„Holzhacken“ verstand ich seit jeher als den Inbegriff von reiner Männlichkeit: Eine schweißtreibende Arbeit, bei der Mann viel Muskelkraft bedarf, und Schweißtropfen, die von der Stirn abwärts ihren Weg durch den Männerbart suchen, um schließlich zischend auf dem verarbeiteten Gut zu landen.

Wahrscheinlich wurde diese Vorstellung von der Erscheinung Luigis noch weiter beeinflusst. Er hatte ein rotes, kariertes Hemd an, und sein Gesicht wurde von einem typisch orientalisch-langen Bart geziert. Meine Erwartungen wurden zu meinem persönlichen Glück nicht getroffen. Ganz im Gegenteil: wir waren vier Männer, und die Arbeit bestand darin, dass abwechselnd zwei von uns kleine Holzstämme auf einen Hubwagen legten, der dritte im Bunde den Wagen zu einer großen Holzhackmaschine fuhr und der letzte musste das Holz nur noch auf die Maschine stellen, um diese dann zu bedienen. Obwohl ich anfangs noch froh um die (im Vergleich zu meiner romantisierten Vorstellung) leichte Tätigkeit war, merkte ich doch so manches Mal, dass die Kälte mir zu schaffen machte, und auch das regelmäßige Anheben von Holzstämmen mit der Zeit doch einem Kraftakt glich.

Dies war wohl auch der Grund dafür, weshalb wir alle 30 Minuten eine lange Pause einlegten. Im Grunde genommen bestand unser Ziel darin, so viel Holz zu hacken, dass es nach einer großen Menge aussah, ohne uns dabei allzu sehr anzustrengen. Immer, wenn wir im Betonhaus saßen, lauschten die drei anderen auf Traktor-Geräusche. Diese deuteten darauf hin, dass der Beamte kam, um die Lage bei uns abzuchecken. Wir rannten dann immer schnell hinaus, begaben uns in Arbeitsstellung und schmissen die Maschine an. Meist dauerte der Besuch keine fünf Minuten.

Der Tag zog sich sehr in die Länge, das Holz hacken und die Gespräche über Geld, Drogen, Straftaten und irgendwelche „Was-wäre-wenn“-Träume waren keine sonderlich abendfüllenden Zeittotschläger. Wir saßen alle am Tisch, Luigi hatte heißes Wasser aufgesetzt und Tarik verteilte bereits die Pokerkarten. Ich hatte es mir selbst in der langweiligen Haftzeit einfach nicht zur Gewohnheit machen können, Kartenspiele als Beschäftigung anzusehen. Für mich war das eher eine Qual, und meist machte ich nur mit, damit ich nicht als Außenseiter dastand. Doch kaum hatte ich meine Karten in die Hand genommen, spürte ich plötzlich etwas Warmes und Hartes. Es umschlängelte förmlich mein unteres Bein und ich schreckte – wohl sehr laut – auf. Die anderen drei lachten mich aus, während ich fast die Bank, auf der Tarik und ich saßen, umgekippt hätte. „Was ist mit dir los, Junge?!“, rief Luigi, der, einerseits belustigt, andererseits wohl sehr erstaunt über mein schreckhaftes Verhalten, mich ziemlich perplex anschaute. Als ich auf den Boden blickte, sah ich einen schwarzen Kater, der seinerseits ziemlich süß zurückblickte und zu schnurren begann. „Alter, das ist ja eine Katze!“, rief ich, um meine schreckhafte Reaktion zu rechtfertigen. Zugegebenermaßen war ich nie jemand gewesen, der jemals Haustiere besitzen wollte. Schon von klein auf wurde mir in der Moschee beigebracht, dass Tiere nun mal Tiere sind und wir Menschen uns von diesen triebgesteuerten Wesen unterscheiden (sprich: fernhalten) müssen. Es wurde dabei nicht zwischen Zucht – und Haustieren unterschieden, wobei das Schwein natürlich eine ganz besondere Stellung innehatte. Unser Moscheelehrer bzw. Hoca erklärte uns oft genug, dass in einer Wohnung, in der Haustiere lebten, nicht gebetet werden könne. Die Erklärung lag darin, dass Tiere schmutzig seien, dass überall ihre Haare rumliegen würden und natürlich, dass sie ihr Geschäft überall in der Wohnung verrichteten. Für mich klang das damals logisch, immerhin mussten wir unsere Körper gründlich waschen, bevor wir beten durften – da durfte es nicht an irgendwelchen Katzenhaaren scheitern, dass Gott das Gebet nicht erhören würde. Außerdem hatte ich nicht selten in der Türkei streunende Hunde und Katzen gesehen, denen Ohre, Schwänze und Beine fehlten. Dies beeinflusste mein negatives Bild über diese Tiere natürlich noch weiter. Dabei verkannte ich völlig die Tatsache, dass die wahren „wilden“ Tiere eigentlich wir Menschen waren. Ich fragte einst meinen Cousin in der Türkei: „Hey, wieso haben die meisten Katzen hier nur ein Auge?“ Er war wohl verwundert, dass ich die Antwort nicht kannte: „Die ganzen kleinen Kinder hier haben nichts zu tun und ihnen ist langweilig. Die schnappen sich dann diese Tiere und verunstalten sie. Oft bewerfen sie sie auch einfach mit Steinen.“ Ich war damals durchaus baff, doch wurde mir das so locker rübergebracht, dass ich es nach einer gewissen Zeit als normal ansah.

Und nun, einige Jahre später, stand diese Katze vor mir und miaute so niedlich, dass mir bewusstwurde, dass meine bisherige Blindheit nicht nur mein Leben umfasste, nein, ich hatte auch die Lebewesen dieser Welt bisher nicht wahrgenommen. Ich war so fixiert darauf gewesen, dass der Mensch das höchste, wertvollste Lebewesen auf der Welt ist und Gott sich nur um uns schert, dass ich die Vielfalt um mich herum nie wahrgenommen hatte. Ich bückte mich zum Kater und streichelte ihn zögerlich, weil es sich zunächst seltsam anfühlte. Dieses sanfte Fell, die weichen Knochen und das Knurren – es fühlte sich wie eine phänomenale, neue Erfahrung an. Ich hatte zwar bisher Katzen gestreichelt, doch nie hatte ich sie dabei als wertvolles Lebewesen angesehen. Seltsam, wie sich so ein Gefühl durch eine Erfahrung schlagartig ändern konnte. Die anderen bekamen von meinen Gedanken nichts mit, und so führten wir unser Kartenspiel fort und begannen mit den Spekulationen über das heutige Mittagessen: „Ey, wenn es wieder nur Grießbrei zum Mittagessen gibt, dreh ich durch“, beschwerte sich Hassan. Er erzählte davon, wie er sich einen saftigen Burger bei seinem letzten Ausgang gegönnt hatte. Ich war so neidisch darauf, dass er schon seinen Ausgang hatte – der Burger war mir egal – ich wollte einfach nur im Freien spazieren dürfen, wohin und wann ich will. Doch musste ich mich wohl noch einige Zeit gedulden. Aus dem Raum nebenan kam erneut ein Miauen und die Jungs standen alle auf. Ich folgte ihnen nach draußen und sah, wie die Katze eine Maus gefangen hatte: „Alter krass, die hat ja `ne Maus gefangen und der die Kehle durchgebrochen.“ Den Jungs kam ich wohl total weltfremd vor, sie lachten erneut. „Digger, die Katze will auch zu Mittag essen, nur spielt sie erst damit. Die lässt es uns immer wissen, wenn sie einen Fang gemacht hat. Die will jetzt bestimmt, dass Du sie lobst und ihr dabei zuschaust, wie sie die Maus verschlingt.“ Ich merkte, dass die Jungs schon eine Weile hier waren, so hatten sie bereits das Verhalten der Katze studiert. Und tatsächlich, die Katze knabberte erst ein wenig am Schädel der Maus herum, und schluckte dann plötzlich den ganzen Körper auf einmal hinunter. Das sah zwar ziemlich unappetitlich aus, doch verdarb es meinen Appetit auf das Mittagessen nicht – dafür hatte ich mich heute – seit sehr langer Zeit – zu sehr körperlich verausgabt.

Gemütlich schlenderten wir den Hügel hinunter, an der Weide und den Kühen vorbei zum Bauernhof, und wurden mit dem hier üblichen Mistgestank begrüßt. Einer klopfte an die Tür und Herr Kuhn öffnete. Er zeigte mit dem Finger auf mich: „Kommen Sie mit.“ Ich folgte ihm ins Büro, welches direkt am Eingang war, und er drückte mir einen Brief in die Hand. Der Absender war die Hochschule Ravensburg. Ich hatte mich während meiner Zeit in der JVA Stammheim für einen Studienplatz beworben und eine Zusage bekommen. Anders als erwartet, war ich jedoch nicht in das Freigängerheim in Ravensburg verlegt worden, sondern nach Schwäbisch Hall, wo ich erfahren hatte, dass ich erst im Februar/März in den richtigen Freigang könne. Dies hatte mich dazu veranlasst, der Hochschule Ravensburg meine Umstände mitzuteilen wobei ich darum bat, mir gleich zu Beginn ein Urlaubssemester zu genehmigen. Auch hatte ich zugegeben, dass ich in meiner Bewerbung nicht gekennzeichnet hatte, dass ich vorbestraft war. Dementsprechend hoch war meine Aufregung nun, denn die Antwort auf all dies stand in dem Brief, den ich nun in Händen hielt. Trotzdem legte ich den Brief erst einmal ungeöffnet in mein Zimmer, denn so kurz vor dem Mittagessen wollte ich keine schlechten Nachrichten erhalten. Danach schlenderte ich zum Mittagessen – es gab glücklicherweise keinen Grießbrei, doch das hatte ich bereits vermutet. Denn das Essen wiederholte sich immer in einem gewissen Rhythmus, so gab es Grießbrei nur samstags und nur alle zwei Wochen als vollwertiges Mittagessen. Zum Glück war ich bereits mit meiner Mahlzeit fertig, als die ersten „Stall-Häftlinge“ aus ihrem Schönheitsschlaf aufgewacht waren und sich langsam aber sicher zum Esstisch begaben. Sie rochen stark nach Mist, der Gestank war kaum zu ertragen. Morgens von 06:00 Uhr bis 08:00 Uhr waren sie im Stall tätig und zogen es danach keineswegs in Betracht, duschen zu gehen. In gewisser Weise verständlich, denn um 16:00 Uhr mussten sie erneut ausrücken und bis 18:00 Uhr im Stall arbeiten.

Tarik rief mich mit in seine Zelle bzw. in sein Zimmer, wo ich auch Luigi und Hassan antraf. Sie hatten heißes Wasser gekocht und setzen sich Kaffee auf. Der Zahl der Tassen nach zu urteilen gab es auch eine Tasse für mich. Ich setzte mich dazu und ohne weiteres Zögern sprach Tarik mich an: „Du Emre, willst du heute in meine Zelle einziehen? Bald sollen wohl neue Häftlinge kommen und ich habe echt keine Lust, dass jemand bei mir einzieht, den ich nicht kenne. Du scheinst ganz cool zu sein.“ Genauso schnell, wie er mich mit dieser Frage konfrontiert hatte, bekam er auch eine Antwort von mir: „Ja klar, gerne.“ Ich hatte mir das bereits einige Male durch den Kopf gehen lassen. Tarik war sehr lustig und sympathisch, außerdem war er die Hygiene betreffend meinem aktuellen Zellengenossen ziemlich überlegen. Seine Zelle roch frisch, es war sauber und auch war alles schön ordentlich sortiert. Wir begaben uns gleich zu Herrn Kuhn und verkündeten ihm unseren Wunsch. Nach Feierabend könne ich meinen Umzug vollziehen, antwortete er.

Der restliche Arbeitstag verlief lustig, ich fühlte mich akzeptiert und wahrgenommen. Meine Geschichte lieferte viel Gesprächsstoff und auch sonst teilten die Jungs mehr intime bzw. private Themen mit mir. Luigi beispielsweise versuchte sich im Rap-Business durchzukämpfen und wollte mir die Tage ein paar seiner Songs zeigen – er hatte eine Xbox-Spielekonsole in seiner Zelle. Ich war rundum zufrieden mit meiner aktuellen Situation, war aber gespannt, was mich noch in Zukunft hier erwartete. So konnte ich keine Minute verbringen, ohne einen Gedanken an den Brief von der Hochschule Ravensburg zu verschwenden. Als dann der Feierabend endlich da war, packte ich meine Sachen und richtete mich bei Tarik ein. Den restlichen Abend sprang ich von Zelle zu Zelle und plauderte ein wenig mit den anderen Häftlingen. Zu guter Letzt begab ich mich wieder in meine Zelle und stand vor einer geschlossenen Tür. Sie war von innen verriegelt worden. Ich war etwas verwundert, als dann plötzlich Tariks Stimme hinter der Tür ertönte: „Wer ist da?“ Ich nannte meinen Namen und die Tür öffnete sich. Ich begab mich mit fragenden Blicken rein und Tarik schloss die Tür hinter mir wieder zu. Er legte sich wieder auf sein Bett und packte ein Handy aus seiner Hosentasche raus und begann, hinein zu sprechen. Ich war baff, dass er ein Handy besaß – denn das war im halb-offenen Vollzug immer noch nicht erlaubt. Zwar war es sehr einfach, etwas einzuschmuggeln, doch basierte hier vieles auf gegenseitigem Vertrauen, und so konnte man sehr schnell wieder zurück in die geschlossene Anstalt verlegt werden. Das würde auch Tarik blühen, sollte das Handy jemals vor die Augen des Beamten kommen. Ich bereute es bereits jetzt, dass ich hier eingezogen war, denn Stress wollte ich hier auf keinen Fall riskieren. Dennoch hörte sich das Gespräch interessant an. Tarik schien mit einer Frau zu sprechen, womöglich seine Freundin. Doch mir fiel auf, dass er ihr gegenüber einen sehr respektlosen Umgangston pflegte. So verlangte er Geld von ihr – sehr hohe Summen. Ich könnte schwören, dass ich einen Betrag von 10.000 Euro gehört hatte. Außerdem sprach er von irgendwelchen Tattoos, die diese Dame auf ihrem Körper zu haben schien, aber auch von irgendwelchen Männern, die sich gefälligst verziehen sollten.

Während Tarik telefonierte, lag ich auf meinem Bett und hatte den Brief der Hochschule Ravensburg in den Händen. Ich wünschte mir nichts so sehr, wie ein Studium zu beginnen, endlich wieder was Neues und Interessantes zu lernen – ich hatte so große Sehnsucht nach einem Studentenleben wie nie zuvor. Seit meiner Haft hatte ich viele Hürden, viele Konflikte und Probleme durchgemacht, aber stets hatte ich dagegengehalten. Vor meiner Haftzeit hatte ich gänzlich andere Hürden, Konflikte und Probleme zu meistern gehabt, war aber stets zu schwach gewesen und war den einfacheren Weg gegangen. Ich wollte mich in Zukunft ändern, die Haft als große Entwicklungsphase sehen und das Beste daraus ziehen. Doch alle meine Zukunftspläne, alle meine Visionen und Träume bauten auf diesem Studium auf – und in dem Brief, welchen ich in den Händen hielt, stand die Antwort auf die Frage, ob ich diesem Ziel schon ein großes Stück näher war, oder ob ich weiterkämpfen musste. Denn eines hatte ich hier sicherlich gelernt: „Es gibt nichts geschenkt im Leben“ war eines jener Sprichwörter gewesen, die sich bisweilen in ganz besonderem Maße durch mein Leben gezogen hatten.

Tarik hatte mittlerweile das Telefonat zu Ende geführt und ich blickte ihn fragend an: „Was ist los?“ Er grinste: „Ach nichts, die dumme Kuh hat einfach das ganze Geld ausgegeben.“ Ich blickte ihn wieder verdutzt an: „10.000 EUR?“ Er ging aus der Zelle und erwähnte ganz beiläufig, dass man im Bordell halt so viel verdient.

In dieser einen Nacht wollte ich noch etwas von dem Studentenleben träumen und legte den Brief aus Ravensburg beiseite. Stattdessen grübelte ich über das eben geführte Telefonat von Tarik.

War er etwa ein Zuhälter?