Der Flur sah ganz normal aus, und die Zellen waren identisch zu unseren – mit einer Ausnahme: Es gab nur Vier-Mann-Zellen in der Schutzhaft. Mir wurde es untersagt, auf die Namensschilder zu schauen. Ich sollte die Kisten mit den Einkäufen schnell in die Zellen legen und dann wieder herauskommen. Auch, wenn es nur gut zwei Dutzend Zellen waren (verteilt auf zwei Stockwerke) und ich von Zelle zu Zelle sprang, kam mir die Ausgabe der Einkäufe wie eine halbe Ewigkeit vor. Und auch, wenn der Beamte mich dabei ertappte und ermahnte, wenn ich doch einen Blick auf die Namensschilder wagte, hörte ich damit nicht auf – zumal ich mir nicht sicher war, ob er mich überhaupt hierher mitnehmen durfte. Ich wusste zwar nicht, ob sich die JVA die Mühe gemacht hatte, die Namen die Schutzhäftlinge zu anonymisieren und erdachte Namensschilder an die Zellen anzubringen, doch eins war klar: Der Großteil der Namen klang ausländisch. Dabei waren überraschend wenig russische Namen dabei – überraschend vor allem deswegen, weil in der JVA Schwäbisch Hall vermehrt Russen inhaftiert waren. Ich erkannte vornehmlich osteuropäische Namen, aber auch einige türkische und arabische. Deutsche Namen waren kaum vertreten, was wiederum den prozentualen Anteil in der restlichen JVA widerspiegelte: Auch in der Strafhaft waren deutsche Häftlinge in der Minderheit. In der U-Haft hatte ich noch gedacht, der geringe Anteil an deutschen Mithäftlingen würde daran liegen, dass die „Fluchtgefahr“ bei diesen nicht so ausgeprägt sei. Doch allmählich dämmerte mir, dass Ausländer eine höhere kriminelle Energie aufwiesen – so die Ergebnisse meiner Beobachtungen.

Ich hatte eine eigene Statistik dazu elaboriert: als Grundmenge dienten die Häftlinge, die ich in der JVA Schwäbisch Hall und JVA Stammheim gesehen hatte. Man sagt ja, „Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Da ich mir in diesem Falle die Statistik selbst zurechtgedacht hatte, war ich mir ihrer also ziemlich sicher. Viele wunderten sich, weshalb ich kriminell geworden war – ich würde dem Stereotypen eines Kriminellen gar nicht entsprechen. Derart waren auch meine Gedanken: Man betrachtet sein Gegenüber und denkt sich – wobei das Urteil rein auf den äußerlichen Attributionen basiert – : „Was für ein lieber Junge, der kann doch keinem was zu Leide tun“, oder eben das Gegenteil: „Der hat doch bestimmt Dreck am Stecken“. Wir Menschen denken einfach noch viel zu sehr in Kategorien, viel zu sehr in schwarz-weiß. Dies war eine der wichtigsten Erkenntnisse während der Haft, die ich auch im Nachhinein noch oft feststelle. Auch ich denke in diesen Kategorien. Ein dichter und schwarzer Bart, nach hinten gegelte Haare, eine große und nicht zu übersehende Muskelkraft, gepaart mit einem legeren Jogginghosen-Look, lassen bei mir automatisch sämtliche Alarmglocken läuten. Theoretisch könnte man eine Software entwickeln, in die man das Foto einer Person einspeisen und nur damit herausbekommen kann, wie wahrscheinlich es ist, dass der Mensch auf dem Bild kriminell ist. Dies würde dank der vorherrschenden Stereotypen mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit sogar funktionieren. Ich denke, ich lehne mich zudem nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass die Polizei doch auch ein gewisses Beuteschema hat. So ertappte ich mich einmal während meiner Arbeit als Reiniger in dem Schutzhaft-trakt dabei, wie ich einen mir gegenüberstehenden Häftling besonders musterte. Er sah ganz nett aus, wirkte echt sympathisch auf mich und machte keinen gefährlichen Eindruck. Er grüßte mich sogar mit einer gewissen Herzlichkeit. In meinem Gehirn fing es aber plötzlich an zu rattern: Was ist, wenn dieser Mensch jemanden vergewaltigt hat? Was ist, wenn dieser Jemand ein Kind war? Mir war es, im Gegensatz zu meinen Häftlingskollegen, ziemlich egal, ob er ein Verräter, also ein 31er war. Es interessierte mich ebenso wenig, ob er einfach nur irgendeinen Blödsinn in der normalen Strafanstalt gemacht hatte und zu seinem eigenen Schutz in die Schutzhaft verlegt worden war. Sogar, ob er gemordet hatte, interessierte mich irgendwie auch nicht, denn die Mörder waren nicht pauschal in der Schutzhaft: Allein bei mir auf dem Stockwerk gab es zwei Mörder. Mit einem hatte ich sogar gesprochen. Er hatte bereits 7 Jahre seiner Gesamtstrafe abgesessen. Mit 19 Jahren hatte er einen Mord begangen und sich erhofft, vorzeitig zur zwei-Drittel-Strafe entlassen zu werden. Dies war abgelehnt worden, er muss also noch weitere fünf Jahre sitzen, bis er die zwölf Jahre voll hat. Nein, die einzige mich schockierende Straftat wäre das Vergehen an einem Kind. Stets musste ich dabei an meine kleine Schwester denken. Natürlich erfuhr ich nicht, was er getan hatte.

Die Zeit verging, der Sommer kam und die Tage wurden immer heißer. Uns Reinigern ging es blendend. Ich hatte es geschafft, dass die zwei Albaner meine Reiniger-Kollegen wurden, als die anderen beiden entlassen wurden. Es arbeitete sich einfach viel angenehmer, wenn man Kollegen hatte, mit denen man sich gut verstand. Es fragte mich sogar mal einer, ob ich aus dem Kosovo käme oder gar aus Albanien. Er war überrascht, als ich ihm mitteilte, dass ich aus der Türkei stamme. Auch hier zeigte sich mir sehr deutlich das stereotypisierte Urteil aufgrund des Äußeren. Mit der Sozialarbeiterin stand ich noch in Kontakt. Es war wohl etwas bezüglich meines offenen Vollzugs in Gange, doch es stand immer noch die Frage nach der Abschiebung im Raum. Laut meiner Anwältin würde der Prozess meiner Abschiebung vom Regierungspräsidium überprüft werden – sie kämpfe jedoch hart dafür, dass ich bleiben dürfe. Für mich war es ein absoluter Witz, dass diese Abschiebung nun wirklich real werden könnte. Um die Zeit zu vertreiben, hielt ich Ausschau nach Freizeitbeschäftigungen – zum Sport ging ich ohnehin bereits, so oft es ging. Ein „Türkischer Integrationskurs“ sollte Mitte September starten und im wöchentlichen Rhythmus laufen. Solch ein Kurs wurde damals schon während der U-Haft angeboten, allerdings war der „Hoca“ nach einiger Zeit gegangen – aus welchen Gründen auch immer. „Hoca“ ist das türkische Wort für Lehrer, meist wird es jedoch mit einem Imam assoziiert bzw. mit einem Lehrbeauftragen einer Moschee. Die moderne Bezeichnung für „Lehrer“ auf türkisch lautet eher „Öğretmen“. Genau aus diesem Grunde bezeichneten meine Kollegen und ich den kommenden Lehrer/Veranstalter als „Hoca“, denn wir gingen von ein, vielleicht zwei religiösen Predigten pro „Kurs“ aus. Und um ehrlich zu sein, hatte ich nach langer Abstinenz wieder Lust auf den religiösen Diskurs bekommen. Irgendwie hatten die Verse aus dem Koran eine beruhigende Wirkung auf mich. Entweder, so überlegte ich, hatten sie wirklich etwas „Göttliches“ an sich, oder es lag einfach daran, dass sie mich an meine Zeit in der Moschee und somit an meine „unschuldigen Jugend“ erinnerten, als alles noch augenscheinlich besser gewesen war. Überraschenderweise war die Anzahl der Anmeldungen gar nicht so hoch, was wohl auch an der ebenfalls überraschend geringen Anzahl an türkischen Häftlingen in der Strafhaft lag.

Es war auch schon eine Weile her, dass ich Gewalt in der Haft begegnet war und diese schöne Zeit des Friedens musste gerade von einem, im heutigen Jargon gern als „Lauch“ bezeichneten, drahtigen und recht schwächlich wirkenden Hänfling gebrochen werden. Als ich gerade während des Hofgangs mit den Albanern Tischtennis spielte und mich nicht mal schlecht dabei anstellte, hörte ich ein lautes Kreischen. Ein dünner, kleiner und junger Mann fuchtelte mit dem Zeigefinger herum und zeigte auf einen ebenfalls kleinen, aber gut gebauten, bärtigen Kurden. Dieser, ich nenne ihn jetzt mal weiterhin einen Lauch, war wohl lebensmüde oder wusste nicht, mit wem er sich da anlegte. Der Kurde war zwar nett und freundlich.  So wurde er auch nicht müde, immer wieder seine Unschuld zu betonen, hatte er doch knapp sechs Jahre wegen versuchten Totschlags bekommen. Doch dann traute ich meinen Augen kaum: Obwohl der Kurde ganz cool und gelassen auf die Provokationen des Jungen reagierte, und nur beiläufig irgendwelche herablassenden Aussagen von sich gab, rannte der Lauch auf ihn zu. Ich meine, mitangesehen zu haben, dass der vor Wut rasende schmächtige Junge dem Kurden erfolgreich einen Schlag auf das Gesicht verpasste, bevor dieser sich daran machte, aus einem Lauch Hackfleisch zuzubereiten. Es ging alles so schnell, ich begriff gar nicht, wann und wie der Alarm losgegangen war, wie schnell und woher die dutzend Vollzugsbeamten kamen und wann sie die beiden kleinen Streithähne auseinander rissen. Schmunzeln musste ich, als der Lauch-Junge weiterhin große Töne spuckte und wild herumfuchtelte. Eins ist gewiss: Der hatte Eier.

Etwas hinterhältiger war ein Häftling, mit dem wohl auch nicht zu scherzen war. Sein Opfer war ein Türke, jener, den ich bereits aus Stammheim kannte. Doch dieser Türke war verrückt, nicht bei Sinnen meines Erachtens nach, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm jemand eine Lehre erteilen würde – da war ich mir sicher. Doch hätte ich niemals erwartet, dass es so schmerzhaft sein würde. Eines Tages legte er sich mit dem Falschen an. So kam es, dass einmal kurz vor dem Hofgang alle Zellentüren geöffnet waren. Die Häftlinge verließen dann nämlich ihre Zellen, begaben sich in den Flur und warteten, bis die einzige Tür zum Hofgang aufging, um dann als gesammelte Mannschaft in den Hof zu marschieren. Einige Häftlinge jedoch bevorzugten es, in ihren Zellen zu warten, vom Fenster aus in den Hof zu schauen und irgendwelchen Tagträumen nachzuhängen, bis das „Go“ zum Hofgang kam. So war es wohl auch an diesem Tage, als der Türke verträumt aus dem Fenster schaute und plötzlich mehrere Stiche an seinem Rücken spürte – mit einem selbstgebauten Messer aus Zahnbürste und Rasierklinge (Häftlinge werden mitunter sehr kreativ, was solche Konstruktionen angeht). Der Alarm ging los, die Beamten steckten uns alle in unsere Zellen und der Sanitäter war auch im Nu da. Augenscheinlich wusste niemand, wer der Täter gewesen war – nun ja, zumindest keiner der Vollzugsbeamten. Auch nach Befragungen der Häftlinge kamen sie nicht zu einem Verdächtigen, man wollte ja schließlich weder irgendwelche „Gerüchte“ streuen und sich (den nach so einer Aktion todsicheren) Ärger einfangen, noch wollte man ein Verräter (31er) sein und sich in die Schutzhaft verlegen lassen. Den nieder gestochenen Türken sah ich danach nicht mehr. Er wurde wohl nicht in die Schutzhaft, sondern in eine völlig andere JVA verlegt, vielleicht auch in ein Krankenhaus.

Ein Russe jedoch wurde in die Schutzhaft verlegt. Mit ihm hatte ich  zuvor eine kurze Unterhaltung unter der Dusche gehabt, bei der es hauptsächlich um mein Bäuchlein und sein dazu kontrastierendes Sixpack ging: „Du musst einfach jeden Tag mehrmals deinen Bauch anspannen, dann kommt das Sixpack von selbst. Das ist gutes Training“, meinte er. Jedoch hatte ihm das Sixpack wohl nicht viel gebracht, als er eines nachts von seinem, wohlgemerkt ebenfalls russischen, Zellenkollegen aus dem Schlaf gerissen worden war. Sein Zellenkollege hatte das Fernseh-Stromkabel genommen (an dieser Stelle sei nochmals die Kreativität der Häftlinge in solchen Belangen besonders betont) und es ihm um den Hals gebunden, wohl um ihn zu erwürgen oder um ihm – zumindest für einige Sekunden – die Luft zu rauben. Der Täter bekam besondere Sicherheitsmaßnahmen, also kein Fernseher, Einzelhofgang sowie keine Freizeit, schien jedoch damit kein Problem zu haben. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich das Tatmotiv erfuhr: Der russische Häftling mit dem Sixpack hat wohl zu oft und zu laut geschnarcht.

Es war wohl wieder an der Zeit, dass jeder mindestens einmal austicken musste und so hoffte ich jedes Mal einfach nur, dass sich die Aggressionen nicht gegen mich richteten. Ich brauchte dringend etwas, was mich motivierte und mich aus dieser schlechten Stimmungslage rausholte. Denn die letzten Wochen hatte ich nur damit verbracht, mich über alles und jeden zu beschweren und zu lästern. Ich entwickelte einen Hass gegenüber dem viel gepriesenen Vaterstaat, gegenüber der Justiz und gegenüber der JVA im Besonderen. Und doch liebte ich Deutschland, ich wollte unbedingt hierbleiben. Die Justiz war im Grunde ja auch in Ordnung, alles war geregelt und ging fast immer seinen geordneten Gang. Und die JVA selbst? Man, ich mochte die meisten Beamten total, sie gingen auch nur ihrem Job nach. In mir gedieh eine Hassliebe vom Feinsten.

Als ich dann endlich den lang ersehnten Brief vom Landratsamt in den Händen hielt, hoffte ich so sehr auf einen Wendepunkt. Der Brief enthielt die Antwort auf meine Frage, ob ich die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen dürfte – wozu ich hinzufügen muss, dass mir die deutsche allein völlig ausgereicht hätte. Mit dieser wäre die Abschiebung kein Thema mehr, und ich könnte in den lange von mir herbeigesehnten offenen Vollzug. Meine Hände zitterten, als ich den Brief öffnete.

Ich begann zu lesen.