Enttäuscht vom Gespräch mit der Sozialarbeiterin widmete ich mich wieder meinem Job als Reiniger. In den kommenden Tagen fiel meine Stimmung in den Keller. In meiner deprimierenden Situation hatte ich einfach keine Kraft mehr zu kämpfen. Seit dem Beginn meiner Haftzeit begegnete ich einer Hürde nach der anderen. Entweder war ich in Freiheit zu verwöhnt gewesen, und es war einfach der Häftling-Status, dass nichts mehr so wirklich funktionieren wollte. Oder ich hatte einfach eine große Pechsträhne, die nicht mehr enden wollte. Dass es Hierarchien bei Häftlingen gab, war mir schon anfangs klar geworden. Doch gab es da noch die Beamten und die Stockwerksleiter, die mit den drei silbernen Sternen, die Sozialarbeiter, die Psychologen und der Anstaltsleiter, den ich nie zu Gesicht bekam. Ja, auch unter den Beamten gab es durchaus Hierarchien. Wir Häftlinge waren dabei ganz unten in der Nahrungskette – und das Schlimmste daran war, dass sich das draußen nicht ändern würde. Mir schwirrten unangenehme Gedanken durch den Kopf: Welchen Status würde ich nach meiner Entlassung innehaben? Wäre ich der Ex-Häftling, der Betrüger, der schlechte Sohn, der Abschaum der Gesellschaft – würde mich jemals jemand akzeptieren, abgesehen von meiner Familie? Was wäre mit denjenigen, die mich seit meiner Kindheit kennen – von meinen „Freunden“ hatte ich bis dato noch immer nichts gehört. Ein paar Tage später kam meine Mutter wieder zu Besuch und bestärkte mich in meinen Sorgen. Sie begann zu erzählen:

„Cem hat nach der Haft eine Weile gebraucht, um sich wieder einzuleben. Deine Zwillingsschwester hat viel Zeit mit ihm verbracht, ist mit ihm shoppen gegangen, auf Events und dergleichen. Cem hat sich dann mit einem türkischen Jungen angefreundet, ein ganz netter Junge – seine Familie war auch sehr nett. Letztes Wochenende waren wir zu einer türkischen Hochzeit eingeladen. Bei dem ganzen Getümmel haben deine Zwillingsschwester und ich den Freund von Cem gesehen, welcher in Gesellschaft seiner Eltern war. Auf Aufforderung der Mutter haben wir Platz am Tisch genommen. Wir haben uns sehr nett mit der Mutter unterhalten und über unsere Söhne geredet. Wir beide fanden es gut, dass unsere Söhne sich gut verstanden. Deine Zwillingsschwester und ich waren dann kurz auf der Toilette. Als wir zurückkamen, begegneten wir abweisend dreinblickenden Gesichtern. Da meinte die Mutter des Freundes von Cem doch tatsächlich: „Bitte setzt euch wo anders hin. Und sage deinem Sohn, er soll sich fern von meinem Sohn halten.“ Dieser unerklärliche Wandel ließ uns schlecht fühlen, doch wir taten wie gebeten. Später erfuhren wir dann etwas, was uns entsetzte. Unsere türkische Nachbarin, die wir stets besuchten, zu der wir einen guten Kontakt pflegten, die euch seit eurem fünften Lebensjahr kennt und liebt … sie hatte die Mutter vor Cem gewarnt.“ Ich war geschockt und konnte es kaum glauben. Die Nachbarin, von der meiner Mutter sprach, war immer sehr nett, zuvorkommend und hilfsbereit uns gegenüber gewesen. Wir besuchten sie öfter – auch als Kinder waren wir oft zu religiösen Festen bei ihr und ihrer Familie. Nein, wir waren nicht nur Nachbarn, sondern befreundete Familien. Sie wussten so gut wie alles über uns: „Ich verstehe das nicht. Das kann doch nicht sein. Wieso hat sie so etwas getan? Und wie genau? Das habe ich jetzt nicht verstanden, Mama.“ Ihrem Gesicht konnte ich die Trauer entnehmen, sie war erneut enttäuscht worden von einem Menschen – diesmal nicht von ihren Söhnen – aber von ihrer guten Freundin, Nachbarin, die sie seit gut zwei Jahrzehnten kannte. Menschen waren und sind eben doch unberechenbar: „Sie hat uns auf der Hochzeit mit der Mutter des Freundes von Cem sitzen sehen. Während unserer Abwesenheit, also als wir auf Toilette waren, ist sie wohl sofort zur Mutter und hätte gemeint, dass Cem ein sehr schlechter Junge sei, dass er erst kürzlich aus der Haft rausgekommen sei und er sicherlich einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn hätte.“ Ich spürte weder blanken Hass noch aufschäumende Wut. Lediglich eine große Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hatte immer sehr viel von unserer Nachbarin gehalten, sie war für mich stets der Engel in Person gewesen, nie hätte ich von ihr so etwas erwartet. Ich war nicht nur enttäuscht von ihr, irgendwie war ich enttäuscht von der Menschheit, enttäuscht von mir. Muss ein Mensch erst selbst zum Häftling werden, um Häftlinge zu tolerieren, solange sie denn versuchten, sich zu resozialisieren? Muss ein Mensch erst selbst homosexuell werden, um Homosexuelle zu akzeptieren? Muss ein Mensch erst Abstand zu seiner Religion bekommen, ehe er andere Ansichten akzeptierte? War ich denn nicht auch so gewesen? Für mich waren Häftlinge doch auch Abschaum der Gesellschaft gewesen, Homosexuelle irgendwie seltsam und nicht normal. Atheisten, Christen, Juden und alle Andersgläubigen hatte ich bereits in der Hölle schmoren gesehen. Doch war ich nun anders? Ja, zum Teil – würde ich sagen. Wer weiß denn schon, was ich noch bewusst oder unbewusst nicht tolerierte, nicht akzeptierte, nicht verstand, von dem ich nichts wissen wollte – ich nahm mir vor, in Zukunft vermehrt darauf zu achten.

Meiner Mutter erzählte ich noch von Comburg. Mittlerweile hatte ich mich da etwas schlau gemacht: „Bevor ich in den Freigang darf, muss ich erst nach Comburg. Das ist ein Bauernhof, wo ich dann wohl vier bis fünf Monate verbringen muss. Ab dem Zeitpunkt steigert sich mein Freigang progressiv: so, wie ich das verstanden habe, darf ich dann quasi tagsüber raus und an der frischen Luft arbeiten. Nach sechs Wochen kann ich für fünf Stunden in die Stadt, das wäre der erste Ausgang. Der zweite Ausgang findet zwei Wochen später statt, wobei ich erneut 5 Stunden in die Stadt raus dürfte. In der zehnten Woche darf ich dann zwölf Stunden raus und sogar nach Hause. In der zwölften Woche wieder zwölf Stunden nach Hause. In der 14. Woche dann sogar eine Übernachtung daheim, d.h. für ca. 40 Stunden raus. Und dann, erst drei Wochen später, also in der 17. Woche, darf ich zwei Übernachtungen daheim verbringen. Und dann ist es soweit und ich bin Freigänger. Wenn, darf ich wohl erst im Oktober in den halb-offenen Vollzug und wäre quasi so im Januar, Februar fertig. Ich könnte dann zum Sommersemester im März mit dem Studium beginnen. Aber es ist nicht sicher, ob ich in den halb-offenen Vollzug darf, weil ja noch das Abschiebungsverfahren gegen mich läuft. Bevor da keine Entscheidung gefallen ist, würden die mich wohl nirgends hinschicken. Aber mal schauen, was das Ausländeramt antwortet – ich hatte da bezüglich der Doppelstaatsbürgerschaft angefragt.“ Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, nahm die zwei Milka-Schokoladen mit, die sie mir stets zu jedem Besuch am Snackautomaten rauslassen durfte und vernaschte diese sofort in meiner Zelle. Langsam aber sicher hatte ich eine Schokoladen-Sucht entwickelt. Jedes Mal, wenn ich gestresst war oder mich besser fühlen wollte, griff ich zu etwas Süßem – und dies war zurzeit so gut wie jeden Tag der Fall.

Die heißen Tage waren kaum auszuhalten, die Sonne prallte mit ihrer vollen Wucht direkt in die Zellen. Gesegnet waren jene, die sich einen Ventilator leisten konnten – oder eben wir Reiniger. Bei uns Reinigern war die Tür stets offen, somit hatten wir immer einen Durchzug im Zimmer oder wir flüchteten uns in den schattigen Flur. Nur wenige gaben Geld für einen Ventilator aus. Ca. 30 EUR kostete der Spaß, für das Geld konnte man sich locker eine Dose und zwei Beutel Tabak kaufen. Ohnehin hatte man in der Regel nur ca. 110 EUR monatlich zur Verfügung. In der Strafhaft durfte man auch kein Geld mehr von außerhalb bekommen. Dies war in der U-Haft anders, da durfte man zum „Lohn“ noch monatlich bis zu 180 EUR von der Familie überwiesen bekommen. Hinzu kam noch, dass die Preise beim Einkauf völlig überteuert waren. Die Supermarktkette Edeka war wohl der Lieferant, zumindest war die günstige Variante eines Produkts stets von der hauseigenen Marke. Da kam es mir gerade Recht, als mir ein Job beim „Einkauf“ angeboten wurde. Gashi, der Reiniger, wurde entlassen – ich hatte mittlerweile seinen Posten übernommen und endlich wieder eine Einzelzelle. „Herr Gashi hat im Einkauf gearbeitet, möchten Sie seinen Posten übernehmen?“, fragte mich ein Mann in „Zivil“, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich bejahte. Die Aufgabe schien einfach: Ein LKW kommt mit mehreren Kästen voller Einkäufe, jeder Kasten hat eine Nummer. Nachdem der LKW von uns entladen wurde, müssen wir uns in einem sogenannten „Ausgabebereich“ einfinden. Nach und nach kommen die Häftlinge mit ihren Einkaufszetteln, auf denen eben die Nummern vermerkt sind, die sich auch auf den Kästen befinden. Wir geben den Kasten mit dem jeweiligen Einkauf aus, der Häftling kontrolliert anhand seines Einkaufszettels, ob alles geliefert wurde und geht. In einigen Fällen fehlte sogar etwas oder es wurde ein falscher Artikel geliefert, doch eine Einigung gab es immer: Entweder in Form einer Gutschrift oder eines Ersatzartikels, der in der Regel einen höheren Wert als den des bestellten Artikels besaß. Neben der üblichen Bezahlung gab es sogar noch einen Beutel Kaffee von dem Lieferanten geschenkt. Das sparte mir einiges an Geld, für Kaffee gab ich immer um die 7 EUR aus – der Einkauf fand alle zwei Wochen statt, somit bekam ich monatlich Kaffee im Wert von 14 EUR. Bei einem Lohn von 110 EUR machte das erheblich was aus, somit konnte ich mir mehr Schokolade kaufen, welche ich ohnehin gerne zum Kaffee vernaschte.

Über die unangenehme Seite des Jobs hatte mich allerdings noch keiner aufgeklärt. Ein junger Beamte kam beim ersten Mal auf mich zu: „Herr Ates, Sie kommen mit mir mit.“ Mit einem beladenen Hubwagen, auf den dutzende Kästen gestapelt waren, folgte ich ihm gehorsam. Während wir durch die verschiedenen Stockwerke gingen, setzte ich stets einen Kasten in der zugehörigen Zelle ab. Wenn ein Häftling beim Arzt, einer Verhandlung, arbeiten oder sonst irgendwie verhindert war, musste ich den Einkauf in die Zelle bringen. Anfangs nervte es mich noch, doch schnell fand ich Gefallen daran – nämlich dann, als wir uns im Stockwerk befanden, in dem ich meine U-Haft verbracht hatte: „Ach, wie die Zeit verfliegt“, dachte ich mir und wurde von Herrn Nils überrascht: „Herr Ates, Sie sind noch da?“ Er wusste wohl nicht, ob er froh oder traurig darüber sein sollte, mich zu sehen. Ich klärte ihn über meine aktuelle Situation auf und dann kam er doch tatsächlich wieder mit dem Spruch, den er zur Anfangszeit meiner U-Haft gemacht hatte: „Haha, diese Weihnachten bist Du also auch noch da.“ Ich musste schmunzeln: „Nein, nein. Ich hoffe, da bin ich auf Comburg.“ Er wünschte mir viel Glück und rief sogar die anderen Reiniger, damit sie mir beim Abladen der Einkäufe in die Zellen halfen. Als dann nur noch ein Hubwagen voller Einkäufe übrig war und wir vor einem Bereich standen, der mir bisher unbekannt geblieben war, blickte mich der Beamte ernst an. Ich ahnte schon, was kommen würde: „Herr Ates, ist es in Ordnung für Sie, wenn sie mitkommen? Das geht ganz schnell, es sind nicht so viele Zellen dort.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch wollte ich sicher gehen: „Das ist die Schutzhaft, oder?“ Er nickte und holte den Aufzug.

Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Das erste Mal würde ich die Nachbarn kennen lernen.