Es konnte seitens der JVA nicht nachgewiesen werden, dass die Eier für David waren – wahrscheinlich haben die Beamten es nicht einmal versucht. Jedenfalls wurde jemand aus der Küche entlassen. Der Entlassene hatte wohl keine Namen genannt – wieso sonst sollte David noch im Arbeiterstockwerk sein? Er kam auch auf uns Reiniger direkt zu: „Was habt ihr mit den Eiern gemacht?“ Immerhin beschuldigte er uns nicht sofort: „Der Beamte hat herausgefunden, dass rohe Eier in der Brotbox im Kühlschrank waren – wir wussten nichts davon. Du hattest uns nichts gesagt.“ Diese Lüge hatten Hassen und ich auch Hakim aufgetischt. David schaute Hakim vorwurfsvoll an: „Ich habe dir doch gesagt, dass Eier kommen?“ Hakim ging in die Defensive und meinte, dass er nicht gewusst habe, dass es gestern soweit gewesen war. Dass wir beide, Hassan und ich, das Abendessen ausgegeben hatten und er sich in seiner Zelle befunden hatte. David war zwar sauer, aber wie es schien, hatte er auch Verständnis – zumindest gab es von seiner Seite aus keine weiteren Konsequenzen. Währenddessen waren Hassan und ich erstaunt, dass Hakim davon Bescheid gewusst und wohl extra gestern das Abendessen nicht ausgegeben hatte: „Der ist doch sicherlich nicht umsonst die ganze Zeit in der Zelle geblieben, er wusste, dass die Eier von David draußen warten“, waren meine Worte an Hassan.

Die Tage vergingen, und Hakim wurde mehr zum Außenseiter bei uns Reinigern. Hassan und ich arbeiteten immer mehr gemeinsam. Als wir einmal die Flure wischten, erzählte er mir seine komplette Geschichte: „Ich befand mich in einer Bar mit meiner Freundin. Da kam so ein betrunkener Mann in die Bar rein, schrie rum und plötzlich wandte er sich uns zu. Er hat meine Freundin angemacht, obwohl ich dabei war. Ich habe ihn darauf hingewiesen, sich zu verpissen. Dann hat er meine Freundin als Hure beschimpft. Da bin ich durchgedreht, aber die haben mich zurückgehalten. Dann haben die den Betrunkenen aus der Bar geschmissen. Aber ich war richtig sauer, bin dann hinterher, nach draußen. Und da stand er. Ich habe dann 10 Mal in seinen Rücken gestochen.“ Ich bekam daraufhin auch seine Akten. Was er erzählt hatte, schien zu stimmen. Außerdem hatten sie auch bei der Verhaftung Blutproben von ihm genommen und konnten sehen, dass sein Blutzuckerspiegel nicht normal war. Das Messer war auch sehr klein gewesen, das betrunkene Opfer schwebte zu keiner Zeit in Lebensgefahr – doch die Schmerzen müssen entsetzlich gewesen sein.

Bei Behlül hatte die ganze Sache anders ausgesehen: er hatte mit einem 30 cm langem scharfen Messer zugestochen. Das Opfer hat diesen Stich wohl zunächst nicht bemerkt. Erst, als das Opfer daheim angekommen war, spürte es die Verletzung. Es lag wohl daran, dass das Adrenalin nachließ und das Blut herausspritzte, er wäre verblutet, hätte er es nicht rechtzeitig zum Arzt geschafft. Mittlerweile hatte auch Behlül mir seine Akten gezeigt, da nun seine Anklageschrift eingetroffen war und mir wurde da klar, dass er sich mithilfe seiner Erzählungen in ein besseres Licht gerückt hatte. In Wahrheit trug sich seine Tat laut der Anklage wie folgt zu: Behlül befand sich mit Freunden in einer Bar und war betrunken, allerdings nicht zu stark. Als seine Freunde und er die Bar verließen, war da eine Gruppe Deutscher. Einer der Deutschen hatte wohl einen von Behlüls Freunden provoziert. Dieser habe sich angegriffen gefühlt und sei sofort handgreiflich geworden. Dabei seien auch Fäuste ausgetauscht worden. Während Behlüls Freunde sich schlägerten, sei er zum Auto gerannt, wohlwissend, dass sich ein Messer darin befand und ist damit zurückgekommen. Obwohl bei seiner Rückkehr die Schlägerei bereits vorbei gewesen war, habe Behlül mit dem Messer in seiner Hand einen der Deutschen bedroht: „Komm doch her, wenn Du Eier hast!“ Der Deutsche sei daraufhin wutentbrannt auf ihn zugerannt. Beide seien gefallen. Laut Behlül sei das Opfer auf das Messer gefallen, er habe dies aber zu dem Zeitpunkt nicht gewusst. Das Opfer habe zu dem Zeitpunkt auch nichts gespürt. Erst, als es heimgekehrt war, spürte es einen starken Schmerz und merkte, dass es verletzt worden war. Die Polizei sei am nächsten Tag zu Behlüls Wohnung und fand dort das blutige Messer. Behlül habe nicht gemerkt, dass das Messer voller Blut gewesen sei. Ein Arzt analyisierte jedoch, dass das Messer eindeutig reingerammt worden sei und dies nicht bei einem Fall zustande gekommen sein könne.

Beide fanden ihre Tat weniger schlimm als die des anderen. Behlül bestand darauf, dass sein Strafmaß unangemessen hoch ausgefallen war und Hassan auf alle Fälle eine höhere Strafe als er verdient hätte. Hassan jedoch berief sich auf seinen anormalen Blutzuckerspiegel und, dass er nicht ganz bei Sinnen gewesen war, sich aufgrund dessen nicht kontrollieren habe können. Es vergingen Wochen, und ich hörte mir ihr beständiges Gemecker an, welches verstärkt auftrat, als beide ihre Urteile erhielten. Behlül bekam, so wie ich, 3 Jahre 9 Monate auf Freiheisstrafe. Hassan kam überraschenderweise mit 3 Jahren davon. Ich ärgerte mich sehr über Belühls Gemecker. Er realisierte nicht, dass er beinahe einen Menschen getötet hätte.

Ich brauchte etwas Abwechslung und freundete mich mit Peter mehr an. Mit ihm unterhielt ich mich gut, was wohl nicht zuletzt auch daran lag, dass er Student war. Mit Peter besprach ich mein Vorhaben, im Oktober 2014 ein Studium aufzunehmen, wobei er mir Mut zusprach. Auch erzählte er davon, dass er schon ein paar Mal gehört hatte, dass man vom Freigang aus studieren könne. Mit dem Beamten Herr Gleich verstand sich Peter auch ziemlich gut, wodurch ich auch den guten Kontakt zu Herrn Gleich aufbauen und pflegen konnte. Herr Gleich übergab mir auf meinen Wunsch hin eine Liste von Hochschulen in Baden-Württemberg, an denen ich mich bewerben konnte. Die Bewerbungsphase stand noch aus, aber so konnte ich schon mal Überlegungen anstellen. Herr Gleich meinte zudem, dass laut Vollzugsplan eine Verlegung zur JVA Ravensburg für mich wahrscheinlich sei, sobald mein Urteil rechtskräftig werden würde. Von der JVA Ravensburg hatte ich nur Gutes gehört – sie sollte geradezu einem Hotel nahekommen. Bei einem der regelmäßigen Besuche meiner Anwältin, bestätigte mir diese auch, dass es wohl auf die JVA Ravensburg hinauslaufen würde. „Sie sehen sehr schlecht aus, die JVA Stammheim tut ihnen gar nicht gut“, meinte sie erneut. „Ich faste, Ramadan hat angefangen. Eventuell liegt es daran.“ Ich wusste nicht wirklich, warum ich das tat. Eventuell war es nur Gewohnheit, schließlich hatte ich die letzten 15 Jahre stets den Ramadan über komplett gefastet. Außerdem hatten die Freitagsgebete wieder alte Erinnerungen aus der Moschee-Zeit heraufbeschworen – und obwohl ich mich in einem inneren Konflikt bezüglich meines Glaubens befand, bevorzugte ich es erstmal, den muslimischen Pflichten nachzugehen. Nachdem ich gut 10 Tage gefastet hatte, hatte ich es aber dann auch satt. Einfach so, ohne wirklichen Auslöser, entschied ich mich dazu, nicht mehr zu fasten. Zuvor kam sonntags der Hoca, um uns eine Predigt zu halten und war fasziniert, dass ich der einzige war, der fastete. Er hielt tiefsinnige Gespräche mit mir und merkte sofort, dass ich eine islamische Erziehung und Bildung „genossen“ hatte. Umso peinlicher war es, als der Hoca einmal fragte, ob ich noch fasten würde. Ich erwiderte, ohne zu zögern, ein klares „Ja“ und lief rot an, als ich seinen enttäuschten Blick wahrnahm: in meinem Mund war noch ein Bonbon. Diese Situation wiederum enttäuschte mich selbst. Ich fragte mich, warum ich nicht ehrlich und offen zugeben konnte, dass ich nicht mehr fastete. Es fiel mir schwer, den Hoca zu enttäuschen, und genau da lag das Problem. Ich wollte nie mein Umfeld enttäuschen, mein Glauben basierte hauptsächlich darauf, mit ebendiesem zu „prahlen“ und somit in der muslimischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Ich glaube, dass ohne den gesellschaftlichen Druck, jeder seine Religion ganz anders ausleben oder es sogar ganz sein lassen würde.

Die Religion ist meiner Ansicht nach geprägt von Intoleranz. Allein der Glaube, dass alle andersgläubigen Menschen in die Hölle kommen, bringt diese Intoleranz schon zum Ausdruck. Fundamentalistische religiöse Ansichten waren in meinen Augen nicht mit Toleranz vereinbar. Vielleicht irrte ich mich – und doch wurde ich von Hakim vor Peter gewarnt: „Wieso hängst Du eigentlich mit dem ab? Der ist doch schwul? Bist Du auch schwul?“ Ich hatte nie ein besonderes Problem mit Homosexuellen gehabt. Dennoch verspürte ich eine Art unwohles Gefühl und dachte so etwas wie: „Solange sie sich von mir fernhalten, ist mir das egal.“ In der Haft würde es sicherlich nicht gut ankommen, wenn ich mit einem Homosexuellen abhing. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass Peter homosexuell war. Ich konnte mir zwar nicht einmal vorstellen, was einen Homosexuellen überhaupt ausmachte, doch war ich mir sicher, dass Peter einfach nur ein netter, gepflegter Junge war und deshalb als homosexuell abgestempelt wurde. Ich erwischte mich immer öfter bei diesen ganzen Gedanken und musst es einfach wissen.

Im Hofgang drehte ich wieder ein paar Runden mit Peter und fragte ihn direkt: „Sag mal Peter, bist Du schwul?“, woraufhin er mich sehr verwirrt ansah. So einen schnellen Themenwechsel hatte er wohl nicht erwartet: „Wie kommst Du darauf?“ – „Der Hakim hat mir das gesagt. Ich habe kein Problem damit. Nur würde ich das gerne wissen. Ja, oder nein?“ Ich verspürte beim Stellen dieser direkten Frage keine Scham und hoffte auf eine klare Antwort: „Dazu sag ich jetzt mal nichts“, meinte er nur. Ich hingegen war erleichtert: „Ah, das heißt für mich ‚nein’.“ Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass er diese Frage nicht beantwortete, weil es ihm zu dumm war, auf eine Frage mit einer derart offensichtlichen Antwort zu antworten. Doch dann war ich überrascht, als er mich im Gegenzug selbiges fragte: „Bist Du denn schwul?“ Ich lief rot an: „Was? Nein alter, nein man. Ich bin nicht schwul.“ Die Frage löste in mir ein Gefühl der Wut aus. Wie konnte er sich erdreisten, mich so etwas zu fragen? Ich hatte ihn zwar auch gefragt, aber meine Frage war berechtigt, ich war schließlich darauf hingewiesen worden – solcherart waren meine Gedanken zu dem Zeitpunkt. „Ich meine ja nur, ich habe echt nichts gegen Schwule, aber wenn ich mit einem abhängen würde, dann wäre es schon scheiße, wenn die anderen Häftlinge das mitbekommen.“ Ich konnte meine eigenen Worte wohl nicht hören. Schon allein der Satz „Ich habe nichts dagegen, ABER“, war schon ein Zeichen von Intoleranz. Auch die Erleichterung, dass er nicht schwul ist, oder ich das zumindest glauben wollte, sagte genug über mich aus. Nach dem Hofgang ging ich sofort zu Hakim und stellte ihn zur Rede, weshalb er so ein Gerücht über Peter verbreiten wollte. Er gab sich überrascht und meinte, dass Peter wirklich homosexuell sei. „Was zur Hölle?“, mir wollte das Thema einfach keine Ruhe geben, „ich frag den heut Abend nochmal.“ So schloss ich das Gespräch mit Hakim, als er die ganze Zeit darauf bestand, nicht gelogen zu haben.

In der Freizeit begab ich mich wieder in die Zelle von Peter. Er war allein, der perfekte Zeitpunkt, um erneut zu fragen: „Man Peter, der Hakim behauptet schon wieder, dass Du schwul bist.“ Peter war natürlich genervt und rief den Hakim in seine Zelle: „Hakim, wieso sagst Du, dass ich schwul bin?“ Hakim, der wieder in die Defensive ging, sah mich an: „Aber ich habe das nur Emre gesagt, weil der mit Dir abhängt.“ Ich war sauer und fing wieder an, zu schimpfen: „Du kannst doch nicht einfach Lügen über Peter erzählen und sagen, dass er schwul ist!“ Plötzlich unterbrach Peter mein Streitgespräch mit Hakim, als dieser gerade antworten wollte: „Warte, warte. Ich habe nie gesagt, dass ich nicht schwul bin.“ Ich war baff und blickte zu Peter: „Äh, wie jetzt? Jetzt bist Du doch schwul?“ Hakim war erleichtert: „Guck, ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass Peter schwul ist.“ Peter wurde wohl sauer, dass Hakim sich so schadenfroh gab und erwiderte sehr aufgebracht: „OK, Hakim, Du wolltest es so! Und zwar, der Hakim ist auch schwul!“ Ein erneuter Schock für mich, mein schockierter Blick wechselte von Peter zu Hakim und wieder zurück. Mir fiel plötzlich ein, wie wir an Wochenenden immer Umschluss hatten. Ich ging mit Behlül und Hassan stets zusammen in eine Zelle. Hakim hingegen war immer bei Peter in der Zelle. Hakim schien zudem die Behauptung von Peter nicht zu dementieren.

„Alter, was macht ihr beim Umschluss?“