Ich bekam eine Gänsehaut, als ich den Ruf zum Gebet ausstieß.  Mich überkam eine Flut an alten Erinnerungen, wobei ich nicht genau zuordnen konnte, ob diese positiver oder negativer Natur waren. Es war ein mulmiges Gefühl, das in mir eine Art emotionale Zeitreise hin zu meiner Jugend und Kindheit auslöste. In mir breitete sich ein Gefühl aus, welches seit langem nicht mehr so stark ausgeprägt war: das Heimweh. Ich hatte Sehnsucht nach meinem Zuhause, einer mir vertrauten Umgebung, meiner Familie, meinen Bekannten und Verwandten.

Die verschmutzten Duschen, die strengen Beamten und die angegrauten Wände der JVA Stammheim gingen mir gehörig an die Substanz. Es war zu düster hier, und so begann ich doch tatsächlich, die JVA Schwäbisch Hall zu vermissen. Ich wollte mich hier gar nicht einleben, doch allmählich hielt auch bei mir der Alltag Einzug. Morgens Tee, Brötchen und einen Aufstrich (Honig, Nutella oder Butter) verteilen und nach dem Abrücken der Arbeiter die Flure wischen. Der Putztag stand an – und wir mussten mal wieder die Zellen der Mithäftlinge sauber machen. Einer fegte voraus, ein anderer wischte mit dem Wischmopp hinterher. Noch immer hatte ich mich nicht daran gewöhnt, den anderen ihren Dreck hinterherzuwischen – womit einer weiterer Pluspunkt an die JVA in Schwäbisch Hall ging. Mittags gab es dann, wie üblich, die Essensausgabe: Die Arbeiter standen vor ihren bereits offenen Zellen, wir Reiniger gingen mit dem Beamten von Zelle zu Zelle und reichten das jeweilige Essen (Moslemkost, vegetarische Kost oder normale Kost). An dieser Stelle war viel Feinspitzengefühl gefragt. So gab es einen Albaner, die nicht wie erwartungsgemäß die Moslemkost wollte, sondern komplett auf Fleisch verzichtete. „Ich möchte die vegetarische Kost, mein Junge“, meinte der ältere Albaner, als ich ihm die Moslemkost in die Hand drückte. Es musste einfach schnell gehen, für Verzögerungen war keine Zeit. Ich spürte den Druck des Beamten, der am liebsten gleich alle Zellentüren so schnell wie möglich wieder zuschließen wollte. „Du bist doch Türke, du solltest es besser wissen! Das Fleisch, das die hier als Moslemkost ausgeben, ist sicher nicht helal!“, meinte der Albaner, bevor seine Zellentür zugeschlossen wurde. Der Beamte ermahnte mich, dass das Essen nicht für Späße da sei. Dennoch interessierte es ihn nicht, als wir bei David ankamen und dieser zwei Portionen verlangte. Seltsam, dass der Beamte gerade bei ihm wegsah, ein paar Zellen vorausging und so tat, als sei er grade schwer beschäftigt und nicht ansprechbar. Sowohl Hakim und Osman als auch ich gehorchten. Am Ende hofften wir einfach nur, dass irgendjemand kein Essen haben wollte. Meist ging die Rechnung auf – jemand verzichtete auf sein Essen – und im worst case verzichtete einer von uns Reinigern auf sein Essen. Problematisch war es dann nur, wenn David nicht unsere Moslemkost haben wollte, sondern auf die normale Kost bestand, denn wir drei Reiniger hatten alle nur Moslemkost. Beim Abendessen war es nicht anders, obwohl da sogar zwei Beamte dabei waren. Das Abendessen gab es nämlich nach dem Hofgang, wenn alle in ihren Zellen eingeschlossen waren. So ging ein Beamter stets vor und öffnete drei Zellen. Wir Reiniger kamen mit dem zweiten Beamten hinterher, welcher die Zellentür schloss, nachdem wir das Essen ausgehändigt hatten. Bei David war das natürlich wieder mal anders: Der voraus gehende Beamte ging meist fünf Zellen vor statt der üblichen drei, und der Beamte, der eigentlich neben uns bei der Essensausgabe stehen sollte, war seltsamerweise immer in Gespräche mit den Häftlingen der vorhergehenden Zellen verwickelt. So befanden sich die zwei Beamten stets in einem Sicherheitsabstand und konnten wegsehen. Mich als Reiniger beeindruckte dies natürlich, denn dieses Phänomen trat ausnahmslos bei allen Beamten auf – mit David war wohl nicht zu scherzen. Daher gab es für ihn dann auch beim Abendessen gerne mal doppelte Kost.

Neben der Essensausgabe gab es noch andere Aufgaben, wie das Abfüllen von Reinigungsmitteln, also Sanitärmittel und Seife, die dann zwei Mal die Woche, mitsamt der anderen Hygienemitteln, an die Häftlinge übergeben wurde. Wir hatten zudem dutzende Wischmopps, die wir dann in einem Wäschesack runter in die Wäscherei brachten, wo sie gewaschen wurden. Auch die Arbeitsklamotten sammelten wir ein und übergaben frische – hier gab es wenigstens selten Häftlinge, die normale Klamotten brauchten, vor allem keine Unterhosen – die meisten hatten private Klamotten. Es war in Schwäbisch Hall stets eine unangenehme Angelegenheit gewesen, die stinkenden Socken und die ekligen Unterhosen einzusammeln. Nach dem Abendessen durften alle erst einmal duschen und hatten quasi Freizeit. Ich musste stets hoffen, dass David nicht schon wieder etwas in der Küche lagern oder sich bekochen lassen wollte. Auch präventive Maßnahmen hatten nicht geholfen: Jedes Mal, wenn ich den Beamten bat, die Küche doch bei der Freizeit bitte zu schließen, ging er diesem Wunsch nach. Doch ebenso jedes Mal, wenn David in das Büro des Beamten ging, ging er wohl auch seinem Wunsch nach und öffnete die Küche wieder. Doch solange es dem Beamten egal war, dass ich für David in der Küche kochte, war es mir auch schnuppe. Es schien aber nicht allen egal zu sein – der Beamte Herr Groß hatte wohl ein Problem mit David.

Im Grunde genommen änderten sich die Beamten hier kaum. Es gab den Stockwerksbeamten Herrn Leder, der mich als Reiniger eingestellt hatte und der hier der Chef zu sein schien – er war wie Herr Winter aus Schwäbisch Hall für mich. Dann gab es den Herrn Groß, er kam mir vor, wie die rechte Hand von Herrn Leder. Beide waren öfter da und sehr streng. Einen Beamten wie Herrn Nils hatten wir auch in Stammheim: Herr Gleich, der irgendwie fehl am Platze war und die Rolle des gutmütigen Beamten übernahm. Eine hübsche, sportliche und junge Beamtin hatten wir auch des Öfteren – ihr Name war Frau Benz. Wenn sie arbeitete, herrschte eine viel fröhlichere Atmosphäre und sie begegnete jedem Häftling stets mit einem Lächeln, und so erinnerte sie mich stark an Frau Habich aus Schwäbisch Hall, nur mit deutlich weniger Parfüm. Es wunderte mich nicht, als Frau Benz mich einmal ansprach und vor David warnte: „Pass auf, der ist wirklich gefährlich.“

Noch immer wartete ich auf den Brief der Staatsanwältin mit den erlösenden Worten: „Die Ermittlungen gegen Sie wurden fallen gelassen.“ Doch seit Wochen kam nichts. Immerhin hatte sich endlich die Sozialarbeiterin gemeldet. Ich bekam einen Laufzettel und ging in ihr Büro, das sich einige Stockwerke weiter oben befand. Ich setzte mich hin und sie blickte mich in der Art an, wie sie es schon beim erstem Mal getan hatte: Als wäre ich ein minderwertiger Mensch. Auf ihre Frage, was sie denn für mich tun könne, antwortete ich mit Ausführungen meines langen Plans und erzählte, dass ich ab Oktober 2014 studieren wolle. Sie grinste nur überheblich und antwortete: „Herr Ates. So einfach, wie Sie sich das vorstellen, geht das nicht. Bevor Sie überhaupt für einen Freigang in Frage kommen, muss Sie die JVA, in die Sie zur Strafhaft verlegt werden, mindestens sechs Monate beobachten.“ Ich hatte es allmählich satt mit diesen Sozialarbeitern. Da fehlte definitiv ein großes „A“ vor deren Jobtiteln: „Ich war ein Jahr in der U-Haft in Schwäbisch Hall, die haben mich doch erlebt und sicherlich auch etwas notiert? Können die die Unterlagen nicht einfach an die JVA, in der ich zur Strafhaft verlegt werde, weiterleiten? Oder anrufen?“ Natürlich verneinte die Sozialarbeiterin alles und konnte mir keinen Grund nennen, weshalb es so nicht funktionieren sollte. Außerdem machte sie es mir zum Vorwurf, in Revision gegangen zu sein, da sich dies mit meinem Studiums-Vorhaben kreuzen würde. Meine Erläuterungen zu den weiteren Ermittlungen, die gegen mich liefen, zauberten ihr erneut ein auf mich extrem arrogant wirkendes Lächeln ins Gesicht: „Herr Ates, ich würde mal sagen, Sie warten jetzt ab, was passiert. Und wenn Sie in der Strafhaft sind, kontaktieren Sie den Sozialarbeiter dort. Ich kann Ihnen von hier aus nicht weiterhelfen.“ Ich bedankte mich dennoch höflich bei ihr, was mich jedoch nicht davon abhielt, mit einem inneren Tobsuchtsanfall mittlerer Stärke ihr Büro zu verlassen. Schnell verfasste ich einen Brief an meine Anwältin, mit der Bitte mir den Stand der Dinge mitzuteilen. Keine Woche später kam auch schon die ernüchternde Rückmeldung – die Staatsanwältin war noch nicht zu einer Entscheidung gekommen. Mit einer Revision, die durchgehen würde, könnten wir aber sicherlich mehr erreichen. So musste ich darauf hoffen, dass die Revision durchging oder die Staatsanwältin schon im Voraus die Ermittlungen einstellen würde.

Als ich mittags vor lauter Langeweile die Flure fegte, ertönte plötzlich ein lautes Alarmsignal aus einer Zelle, an der ich gerade vorbei fegen wollte. Manchmal befanden sich Häftlinge noch auf ihren Zellen und rückten nicht zur Arbeit an, z.B. wenn sie krank waren. Ich sah, wie der Beamte Herr Leder aus seinem Büro sprintete und die Tür aufschloss. Ich wurde Zeuge eines schockierenden Bildes: Ein Araber lag auf dem Boden und spuckte Blut – es hatte sich bereits eine Blutlache vor ihm gebildet. Sein Wimmern hörte sich an, als hätte er sich verschluckt und könne nicht atmen. „Sofort in die Zelle und abschließen!“, schrie Herr Leder mich an, als ich regungslos dastand. Ich schmiss den Besen auf den Boden, rannte zu den Zellen der beiden anderen Reiniger, stieß sie zu und knallte danach meine eigene Zellentür hinter mir zu – man musste sie nicht nochmals extra abschließen. Nach einer guten Stunde wurden wir wieder heraus gelassen: „Säubern Sie bitte die Zelle und räumen Sie sie aus“, befahl uns Herr Leder. Das Blut in der Zelle des Arabers war immer noch da – uns wollte man nicht erzählen, was passiert war. Am nächsten Tag fragte ich bei dem Beamten Herrn Gleich nach und war mir nicht sicher, ob seine Antwort der Wahrheit entsprach. So fragte ich zur Sicherheit ein weiteres Mal nach: „Er hat wirklich eine Rasierklinge geschluckt?“ Die Antwort von Herrn Gleich fiel kühl aus: „Ja, er wollte wahrscheinlich Aufmerksamkeit oder, dass man ihn nach Asperg verlegt.“ Da ich nicht wusste, was er mit Asperg meinte, erklärte er mir, dass dorthin Häftlinge verlegt wurden, die in einer normalen JVA nicht so einfach ärztlich betreut werden konnten – in Asperg hätte man ganz andere Mittel.

Die Tage vergingen, meine Eltern kamen und erzählten mir von Cem. Er genoss die Freiheit wohl sehr, war stets unterwegs mit unserer Schwester und auch die Bewährungshelferin sei zuversichtlich. Ich hing öfter mit Behlül ab, der häufig von seiner Schwester und seiner Freundin besucht wurde. Er zerbrach sich den Kopf über jede Kleinigkeit, was für mich der Grund für diese seltsame Lücke auf seinem Hinterkopf war: „Äh, Behlül, hast Du die Lücke auf deinem Hinterkopf bemerkt? Da fehlen ja einfach Haare?“, fragte ich und berührte die kahle Stelle. Er war überrascht und fasste sich dorthin: „Ach Du scheiße, wann ist das denn passiert?“ Ich musste lachen und wies meinerseits auf die Bartlücke, die ich schon immer mit mir herumtrug, hin: „Schau, ich habe auch eine Lücke am Bart, einfach so mittendrin.“ Er lachte nun auch: „Ja, das ist mir schon aufgefallen! Versuch mal, Knoblauch auf die Stelle zu reiben. Das soll anscheinend helfen.“ Das hatte ich auch schon mal gehört und probierte es natürlich sofort abends in meiner Zelle aus. Gleichzeitig stellte ich mir vor, wie Behlül nun seinerseits Knoblauch auf die kahle Stelle an seinem Kopf schmierte. Der Tipp schien nichts zu taugen, denn Wochen später wuchs an meiner Lücke noch immer kein Bart. Jedoch war mir das immer noch lieber als Behlüls Schicksal: Die kahle Stelle an seinem Hinterkopf wurde größer und größer. Langsam hatten wir Angst, dass er komplett kahl werden würde. Der Arzt meinte zu Behlül, dass es vom Stress käme. Ich versuchte, ihm zu helfen, indem ich ihm tagtäglich zuhörte und so dafür sorgte, dass er seine Ängste und Nöte mit jemandem teilen konnte. Seine Straftat kannte ich immer noch nicht ganz genau, er offenbarte jedoch von Zeit zu Zeit mehr Details: Das Messer, in welches das Opfer wohl „hineingelaufen“ sei, hatte Behlül nicht einfach so dabei gehabt – nein, im Gegenteil: Behlül war extra zum Auto gerannt, um das Messer zu holen. Ich verurteilte Behlül jedoch nicht dafür. Wir waren hier alle schuldig und hatten gegen das Gesetz gehandelt – es war selten der Fall, dass man jemanden für seine Taten verurteilen konnte, jeder musste sich erst an die eigene Nase fassen. Behlül war nicht der Einzige, der seine Straftat verschönerte, da gab es diesen Bill, der gerade einmal 19 Jahre alt war und auf einen älteren Mann fünf Mal geschossen hatte. Der Mann überlebte, wurde jedoch schwer verletzt. „Er hat meine Schwester vergewaltigt“, erzählte er jedem, wodurch natürlich viele ihm mit Verständnis entgegenkamen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir vorstellte, dass ich selbiges tun würde. Selbstjustiz war keinesfalls eine Lösung und ich wusste, dass niemand das Recht hatte, jemanden zu töten. Jeder hat ein gerechtes Gerichtsverfahren verdient – gerade ich sollte das wissen.

Doch dann kam die Ernüchterung: Wir hatten im Flur einen Tisch, auf dem die Beamten immer die aktuellste Tageszeitung auslegten. Peter hatte die Information zuerst in der Zeitung gelesen und sie machte schnell die Runde: „Der Bill hat den Typen wegen 2,000 EUR erschossen … uns hat er erzählt, dass er es wegen der vergewaltigten Schwester getan hat.“ Wie schnell sich Empathie in Unverständnis wandeln konnte, erlebte ich nun bei mir selbst – wie konnte man jemandem das Leben nehmen wollen, für nur 2,000 EUR? Er bekam die Höchststrafe, die man als Jugendlicher bekommen konnte: 15 Jahre.

In Stammheim schienen so einige wegen schwerer Körperverletzung zu sitzen, so auch Hassan. Er war Türke und hatte jemanden abgestochen – angeblich wegen seiner Freundin. Seine Story kannte ich noch nicht wirklich, doch er wurde sofort Reiniger: Osman wurde entlassen, er hatte wegen Steuerbetruges gesessen und durfte nun auf Bewährung raus. Hassan war ein gut gebauter Junge, doch umso größer seine Muskeln waren, desto kleiner schien das wichtigste Organ bei ihm zu sein: Das Gehirn. Er litt an Diabetes und musste sich stets Insulin spritzen. „Wenn ich unterzuckert bin, dann dreh ich durch – das war auch so, als ich den Jungen abgestochen habe.“ Eine Entschuldigung für seine Taten hatte wohl jeder parat. Doch bei ihm vermutete ich, dass sein Diabetes sogar als strafmildernd eingestuft werden würde – dies würde sich noch zeigen. Mit Hakim verstand sich Hassan gar nicht gut, der eine war sehr ernst, der andere irgendwie verspielt. Ich hoffte, dass Hassan die Sache mit David übernehmen oder gar klären konnte, doch auch er war überrascht von der „Macht“, die David innehatte. Ein weiterer Punkt, der mich hierbei schockte, war Davids Sonnenbrille. Er war der einzige Häftling in der Anstalt, der eine besaß. Und das, obwohl der Besitz einer Sonnenbrille strengstens verboten war. Als ich eines Tages wieder für David kochte, kam Herr Groß zu mir und erwischte mich dabei, wie ich das gekochte Essen an David übergab. Er ermahnte mich. Dann ging er zum Kühlschrank und wollte wissen, wem der Inhalt gehöre. Ich erzählte ihm die Wahrheit. „Es gehört David.“ Alle Reiniger sollten in das Büro und wir wurden allesamt ausgeschimpft. Hassan konnte es natürlich nicht ausstehen, dass er ebenfalls ermahnt wurde: „Emre, Du kochst nicht mehr für den.“ Ich bejahte und teilte dies David so mit. Doch ihm schien meine Meinung herzlich egal zu sein, er ignorierte meine Aussage einfach und verlangte auch weiterhin, dass ich für ihn koche. Völlig verzweifelt besprach ich dies mit Hassan und Behlül, wir wurden langsam ein eingespieltes Trio und verbrachten unsere Freizeit miteinander. „Wir müssen mit einem Beamten sprechen. Am besten mit Herrn Groß, die anderen machen sicher nichts.“ Das war die beste Lösung. Also gingen wir zu Herrn Groß und erzählten, dass wir wegen David unter Druck waren und dass er uns zu den verbotenen Dingen zwang. Wir hofften, dass David aufgrund dessen verlegt werden würde. Herr Groß meinte jedoch, dass er sich das notiert und wir ihm Bescheid geben sollten, wenn das wieder passiert. Wir warteten nicht lange, als es wieder passierte: David kam in die Zelle von Behlül, als wir zu dritt gemeinsam Kekse aßen und wollte, dass ich für ihn koche. „Die Küche ist geschlossen“, erwiderte ich. „Nein, Herr Groß hat sie geöffnet. Und jetzt hopp hopp, ich verhungere.“ Ich lief rot an. Das war doch nicht sein Ernst? Hassan kam mit mir in die Küche und wir waren verunsichert, was Herrn Groß anging: „Wieso macht er die Küche auf, wenn David es verlangt?“ Wir konnten wohl niemandem vertrauen. Die Beamten, die etwas zu sagen hatten, standen unter dem Einfluss von David. Und der Rest sowieso.

Wir waren gerade dabei, das Abendessen auszugeben, als ich in die große Brotbox griff und plötzlich eine Packung Eier sah. Sie war versteckt auf dem Boden der Brotbox. Schnell klopfte ich auf die Schulter von Hassan und erzählte ihm davon, während ein Beamter, den ich zuvor nie gesehen hatte, vorausging und die Zellentüren aufschloss. Diesmal war er alleine: „Hassan, wir müssen das dem sagen. Ich wette, das ist von David. Wenn das rohe Eier sind, sind wir geliefert. Dann sind wir den Job als Reiniger los.“ Hassan zögerte keine Sekunde: „Ja, auf jeden Fall.“ Wir hatten das komplette Essen verteilt und waren gerade dabei, den Abendessenswagen aufzuräumen, als Hassan in das Büro des Beamten ging. Hakim war zum Glück in seiner Zelle. Wir verteilten immer nur zu zweit das Abendessen, heute waren Hassan und ich dran. Ich war mir sicher, dass Hakim uns sonst verpfeifen würde. Hassan kam mit dem Beamten und wir zeigten ihm die Eier. Er war erstaunt. Ich bat ihm, niemandem zu sagen, dass wir ihm das mitgeteilt haben. „Wir wussten auch nichts davon“, meinte Hassan. Der Beamte sah sich die große Packung an: „Das sind doch sicherlich Eier, die für die Essensausgabe gedacht sind. Wieso habt ihr die nicht ausgegeben?“ Wir blickten einander an: „Ähm, die waren da versteckt. Ich glaube, das sind rohe Eier“, teilte ich ihm mit. Er hob beide Augenbrauen: „Rohe Eier?“ Er nahm ein Ei und legte es vor sich auf den Tisch, woraufhin er es anstupste, sodass es sich drehte.

Es hörte nicht mehr auf.