Hall, sie hätte eine für Stammheim beantragen müssen. Es tut mir Leid. Das nächste Mal dann.“ Dass ich mit Beamten, vor allem wenn ich sie nicht kannte, nicht verhandeln konnte, war mir bereits klar. Doch ich wollte es nicht unversucht lassen: „Kann mir meine Mutter bitte wenigstens Schokolade kaufen? Ich brauch die Nervennahrung echt dringend.“ Sie verneinte natürlich – kein Besuch, kein Einkauf. Mein Bruder fragte die Beamtin, ob er mir seine Schokolade geben könne, die er vom Besuch erhalten würde. Sie verneinte erneut. Ich umarmte meinen Bruder und bat ihn, doch wenigstens mal zum Hofgang zu kommen, damit ich vom Fenster aus mit ihm sprechen konnte. Er bejahte, und ich wurde in eine andere Wartezelle geführt. In der nächsten Wartezelle befand sich bereits ein Häftling, der es sich auf der Bank gemütlich gemacht hatte. Es gab eine Wartezelle für diejenigen, die zum Besuch wollten, und eine andere Wartezelle für die Häftlinge, die soeben wieder vom Besuch kamen. Sie wurden dann alle auf einmal vom Aufzugsbeamten abgeholt. Ich wusste in dem Moment fast nicht, was schmerzhafter war – meine Familie nicht zu sehen, oder meine Schokoladenration für die nächsten Tage nicht zu bekommen. Letzteres hätte mir mit dauerhafter Wirkung die Zeit in der Zelle buchstäblich versüßt. Da ging die Wartezellen-Tür erneut auf, die Beamtin stand mit einer Tüte voller Süßigkeiten vor mir und übergab mir diese. Ich wusste nicht, wie mir geschah: „Es ist von ihrem Bruder“, meinte sie. Ich hatte zwar nie Weihnachten gefeiert, doch so müsste sich ein Beschenkter am 24. Dezember fühlen, da war ich mir sicher.

Bis zum Verhandlungstag konnte ich meinen Bruder nochmals sehen. Als ich vom Fenster meiner Zelle hinausblickte, hörte ich ihn nach meinem Namen rufen. Wir plauderten ein wenig, vor allem über das TrueCrypt Passwort. „Hättest Du das Passwort doch bloß nicht verraten, dann wären wir schon längst draußen.“ Damit hatte er wohl nicht ganz unrecht. Seine Häftlingskollegen um ihn herum schienen überrascht zu sein, als ich Cems Aussagen bezüglich der Verschlüsselung der Rechner bestätigte.

Der vierte und vorletzte Verhandlungstag stand an. Diesmal war ein BKA – Beamter mit IT-Background aus Rosenheim da. Er hatte einen Beamer aufgesetzt und seinen Rechner damit verbunden. Er erzählte, welche Daten sie auf unseren Rechnern gefunden hatten und wie sie auf die ICQ-Chatverläufe gekommen waren. Viel Interessantes war da nicht zu hören, im Grunde genommen ging es doch allen nur um die Verschlüsselung. Die Richterin wollte wissen, ob die Wahrscheinlichkeit 0% betrage, das Passwort knacken zu können – so hätten es seine Kollegen behauptet. Der IT-Beamte versuchte, ihr das detaillierter zu erklären: „Im Grunde genommen ist alles knackbar, die Frage betrifft eher die benötigten Ressourcen und Zeit. Doch mit unseren Mitteln hätten wir aufgrund der Komplexität des Passworts keine Entschlüsselung vornehmen können.“ Dass das ein gefundenes Fressen für die Richterinnen war, konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Denn nach meiner Beurteilung hatte der IT-Beamte recht, er hätte nur erwähnen sollen, dass er wahrscheinlich mehrere hunderte Jahre gebraucht hätte sowie eine enorme Rechenpower. „Sie meinen also, mit genug Ressourcen und genügend Zeit hätten Sie den Rechner knacken können?“, fragte die Richterin interessiert. Der IT-Beamte versuchte ihr zu erklären, dass es nicht mit einem einfachen „Ja“ zu beantworten ist: „Naja, also mit genug Ressourcen und einer Menge Zeit vielleicht und selbst dann ist es nicht sicher.“ Die Richterin fragte mehrmals nach, nie kam ein eindeutiges „Ja“ oder „Nein“. Bis dann die Hauptvorsitzende sauer wurde: „Ja oder Nein? Kann man mit den nötigen Ressourcen und genug Zeit das Passwort knacken – Ja oder Nein?!“ Der IT-Beamte fühlte sich wohl angegriffen und ergab sich der Beharrlichkeit der Richtern. Er kämpfte kurz mit sich, man sah ihm an, dass er nicht eindeutig darauf antworten wollte – schlussendlich tat er es dennoch: „Ja – mit genug Ressourcen und Zeit, Ja.“ Mein Gesicht lief rot an, als ich daraufhin die Aussage der Richterin zu Ohren bekam: „Also können wir feststellen, dass die Ates Brüder mit der Herausgabe des Passworts nur die Ermittlungen beschleunigt haben – es war auch in ihrem eigenen Interesse, dass die Ermittlungen frühzeitig beendet werden.“ Ich stand auf, meine Hände zitterten, ich stotterte: „Wollen Sie mich verarschen? Wie realitätsfern kann man sein? Die scheiß Ermittlungen haben mehr als 6 Monate gedauert, OBWOHL ich das blöde Passwort verraten habe! Die Verhandlungstermine waren nach einem verdammten Jahr, OBWOHL ich kooperiert habe! Dann kaufen Sie doch bitte die verdammten Quantenrechner und ich warte gerne in Freiheit, bis Sie das komplexe Passwort knacken! Ohne Beweise hätten Sie uns keine 6 Monate in U-Haft halten können! Ohne Passwort keine Beweise! Nicht mal das Wasser meiner Anwältin durfte ich annehmen, als ich stundenlang vor Gericht sprechen musste! Wie unmenschlich sind Sie eigentlich!“ – Leider spielte sich das alles nur in meinem Gedanken ab. In Wirklichkeit saß ich eingefroren auf meinem Sitz und bereute es zutiefst, je mit der Justiz kooperiert zu haben. Die Hoffnung hatte ich dennoch nicht verloren. Erst mal abwarten bis zum Urteil, dachte ich mir.

Die Mittagspause stand an und auf meinem Weg zur Wartezelle sah ich mal wieder Abde. Er wurde von zwei Beamten festgehalten, er hatte eine Bauchschelle um, an der seine Hände gekettet waren. „Ach Du meine Güte, was ist los?“, wollte ich von ihm wissen, als er von den Beamten mit voller Kraft an mir vorbeigezerrt wurde: „Was soll schon passiert sein? Diese Arschlöcher haben mir 12 Jahre gegeben.“ Mitleid hatte ich gewiss nicht mit ihm und musste plötzlich daran denken, wie mich andere Leute sahen. Es gab sicherlich bessere Menschen als mich, die mich genauso ansahen, wie ich Abde ansah – sie hätten sicherlich auch kein Mitgefühl. Doch das wollte ich auch gar nicht, ich wollte einfach nur eine Zukunft, ein Studium beginnen, ich wollte ehrenhaft leben. Gehörte dazu auch, dass ich Kooperationen mit der Justiz nicht bereuen durfte? Diesmal durfte ich gemeinsam mit Cem in einen Warteraum. Das Topthema war bekannt und das Fazit simpel: „Wenigstens ist jetzt alles raus und es kann im Nachhinein nichts mehr kommen. Nach der Entlassung müssen wir nichts mehr befürchten.“ Dieser Gedanke war befriedigend.

Nach der Mittagspause war ein Vertreter der Deutschen Bahn dran. Als ich ihm zuhörte, wie er von finanziellen Schäden berichtete und wie sie die Zahlungsmethode einfach halten wollen, damit es kundenfreundlich ist, obwohl damit der Kreditkartenbetrug einfach ist – hörte ich, wie die Tür des Gerichtssaals aufging. Ich blickte zur Tür und erstarrte.

Tränen schossen in meine Augen, mein Herz raste wie verrückt und eine Gänsehaut machte sich auf meiner kompletten Haut breit. Ich wollte aufstehen und sie fest an mich drücken, an ihren Haaren riechen, sie an ihren Grübchen küssen und sagen, wie sehr ich sie vermisse und liebe. Ich wollte nochmal hören, wie sie „Abi“ (Bruder) zu mir sagt und mir dabei etwas Kindliches zeigt, ein selbstgemachtes Bild, ein gebasteltes Tier – meine kleine Schwester, mein kleiner Engel war da. Meine Zwillingsschwester führte sie an ihrer Hand auf einen Sitzplatz. Meine kleine Schwester sah mich sofort und strahlte mit einem so goldigen Lächeln, dass alle Sorgen vergessen waren, alles um mich herum war egal. Als der Vertreter der Deutschen Bahn weiter redete, wurde ich kurz involviert – die Frage hieß, wie ich gedachte, den Schaden wieder gut zu machen. „Ich möchte auf alle Fälle studieren. Danach würde ich in monatlichen Raten den Schaden zurückbezahlen“, war meine knappe Antwort und ich verschwand wieder in den Tunnelblick in Richtung meiner kleinen Schwester. Und dann machte sie etwas so Süßes, das brannte sich auf ewig in meine Gedanken ein. Ich weiß es heute noch so klar wie damals:  Mit ihren süßen Kinderhänden machte sie ein Herzchen-Symbol und machte eine Kussbewegung mit ihren Lippen. Ich grinste und machte ebenfalls ein Herzchen-Symbol und gab ihr einen Kuss durch den Gerichtssaal. Sie lächelte. Erneut wurde ich von der Richterin unterbrochen: „Herr Ates, ich kann die Freude über die Familienzusammenführung verstehen, aber konzentrieren Sie sich bitte auf die Verhandlung. Ich genehmige Ihnen später, zu Ihrer Familie zu gehen, bevor Sie abgeführt werden.“ Ich bedankte mich und hörte weiter dem Vertreter der Deutschen Bahn zu. Ob eine Zivilklage folgen würde, wäre noch zu bedenken – so die Worte des Zeugen. Nachdem auch er fertig war, wurden wir alle gefragt, ob wir noch etwas zu sagen haben. Als alle verneinten, wurde die Verhandlung beendet, das nächste Mal sollten die Plädoyers der Anwälte und des Staatsanwaltes folgen. Zudem stand auch das Urteil beim nächsten Mal an.

Ich fragte nochmals höflich nach, ob ich zu meiner kleinen Schwester dürfte. Die Richterin bejahte und machte den Beamten, der mir eine Handschelle anlegen wollte, darauf aufmerksam, dies sein zu lassen. Nachdem ich mich nach langer Sehnsucht mit meiner kleinen Schwester ausgetauscht hatte und ihr Geruch familiäre Gefühle in mir hervorgerufen hatte, betonte ich vor ihr nochmals, wie sehr ich sie lieben würde. Meine Mutter weinte, ich umarmte auch meine Eltern. Nachdem ich sie gebeten hatte, den Saal zu verlassen, legte mir der Beamte die Handschellen an – meine kleine Schwester sollte das nicht sehen. Mit dem Transporter wurden dann Cem und Ich zurück in die JVA verlegt. „Hey, hast Du nicht Kontakte zu den Beamten? Kannst du nicht dafür sorgen, dass wir gemeinsam in eine Zelle können?“, wollte ich auf der Fahrt von meinem Bruder wissen. „Ich habe das schon probiert. Die sagen, dass du einen schlechten Einfluss auf mich hättest und die das nicht machen. Außerdem darfst du nicht in die Jugendabteilung, wenn dann müsste ich in die Erwachsenenabteilung, und dort hab ich dann nicht die gleichen Vorteile. Aber das ist mir egal, ich sag denen, dass ich zu dir will“, erklärte mir Cem ausführlich. „Geht klar, musst Du wissen. Du kannst auch gerne bei den Jugendlichen bleiben. Hast du eigentlich Schokolade? Meine ist wieder ausgegangen, ich dreh durch.” Auf meine Nachfrage bot mir Cem an, mir Schokolade schicken zu lassen, über die Reiniger würde der Transfer wohl laufen.

Das war mein Stichwort, ich musste schauen, dass ich in Stammheim wieder den Posten als Reiniger gewinne. Ich weiß nicht, ob es an meiner Erfahrung lag, doch meine Strategie war simpel. Täglich stand ich früh auf, machte mein Bett, putzte meine Zelle, machte mich frisch und wartete darauf, dass die Zellentür um 6:00 Uhr aufging. Den Antrag für den Reiniger hatte ich bereits abgegeben, als ich das erste Feedback der Beamtin bekam: „Das ist ja vorbildlich. Immer sauber und ordentlich in Ihrer Zelle.“ Ich erklärte ihr, dass ich mich so wohler fühlen würde und Wert auf Sauberkeit lege – „Mit Dreck kann ich nicht leben“, betonte ich. Keine zwei Tage vergingen, da ging meine Zellentür zu einem ungewohnten Zeitpunkt auf.

„Hallo, ich bin Herr Leder und Abteilungsleiter der ersten zwei Stockwerke. Das sind die Arbeiterstockwerke. Sie waren Reiniger in der JVA Schwäbisch Hall und möchten nun hier Reiniger werden?“