Der Besuch verging wie im Flug, nochmals die Hand von Oma küssen und dann ab mit dem Beutel voller Schokolade in die Zelle. Der Alltag war nicht viel spannender als in Schwäbisch Hall, morgens putzen, mittags Essensausgabe und nachmittags eine Stunde Freizeit, in der die Arbeiter duschen durften. Es war nicht viel Zeit, die Leute kennenzulernen. Ich als Alteingesessener wusste, dass es immer eine Weile brauchte, bis man von den anderen akzeptiert wurde. Einige wollten meine Unterlagen sehen, die ich schon auf meinem Tisch bereitgelegt hatte: „Geh in meine Zelle, sie liegen auf dem Tisch, kannst gerne durchlesen“, so winkte ich bei allen ab. Allein der Grieche kam mit meinen Unterlagen raus und machte einen extrem begeisterten Eindruck. Aufgeregt fuchtelte er mit meinen Gerichtsunterlagen vor mir herum: „Alter, bist Du der Mittäter von Flippi?“, „Äh, nein. Aber ich habe indirekt mit dem etwas zu tun gehabt. Wieso?“, fragte ich doch recht verwundert über seine Kenntnis dieses Pseudonyms. „Er war auch hier. Wurde vor kurzem entlassen, er hat auch die Deutsche Bahn betrogen.“ Das war ja mal interessant! Sowohl mein Bruder Cem, als auch Flippi, hatten sich zur selben Zeit hier in der JVA befunden. Ich überlegte laut: „Ja, also ich habe mit ihm nichts gemacht. Aber mein Bruder, der hat mit ihm wohl was gerissen, gemeinsammit einem gewissen ‘Dark’. Mein Bruder wurde aber gestern entlassen, er war wegen des Verfahrens mit mir drin. Und ich glaube, der Flippi hat ausgepackt, deswegen wurde er wahrscheinlichentlassen. Ich habe das irgendwo in meinen Ermittlungsakten gelesen.” Das Ganze schien ihn brennend zu interessieren, denn er wandte seinen Blick kein einziges Mal von mir ab. Ich erfuhr, dass sie Freunde geworden waren und er offenbar der Meinung war, dass Flippi ein korrekter Junge sei. Ich bewies ihm das Gegenteil, als wir die Unterlagen in meiner Zelle durchschauten und fündig wurden. Flippi war auch ein ziemliches Schlitzohr gewesen.
Ich vermutete, dass der Grieche wohl meine Eintrittskarte in die „Community“ sein würde. Er schien mir ganz intelligent zu sein: er stellte mich auch seinen Kollegen vor, die allesamt gute Jobs in der JVA innehatten, ganz anders als der Rest. Da war zum Beispiel Peter, der als einziger Häftling in der Bibliothek arbeitete, und zudem noch Student war – der erste, den ich bis dato gesehen hatte. Immobilienbetrug hatte er wohl begangen, d.h. Immobilien verkauft, die er nicht besessen hatte, womit er einen Millionenschaden verursacht hatte. Er hatte wohl im Duo agiert mit einem älterenrotschopfigenKollegen,welcher„nur“ wegen Steuerbetruges saß und mit dem Griechen die begehrten Stellen in der Kammer teilte. Ein weiterer Grieche, Andreas war sein Name, arbeitete in der Wäscherei. An sich erschienen mir diese Jungs als die sympathischsten und die mehr oder weniger Gebildeten des Stockwerks. Den Hofgang verbrachte ich mit Peter. Es war sehr angenehm, sich endlich mal mit einem auf der gleichen Wellenlänge zu unterhalten. Die Türkengruppe hatte ich auch bereits entdeckt, doch diese erschien mir seltsam – die Persönlichkeiten changierten zwischen total verrückt und, nett ausgedrückt, weniger intelligent. Ich begrüßte sie im Hofgang, als sie im Kreis auf der Wiese saßen und mich kurz willkommen hießen, indem sie die üblichen Fragen stellten. Einer aus der Gruppe der Türken erregte jedoch meine Aufmerksamkeit, da er im Vergleich zu den anderen ziemlich normal aussah und sprach. Er machte einen traurigen Eindruck auf mich und suchte gezielt das Gespräch mit mir. Er fragte mich sehr genau zu meinen begangenen Taten aus. Peter hatte sich derweil zu seinen Kollegen gesellt und ich drehte ein paar Runden mit einem Neuen, der ebenfalls Türke war und Belühl hieß. Als ich ihm abermals erklärte, wie ich meine Taten begangen hatte und er – wie andere auch – schockiert über mein Urteil war, musste ich ihn beruhigen: „Hey, keine Angst. Mach dich nicht verrückt, wegen eines Gerichtsverfahrens, dessen Termine noch nicht mal feststehen.“ Irgendwie erinnerte mich das Ganze an mich selbst, wie ich am Anfang dastand und wie viel Zeit seither vergangen war, sodass ich nun mein Urteil in Händen hielt. Behlül erklärte mir, dass er die Haft nicht aushalten würde (genau so war es mir auch gegangen), dass er Angst vor einer hohen Strafe hätte (auch hierbei fühlte ich mich stark an mich selbst erinnert) und endlich raus wolle – selbstverständlich. Seine Tat war jedoch unschön und seine Schilderungen nur unzureichend. Er drückte sie in einem ziemlich unglaubwürdig erscheinenden Satz aus: „Ich war betrunken mit Freunden in einer Bar, da muckt der eine Deutsche einfach so auf und ich hatte ein Messer dabei, hab ihm damit gedroht, er ist auf mich zu gerannt und in das Messer gelaufen.“ Ich war schon lange genug “dabei”, um zu wissen, dass jeder seine eigene Story verschönerte. Immerhin hatte ich damals auch kein Wort über meine Vorstrafen verloren. Doch Behlül beließ es nicht nur beim Verschönern, er ließ gleich viele entscheidende Details weg – und im Endeffekt warfen Details ein ganz anderes Licht auf die Taten. Ich ging jedoch gar nicht darauf ein, da es mir offen gestanden ziemlich egal war. Ich erzählte stattdessen von dem Besuch mit meiner Oma und, dass sie zuerst kein türkisch reden durfte. Behlül konnte dazu auch seine eigene Story erzählen: „Ich saß auch mit meiner Freundin im Besuchsraum und da war die türkische Beamtin, die uns überwacht hat. Ich habe dann gefragt, ob ich denn türkisch reden dürfe, da sie ja auch türkisch verstehe. Sie sagt dann einfach so: „Nein“, und ich so: „Wieso? Du bisch doch auch Türkin?“ und sie dann voll ernst so: „Nein, ich bin Deutschin.“ Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen in dem Moment und auch Behlül musste lachen: „Deutschin? Verstehst Du? Die sagt Deutschin? So dumm ey.“

Zurück vom Hofgang fragte mich Behlül, ob ich Lust auf einen Kaffee hätte. Wie man sich denken konnte, schlug ich das Angebot natürlich nicht aus. Die Voraussage meines alten Reinigerkollegen zu meiner Anfangszeit, dass ich in der Haft den Kaffee noch lieben lernen würde, hatte sich bewahrheitet. Ich war in der Haft mittlerweile koffeinsüchtig geworden. Wir sprachen über unsere Familien und über unsere Straftaten und so kam es, dass ich ihn immer wieder trösten musste. Er gehörte zu den weniger “stabilen” Häftlingen. Er vertraute mir sehr viel Privates an, unter anderem auch, dass seine Mutter vor kurzem gestorben war. Das nahm mich sehr mit, denn es ließ mich an meine eigene Mutter denken. Eine meiner größten Ängste in der Haft war es, jemand Nahestehendes währenddessen zu verlieren und machtlos in der Haft festzusitzen. Irgendwie begann ich, Mitgefühl für ihn zu entwickeln und seine Niedergeschlagenheit übertrug sich auch auf mich.Mich überkam der Drang, ihn unterstützen und ihm helfen zu wollen, das Ganze durchzustehen. Mit meinen Erfahrungen, die ich nun über das Jahr gesammelt hatte, wollte ich ihn mit Schilderungen über Verhandlungen, die positiv ausgegangen waren, aufmuntern.

Die Türen waren geöffnet, und die Häftlinge durften alle duschen, weshalb sich Behlül nun auf den Weg zur Dusche machte – ich hatte dies schon vor meinem Besuch erledigt. Also begab ich mich in den Flur und schlenderte umher, als dann der Stockwerksbeamte auf mich zukam: „Sie dürfen sich nicht im Flur aufhalten.” Ohne weitere Erklärung begab ich mich in meine Zelle, als ich von David aufgehalten wurde: „Hey Junge, mach das mal bitte in den Kühlschrank rein.“ Ich blickte ihn wohl etwas verdutzt an, denn er wiederholte seine Bitte, die eher einer Aufforderung gleichkam: „Jetzt schau nicht so blöd, in der Küche ist ‘n Kühlschrank, da kommt es rein.” Etwas Angst hatte ich schon vor ihm. Er kam selbstsicher und gefährlich rüber, und so nahm ich ohne weiteren Kommentar sein Essen an mich und legte es in den leeren Kühlschrank. Hakim befand sich in der Küche und war am Essen: „Was machst Du da?“, fragte er mich. „Ich tue das in den Kühlschrank für David“, entgegnete ich, als wäre das selbstverständlich. „Eigentlich darfst Du das nicht, da kommt nur das Abendessen rein, welches wir dann später ausgeben. Lass Dich vom Beamten nicht erwischen.“ Jetzt war ich verwirrt: „Ähm, dann gebe ich das dem David zurück?“, „Würde ich nicht machen, lass es drin.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Probleme geben sollte,weil wir den Kühlschrank verwendeten. Zudem hatte ich so gar keine Lust auf einen Konflikt mit David. Ich war zugegebenermaßen ziemlich davon beeindruckt, wie er mit den Beamten umging.

Die Nacht schlief ich das erste Mal wieder richtig gut. Trotz allem war ich sehr darüber erleichtert, endlich mein Urteil zu wissen. Am nächsten Tag stand bereits der nächste Besuch an: Meine Anwältin war da. Sie beschwerte sich über das Gericht, darüber, dass ich keine Strafmilderung bekam und, dass sie auf jeden Fall kämpfen will: „Herr Ates, wir sollten in Revision gehen! Sie haben eine Strafmilderung verdient! Die Vorsitzende hat den BKA Beamten der IT total ignoriert.“ Ich hingegen sah alles etwas gelassener und erzählte ihr von meinem optimistischen Kalkül: „… und dann studiere ich 2 Semester im offenen Vollzug.“Nach meinen Ausführungen überlegte sie kurz: „Herr Ates, ich kann es verstehen, dass es ihnen in der JVA Stammheim schlechter geht, als in Schwäbisch Hall. Das sehe ich ihnen auch an. Auch verstehe ich vollkommen, dass Sie endlich studieren möchten und, dass dies zu jeder Zeit Ihr Bestreben war. Doch Sie dürfen nicht außer Acht lassen, dass die Abschiebungsgefahr für Sie sehr real ist. Sie haben mehr als drei Jahre bekommen, die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, dazu kommt, dass Sie keinen Aufenthaltstitel haben, Sie haben nur den türkischen Pass. Außerdem laufen noch zwei weitere Ermittlungsverfahren gegen Sie.“ Enttäuscht blickte ich sie an. Sie fuhr mit einem „Aber“ fort: „… wenn Sie möchten, werden wir folgendes tun: Ich lege Revision ein und rede mit der Staatsanwältin. Wir teilen ihr mit, dass Sie die Revision erst dann zurückziehen, wenn sie die Ermittlungsverfahren fallen lässt. Ich denke, das wird sie mitmachen, Sie haben ja bereits eine hohe Strafe erhalten. Was das Regierungspräsidium anbelangt, hoffen wir das Beste, ich kämpfe darum. Sie haben sonst alle nötigen Voraussetzungen, um in Deutschland bleiben zu dürfen.“ Das munterte mich zwar auf, doch bedeutete dies auch, dass ich noch für eine unbestimmte Zeit in Stammheim bleiben müsste. Und bei dem Gedanken daran bekam ich schlechte Laune. Die Tage vergingen undmit ihnen kam das große Warten: Der Brief von der Staatsanwältin bezüglich der Einstellung der Verfahren sollte wohl demnächst eintreffen. Derweil freundete ich mich mit Peter und Behlül besonders gut an. Hakim indessen legte ausgesprochen nervige Verhaltensweisen an den Tag: Er lästerte über jeden Häftling ab und lachte ihm dann geradewegs ins Gesicht. Osman, der dritte Reiniger, war vielmehr mit sich selbst beschäftigt. Er tat seine Arbeit, das war’s. David hingegen verlangte einige Male, dass ich für ihn kochte, während er duschen war. Auch das sei verboten worden sein, doch bisher beschwerte sich kein Beamter. Auch wenn ich mir blöd vorkam, für David zu kochen, war es mir das wert, der Konfrontation mit ihm auszuweichen. Als kochen würde ich das auch nicht bezeichnen, es war vielmehr das schnelle Anbraten von Dosenfleisch.

Es war ein Freitag, als der Stockwerksbeamter auf mich zukam: „Herr Ates, sie sind doch Moslem? Wollen Sie auch zum Freitagsgebet?“ Es war seltsam, mit welcher Inbrunst ich diese Fragen mit einem „Ja“ beantwortete – meinen inneren Konflikt zu der Zeit ignorierte ich vollkommen. Mir taten es viele türkische Mithäftlinge gleich, aber auch zahlreiche arabische Häftlinge waren vertreten, als wir gesammelt in den siebten Stock gebracht wurden. Da erblickte ich meine Zelle und tippte auf Behlüls Schulter: „Alter, schau. In der Zelle war ich anfangs. Die Beamtin hat gesagt, da war ein RAF Terrorist, der sich erhängt hat oder so. Und jetzt beten wir einfach mit 40-50 Leuten im Flur. Voll krass, gel?“ Ihn schien das wohl nicht sonderlich zu interessieren. Verwunderlich fand ich, dass es Unmengen an Gebetsteppichen gab, die ausgerollt wurden – die JVA Stammheim war ja sowas von tolerant, das hätte ich nie erwartet. Wir setzten uns auf die Teppiche, allerdings auf dem harten, kalten Boden. Beschweren konnte sich keiner, immerhin durften sie alle statt arbeiten zu gehen nun ihrem Glauben nachgehen. Ein Gefühl sagte mir aber, dass der Großteil von ihnen keinen blassen Schimmer vom Islam, der Religion, die sie ihr Eigen nannten, hatte. Dass ich das größte islamische Wissen besaß, machte mir der Imam in den nächsten Minuten mit einer Frage klar. Er war mittlerweile angekommen und fragte in die Menge, ob jemand denn Muezzin machen könnte. Dies ist der Aufruf zum Gebet. Jenes, das aus den Minaretten zu hören ist, und die Pflicht vor jedem Gebet darstellt. Keiner meldete sich, wohl aus dem Grund, weil es keiner konnte. Ich hingegen hatte das schon oft genug gemacht, und ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, doch ich streckte die Hand: „Ich kann das.“ Er nickte und gab mir den Befehl anzufangen. Es war ewig her, dass ich das getan hatte. Etwas aufgeregt war ich schon, doch ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, was während des Aufrufs in mir vor sich geht.

“Allahu Ekber! Allahu Ekber!”