Wir waren gerade beim Mittagessen, da bemerkte Tarik, wie der Beamte einen Zettel an die Wand pinnte. Rasch legte er sein Besteck zur Seite, sprang auf und eilte zur Pinnwand. Voller Interesse beobachtete ich ihn dabei, wie er etwas auf den Zettel schrieb. Er riss den Zettel von der Wand ab und verschwand aus meinem Sichtfeld, indem er sich in Richtung Beamten-Büro begab. Luigi und Hassan schienen von der Szene unberührt, beide schlürften an ihrer Suppe und sahen sich ein Musikvideo vom Rapper „Haftbefehl“ an – „Lasst die Affen aus dem Zoo“, plärrte es aus dem Fernseher. Tarik kam zurück, sein Blick stur auf mich geheftet, und er begann zu reden, wobei ich zunächst nichts verstand: „Sorry Emre, konnte dich nicht für das Schwimmen eintragen. Du musst erst deinen ersten Ausgang absolviert haben, bevor Du mitdarfst.“  Die anderen beiden bedankten sich bei Tarik – offensichtlich dafür, dass er sie in die Teilnehmerliste eingetragen hatte. „Wie jetzt? Darf man hier zum Schwimmen gehen, oder worum handelt es sich jetzt genau?“ Tarik merkte wohl erst jetzt, dass ich zuvor noch nichts davon gehört hatte: „Ja, der Pfarrer nimmt alle zwei bis drei Wochen vier Häftlinge mit zum Schwimmen. In das Hallenbad hier in Schwäbisch Hall.“ Ich war überrascht und fand es spontan extrem sympathisch vom Pfarrer, dass er uns solch eine Möglichkeit bot. Wie ich später erfuhr, übernahm der Pfarrer wohl auch die Kosten für das Hallenbad – so hieß es zumindest unter den Häftlingen. Leider war ich diesmal nicht dabei. So hoffte ich, dass ich beim nächsten Mal mitdürfte. Die Teilnehmerliste war beschränkt, doch mit den drei Jungs hatte ich gute Karten, dass wir vier das nächste Mal in der Teilnehmerliste stehen würden. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass sie irgendwie das Sagen hier hatten und die anderen Mithäftlinge davon „überzeugen“ konnten, sich nicht für das Schwimmen einzutragen. Was auch immer das bedeutete. Immerhin hatten sie auch die einfachsten Jobs inne (mich inklusive) und keiner musste im dreckigen Stall arbeiten. Nichtsdestotrotz blieben wir nur Häftlinge, und auch wenn es eine Art Hierarchie unter uns Häftlingen gab – so waren die Beamten ganz oben in der Nahrungskette. Daher überraschte es mich nicht, als wir eines Tages eine vergleichsweise unangenehme Aufgabe bekamen. 

Unser Quartett musste in den Stall, genauer in das Dachgeschoss, und das ganze gelagerte Heu runter schippen. Ausgestattet mit einem Mundschutz und einem Satz Heugabeln standen wir vor einem riesen Berg an Heu, welches sich über zahlreiche Balken erstreckte und teilweise sogar dafür sorgte, dass wir darauf ausrutschten. So wie ich das verstanden hatte, gab es stets einen Stallarbeiter, der sich auf das Dachgeschoss begab, Heu über eine Luke nach unten beförderte, wonach die restlichen Stall-Arbeiter im Erdgeschoss das Heu entsprechend verteilen mussten. Unsere Aufgabe war es nun, das ganze Heu leichter zugänglich an den Stall-Arbeiter zu machen, der auf dem Dachgeschoss nicht mehr so leicht an das frische Heu rankam. Hierfür mussten wir aus einem riesen Heu-Haufen kleinere Portionen abschippen und zu ihm werfen. Plötzlich kam mir der Gedanke, was für Ungeziefer sich hier im Stall wohl herumtrieb. Ich hatte große Angst vor Spinnen, so hoffte ich, dass sich nicht aus heiterem Himmel eine große Spinne auf meinen Kopf abseilte. Auch wusste ich nicht, was sich sonst so unter dem Heu versteckte – Schlangen, Ratten? Das einzige, was ich jedoch bei etwas Umherwühlen fand, war eine Flasche Vodka. „Boah Jungs, schaut mal, was ich gefunden habe!“ Ehe ich mich’s versah, stand Luigi mit trockener Miene vor mir und nahm mir die Flasche weg: „Ich verstecke das wieder, das gehört uns.“ Und schon widmeten wir uns wieder dem Heu-Aufgabeln.

Es war ein kleiner Kraftakt, etwas Heu mit der Heugabel aus dem großen Heuberg zu entfernen. Doch das Schlimmste daran war der dabei entstehende Heustaub in der Luft. Obschon unser Mund grob geschützt war, so traf es doch unsere Augen und erzeugte Rötungen im Auge. Auch war es sehr unangenehm, ständig durch die Mundmaske zu atmen, da der Speichel beim Ausatmen darin langsam aber stetig kondensierte. Entsprechend legten wir viele kleinere Pausen ein. In einer dieser Pausen stattete ich unseren Mithäftlingen einen Besuch ab, da sie gerade Schicht hatten. Obwohl ich die Arbeit oben im Dachgeschoss gar nicht leiden konnte, so war es doch um Längen besser als das, was ich hier unten sah. Da wurde die Scheiße von Kühen geschaufelt und in Schubkarren gepackt, mit seltsamen Geräten Milch aus den Kühen gemolken, während die Kühe sich damit abwechselten, ihren Urin umher zu spritzen. Überall lag Mist, und so war es nicht unwahrscheinlich, dass hier ab und zu wohl ein Stallarbeiter über der Scheiße abrutschte und in hohem Bogen darin landete. In den kommenden Tagen durften wir wieder an unsere „angenehme“ Arbeit, in unserem warmen Kämmerchen, begleitet von Rap-Musik und sich wiederholenden Unterhaltungen. Die Jungs hatten zwischenzeitlich ihre ersten Ausgänge, Luigi und Hassan sogar ihren zweiten. 

„Emre, ich habe Dir Haarwax mitgebracht“, überraschte mich Luigi eines Tages nach der Rückkehr von einem solchen Ausgang. Wie jetzt? Haarwax wofür?“, fragte ich verdutzt. Luigi setzte einen entsetzten Blick auf: „Junge man, mach mal was aus Dir. Du siehst aus wie ein Bauer! Du hast doch voll die Haarpracht, mit Haarwax kannst Du das richtig gut stylen.“

„Ja man“, stimmten Tarik und Hassan mit ein. Im Strafvollzug hatten bereits andere Häftlinge versucht, meinen Style zu ändern, und zugegebenermaßen war ich zuvor relativ resistent dagegen gewesen. Zwar hatte ich mir Haarwax in der Vollzugsanstalt gekauft, und trug es in sehr sparsamen Mengen auch auf – jedoch ausschließlich vor einem Besuch, und niemals im Alltag. Ich bedanke mich bei Luigi, dass er überhaupt an mich gedacht hatte, und so ließ ich es zu, dass Tarik meine Haare an den Seiten abrasierte und Luigi mir zeigte, wie ich mein neues Stylingprodukt zukünftig verwenden sollte. Am Ende sah ich aus wie ein richtiger Kanake, einen Undercut-Schnitt tragend und oberhalb meines Haarschopfes längere und extrem „geleckt“ aussehende Haare, die einmal von vorn nach hinten gelegt worden waren. Es war etwas ungewohnt, ich sah wirklich anders aus – ob besser oder nicht, sei mal dahingestellt. Doch irgendwie war mir das egal, denn es hatte einen Grund, weshalb ich den Versuch gewagt hatte, mich umstylen zu lassen. Es war Samstag, wahrscheinlich einer der wichtigsten Samstage in meinem Leben. 

Meine Familie würde jeden Moment da sein. Die Nacht zuvor konnte ich kein Auge zudrücken, dennoch fühlte ich mich hellwach. Und da ertönte bereits mein Nachname: „Ateeees! Runterkommen!“ Ich wurde ganz hibbelig: „Oh shit, sie sind da. Oh shit, passt alles?“ Ich sah nochmals in den Spiegel und versuchte, meine Frisur zu stabilisieren. Tarik und Luigi lachten: „Mach Dir keine Sorgen Emre, du siehst gut aus. Jetzt hadi los, deine fünf Stunden haben bestimmt schon angefangen.“ Ein Schauern überkam mich, ich konnte es nicht fassen, dass ich bis hierher gekommen war … endlich, meine erstes Mal erneut in Freiheit, satte 300 Minuten. Ich sprang förmlich die Treppen runter und trabte zum Beamten, unterschrieb noch einen Wisch, nahm einen Zettel mit, in dem stand, dass ich im Ausgang war und wer kontaktiert werden sollte, falls irgendetwas passierte. Herr Kuhn, der Beamte, öffnete die Haustür und ein heftiger Windstoß blies mir entgegen. Vor mir stand sie, meine Familie. Alle hatten ein breites Grinsen auf dem Gesicht, der Anblick war wunderschön – nie hatte ich alle auf einmal so glücklich gesehen, das Bild hätte ich gerne fotografiert und eingerahmt. So stand sie also da, die Freiheit, in Begleitung meiner Familie. Zuerst umarmte mich meine kleine Schwester fest an der Hüfte, schnell zog ich sie in meine Arme und umschloss sie in einer herzlichen Umarmung. Ich küsste sie überall und genoss die Zuneigung, die sie mir ganz in kindlicher Manier ungeniert zeigte. Als nächstes umarmte ich meine Mutter, die ihre Freudentränen kaum zurückhalten konnte und mich fest umarmte, dabei dennoch versuchte, mich nicht zu erdrücken. Die Umarmung war eine Mischung aus zärtlich und stark, ich empfand sie als extrem haltgebend. Sie küsste mich auf die Wangen und flüsterte immer wieder: „Oğlum benim…(Mein Sohn)“. Meine Zwillingsschwester gab sich wie die jüngere Version meiner Mutter, auch sie konnte ihre Freudentränen nicht unterdrücken und umarmte mich fest – sie allerdings erdrückte mich förmlich. Mein Vater stand etwas weiter hinten und wartete, bis ich die anderen begrüßt hatte. Ich ging auf ihn zu, „Selamün Aleyküm Baba“, nahm seine Hand, küsste sie und hielt sie kurz an meine Stirn. „Aleyküm Selam“, antwortete er knapp. Dann wanderte mein Blick zu meinem Bruder Cem. Eins hatten und haben wir bis heute gemeinsam: Unseren Humor. Er konnte mich stets zum Lachen bringen und wir verstanden uns in der Regel gut. So musste ich unweigerlich lachen, als ich ihn sah, und steckte ihn an: „Was geht Bro?“, fragte er lachend, wir klatschten die Hände und umarmten uns kurz. Die Umarmung durfte nicht zu lang sein, aber auch nicht zu kurz. Schnell riss er einen Witz, an den ich mich leider nicht mehr erinnern konnte. Doch gelacht hatte ich tatsächlich, entweder wirklich, weil es witzig war, oder weil ich einfach nur froh war, die Freiheit kosten zu dürfen. Wir liefen zum Auto und unterhielten uns während der Fahrt ein wenig. Schnell bemerkte ich, dass es eine wahre Herausforderung darstellte, allen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Lange Erzählungen sowie kurze Mitteilungen prasselten von allen Seiten auf mich ein. So hakte ich kurz ein, denn auch ich hatte etwas mitzuteilen: „Ich darf nicht außerhalb von Schwäbisch Hall sein, also wir müssen in der Stadt bleiben“, teilte ich meinem Vater noch mit, als er wissen wollte, wo wir denn hinmöchten. So begaben wir uns in die Stadt und parkten in der Nähe des Zentrums. 

Ich atmete pure Emotionen aus, als ich zur Autotür griff und sie langsam öffnete, um erneut den Moment zu genießen, der mir die größte Freude bereitete: Der frische kalte Wind, der mir das Gefühl gab, lebendig zu sein und die Freiheit mit jedem Atemzug förmlich in mich einzusaugen. Obwohl es nur etwas ganz Simples war, so fand ich das Gefühl überragend, als ich mit meinen Schuhen auf den Boden stapfte und die Aussicht auf Schwäbisch Hall genoss. Es fühlte sich nach meiner privaten Mondlandung an, am liebsten hätte ich meine Flagge gehisst. Meine kleine Schwester nahm meine Hand und gemeinsam mit meiner Familie schlenderte ich den Hügel runter – es muss ein schöner Anblick gewesen, wie wir alle strahlend gen Stadt liefen. „Oh wow!“, entfuhr es mir, als mein Blick auf das Schaufenster einer Konfiserie fiel. Meine Mutter war die erste, die meine Begeisterung erkannte: „Oğlum, möchtest Du etwas Süßes aus der Konditorei haben?“ Mein Gesicht errötete. So alt ich inzwischen auch war, es konnte nichts auf dieser Welt etwas an meiner Leidenschaft für Schokolade ändern. „Ach nein Anne, das passt schon.“ Sie wusste, dass ich aus Höflichkeit ablehnte und hatte bereits ihren Geldbeutel in die Hand genommen. Ehe ich bis drei zählen konnte, stand ich mit meiner Mutter in einem Paradies aus Schokoladen. Bunte, karamellisierte, zarte, bittere und weiße Schokolade, alles war dabei. „Anne, bekomme ich das hier?“ Was für eine Frage, hätte sie das Geld, hätte sie mir in diesem Moment wohl den ganzen Laden gekauft. „Selbstverständlich, mein Schatz. Aber nimm doch auch hiervon noch was mit.“ Ach, diese Unterhaltungen mit meiner Mutter hatte ich auch sehr vermisst. Sie liefen immer nach dem gleichen Schema ab: sie bot an, ich lehnte ab, dann nahm ich doch an, jedoch nur das „Kleinste“ wohlgemerkt, woraufhin meine Mutter, immer das Beste und so viel wie möglich davon für ihren Sohn wollend, mir die ganzen Taschen vollstopfte. Ich griff noch nach der ein und anderen Schokolade, um sie mit meinen Geschwistern zu teilen. Überrascht war ich, als mein Vater keine Einwände hatte, dass wir mit vielen Tüten Schokolade aus der Konfiserie rauskamen. Es schien grundsätzlich so, als wäre dies mein Tag, alles drehte sich um mich – doch in Wirklichkeit drehte sich nur mein Kopf. Es war ein seltsames Gefühl mit meiner Familie die Straßen entlang zu schlendern, alles fühlte sich so High-Definition an, mein Gehirn konnte all diese Bilder nicht schnell genug verarbeiten. Als wir über eine Brücke schlenderten, sah ich auf den Fluss herab und das einzige, woran ich dachte, war das Videospiel Grand Theft Auto. Ich konnte mich noch daran erinnern, dass die „Vice City“-Version des GTA Videospiels mein erstes Videospiel für den Rechner gewesen war. Das Spiel war etwas beschränkt, so konnte man nicht schwimmen und starb sofort, wenn man sich in das Wasser begab. Als dann einige Zeit später eine neue Version, nämlich „San Andreas“ erschien, war ich baff, was man alles machen konnte – da war das Schwimmen eines der uninteressanten Features. Und nun fühlte ich mich wie im Spiel GTA San Andreas, ich konnte so vieles machen. Wenn ich wollte, hätte ich einfach in den Fluss springen können. Der halb-offene Vollzug fühle sich wie GTA Vice City an, es war zwar auch schon prima, aber eben beschränkt. Nach einem angenehmen Spaziergang und der häufigen Konfrontation mit der Frage: „Und Emre, wie fühlt sich das an? So ganz frei?“, setzten wir uns in ein Café. Ich wiederholte mich inzwischen: „Naja, ich hatte meinen ersten großen Moment bereits im halb-offenen Vollzug. Das jetzt finde ich auch total heftig. Aber es ist nicht so, wie wenn man mich direkt vom Strafvollzug aus entlassen hätte.“ Das Beispiel mit GTA wollte ich nicht bringen, das hätten sie wohl nicht verstanden, und außerdem war ich mir nicht sicher, was mein Vater davon halten würde, wenn ich meine aktuelle Situation mit einem Videospiel verglich. Obwohl das Wetter eher frisch war, bestellten wir Eis und dazu heiße Getränke. „Für mich einen Kaffee, bitte“, schoss es aus mir heraus. Meine Mutter blickte nach der Aussage verwirrt drein: „Seit wann trinkst Du Kaffee?“ Ich lachte: „Oh je, wie die Zeit vergeht. Vor der Haft habe ich keinen Kaffee getrunken, oder? Ich bin in der Haft auf den Genuss von Kaffee gekommen, habe mich am Anfang zwar etwas dazu gezwungen – doch jetzt kann ich nicht mehr ohne.“ Alle hatten etwas zu erzählen, von der kleinen, bis hin zu den Großen, Cem, meiner Zwillingsschwester und meinen Eltern – ich ließ sie reden, genoss den Klang ihrer Stimmen. Schön eingewickelt in eine der bereitliegenden Decken des Cafés, schlürfte ich von dem cremigen Kaffee und spürte den Geschmack des warmen Gebräus auf meiner Zunge. Das war der beste Kaffee, den ich bisher getrunken hatte. Womöglich lag es daran, dass ich bisher nur löslichen Kaffee gekostet hatte. So schnell die Kaffeetasse leergetrunken war, so jäh war auch mein Ausgang zu Ende. Ich hatte so viele positiven Eindrücke mitgenommen, so viele gemischte, darunter jedoch mehrheitlich angenehme Gefühle gefühlt – und war nun traurig, wieder zurück zu müssen.

Zurück im Bauernhof angekommen, ging ich noch mit meiner Familie in den Innenhof und zeigte, wo ich arbeitete. Meine Zwillingsschwester zückte ihr Smartphone und verewigte das wundervolle, glückliche und zufriedene Familienbild in einem Video. Nach der Verabschiedung und dem formellen Papierkram mit dem Beamten, huschte ich in mein Zimmer und versuchte, den Tag zu verarbeiten. In dieser Nacht passierte etwas, was schon seit Ewigkeiten nicht mehr der Fall gewesen war.

Ich träumte von der Freiheit.