Der Dezember war einer der schönsten Monate, den ich seit langem erlebt hatte. Die Drillinge waren wohlauf und munter. Jeden Tag freute ich mich wie ein kleines Kind darauf, morgens aufzustehen und sie zu füttern. Sie wurden nach den Neffen von Donald Duck benannt: Tick, Trick und Track. Damit verband ich automatisch kindliche Gefühle mit diesen drei süßen Kälbern. Mir fiel die Arbeit nicht mehr schwer aber vielmehr fingen die Kühe an, mir Leid zu tun und immer, wenn ein neuer Häftling kam, der auch im Stall arbeiten musste, bat ich ihn darum, behutsam mit diesen Lebewesen umzugehen. 

Auch wenn die Drillinge das Wundervollste in diesem Monat waren, so gab es noch das ein oder andere Highlight. So hatten mich die Jungs nicht vergessen und tatsächlich in die Liste zum Schwimmen angemeldet. Ein dünner Pfarrer hatte uns abgeholt und in ein großes Wellenbad gebracht. Von Rutschen bis hin zu Whirlpools war alles dabei – vor allem die hübschen Damen fielen uns auf. Die Vorfreude auf die Freiheit stieg ins Unermessliche an. Die Vorstellung, dass ich später mal eine Freundin haben könnte und mit ihr zusammen in ein Wellnessbad gehen zu können, war wunderschön. Sagenhafte drei Stunden durften wir verbringen, als der Pfarrer uns wieder zusammentrieb und zurück ins Freigängerheim brachte. Überraschenderweise hielt mich Herr Kuhn an der Tür auf und forderte mich noch zum Bleiben auf, während sich die anderen drei Jungs in ihre Zimmer begaben. Eine weitere Person, die sich im Büro von Herrn Kuhn aufhielt, stellte sich mir als Leiter des Freigängerheims in Schwäbisch Hall vor. Er wollte wissen, wie ich auf die Idee käme, studieren zu wollen und wieso ich es nicht mit dem Arbeiten versuchen wollte. Doch ich konnte ihn schnell von meiner Motivation überzeugen, sodass er mir am Ende gestand, dass er das als etwas Gutes ansähe, doch die Problematik im Finanziellen sehe: „Wie möchten Sie denn das Studium finanzieren?“ Ich sicherte ihm zu, dass mein Vater mich finanziell unterstützen würde: „‘Wenn ihr studiert, bekommt ihr vollste Unterstützung von mir‘, hat mir mein Vater stets gesagt.“ Wir einigten uns darauf, dass mein Vater mindestens 600 Euro im Monat bereitstellen müsste und ich das mit meinem Vater bei meinem nächsten Ausgang klären solle. Voller Freude bedankte ich mich für das Verständnis und die Unterstützung, die er mir gab. Bevor ich das Büro verließ, wies er mich noch auf eine wichtige Sache hin: „Sie müssen sich aber selbst darum kümmern, einen Studienplatz zu bekommen.“ Ich war mittlerweile so euphorisch, dass ich das Risiko einer Absage von Hochschulen 

als nicht realistisch ansah. Die Euphorie brachte mich jedoch dazu, einen Fehler zu begehen: Ich erzählte es Tarik. Er hatte Gefallen an der Idee gefunden, auch studieren zu können – überraschenderweise hatte er die hierfür nötige Fachhochschulreife. Es war mir jedoch klar, dass er das Studium nur beginnen, aber nicht abschließen wollte denn es ist sicherlich angenehmer, in einem Vorlesungssaal zu sitzen, anstatt einer harten Arbeit nachzugehen. Unglücklicherweise rannte er sofort nach unten ins Büro und teilte dem Leiter des Freigängerheims seinen Wunsch mit, Selbiges wie ich vorzuhaben. Später erfuhr ich, dass der Leiter des Freigängerheims überhaupt nicht erfreut darüber war und kurz davor stand, uns beiden das Studieren zu verwehren. 

Noch vor Silvester und Weihnachten durfte ich einen längeren Aufenthalt in meiner Heimatstadt verbringen, sagenhafte zwölf Stunden. Am selben Tag hatte Tarik ebenfalls seinen Ausgang. Während ich morgens erneut von meiner Familie mit unserem alten Mercedes-Kombi vom Bauernhof abgeholt wurde, sahen die „Bezugspersonen“ von Tarik nicht nach Familie, sondern vielmehr nach einer Gang aus. Ich sah, wie Tarik in einen protzigen AMG-Mercedes einstieg und von zwei Stereo-Gangster-Kanaken kutschiert wurde. Meinem Vater gefiel der Anblick überhaupt nicht, weswegen er mir empfahl, mich von ihm fern zu halten. Ich bestätigte seine Aussage, indem ich ihm erklärte, dass Tarik wegen einer Schreckschusswaffe einsaß, zuvor Bewährung wegen Körperverletzung bekommen hatte und allen Anschein nach ein Zuhälter war. Dennoch fand ich Tarik paradoxerweise sehr sympathisch und lustig, wir teilten uns den gleichen Humor.

Meine Mutter kam auf die Idee, dass es doch super wäre, wenn wir auf dem Heimweg einen Zwischenstopp im Milaneo in Stuttgart machen würden. „Milaneo? Was ist das?“, fragte ich sie. Die Antwort auf meine Frage war vorherzusehen: „Es ist ein riesengroßes neues Einkaufszentrum in Stuttgart.“ Die Augen meiner kleinen Schwester leuchteten wie Perlen, als sie davon erzählte. Auch wenn ich es nicht gut fand, dass sie in dem Alter schon von Einkaufszentren schwärmte (und somit bereits im jungen Alter Opfer der Konsumgesellschaft war), so hatte ich nichts dagegen, wenn alle Lust darauf hatten. Angekommen in Stuttgart sah ich dieses riesige Einkaufszentrum hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof und versuchte mich zu erinnern, was damals statt dem Milaneo hier gewesen war – doch meine Erinnerungen beschränkten sich hauptsächlich auf die Haftzeit. 

Es war ein Samstag und somit einer der Tage, an denen generell viel los war – doch noch nie zuvor hatte ich so viele Menschen auf einem Haufen einkaufen gesehen. Es war sehr laut und ich hörte sehr viele Stimmen, die sich mit irgendeiner Hintergrundmusik vermischten. Ein Dutzend verschiedener Gerüche „vergewaltigten“ meine Nase und mein Kopf war kurz vor dem Platzen. Ich wollte unbedingt raus hier, raus in die Freiheit und an die frische Luft: „Mama, können wir bitte raus? Bitte, mir ist so schlecht.“ Meine Mutter ging meinem Wunsch sofort nach und wir begaben uns nach draußen. „Was ist denn los?“, fragte mein Vater völlig verwirrt. „Ich weiß nicht, da drin ist so viel los und es sind so viele Menschen. Ich weiß, das klingt jetzt total seltsam, als würde ich hier irgendwelche Filme schieben. Aber können wir nicht einfach draußen spazieren? Von mir aus in der Königsstraße, dann kann die Kleine auch shoppen und dort in die Läden rein?“ Auch, wenn ich in verständnisvolle Gesichter blickte, so wusste ich, dass sie besorgt waren – vielleicht dachten sie, dass ich einen Haftschaden bekommen hatte. 

Als wir in der Königsstraße waren, war zwar auch einiges los, aber ich konnte wenigstens die „frische“ Luft genießen. Typischerweise taten wir es den meisten Türken gleich und beendeten unseren Spaziergang damit, dass wir uns in ein türkisches Restaurant am Ende der Königsstraße setzten und etwas aßen. Es war unüblich, dass mein Vater auswärts aß und Geld ausgab denn er war Befürworter von heimischem Essen, wozu hatte er sonst eine Hausfrau – auch diese Denkweise war typisch türkisch. Nachmittags kamen wir dann endlich in meiner Heimatstadt an und ein unwohles Gefühl beschlich mich. So, als wäre ich unerwünscht hier und müsste mich erst noch einmal integrieren. Doch die restlichen Stunden vergingen unspektakulär: Einmal rief Herr Kuhn zur Kontrolle an und sonst saßen wir in einer familiären Umgebung vor dem Fernseher und unterhielten uns, während im Hintergrund eine türkische Serie lief – es war auch typisch türkisch, dass der Fernseher im Hintergrund läuft, während alle sich unterhalten. Meinem Vater erzählte ich davon, dass er mich monatlich mit 600 EUR unterstützen müsste, damit ich studieren durfte. Die Art und Weise wie er antwortete, war immer dieselbe. Zuerst erklärte er, wie wenig Geld er doch habe und dass ich ihn schon sehr viel gekostet hätte. Dann zählte er alles auf, was er schon für mich ausgegeben hatte. Manchmal zeigte er mir noch Rechnungen die noch zu bezahlen waren und erklärte mir, dass er für mich Geld von Freunden und Bekannten leihen musste. Mir hingegen gingen immer die gleichen Gedanken durch den Kopf: Wie hatte er sich dann die sieben Eigentumswohnungen leisten können? Wieso besaß er so viele Aktien? Verlagerte er sein Geld einfach und investierte in seine Zukunft und Rente, statt für die Kinder zu sorgen? Waren wir wirklich so arm, dass wir (damals) drei Geschwister jahrelang ein 10m² Zimmer teilen mussten? Oder übertrieb er maßlos? Im Endeffekt willigte er aber ein und sicherte mir die finanzielle Unterstützung zu. „Sobald ich aus dem Freigängerheim entlassen werde, suche ich sofort eine Werkstudententätigkeit und finanziere so meinen Lebensunterhalt“, versprach ich ihm, wohlwissend, dass er mir nicht glaubte und an meinem Vorhaben zweifelte.  

Einer der Mithäftlinge und ich hatten ein besonderes, exklusives Event im Dezember. Es schien so, als wären wir unter den ganzen Häftlingen wohl die Musterbeispiele bzw. vorzeigefähig. Ein etwas dickerer Pfarrer kam auf uns zu und fragte, ob wir denn Lust hätten, mit ihm eine Gruppe Jugendlicher zu besuchen, welche aktuell ein freies soziales Jahr absolvierten. Er hätte gar nicht erwähnen brauchen, dass sich das positiv auf unsere Haft auswirkte denn wir wären bereits nur der Abwechslung wegen mitgegangen. Natürlich bejahten wir entsprechend und warteten gespannt auf den Tag, indem wir uns verschiedenste Szenarien ausmalten. Kurz bevor das Event anstand, wurde uns etwas mulmig dabei: Was würden sie von uns halten? Würden sie uns gleich verurteilen? Es war das erste Mal für mich, dass ich offen gegenüber fremden Personen über meine Tat erzählen musste. Der Pfarrer fuhr uns in seinem privaten Auto eine Stunde weit weg an einen Ort, der abgelegen von alldem war, was auf Leben hindeutete. Wie seine zwei Bodyguards liefen wir an seiner Seite in das Haus und wurden sofort von zwei älteren Damen begrüßt, die das Ganze hier zu leiten schienen. Als wir den großen Aufenthaltsbereich betraten, konnten wir uns vor den Blicken gar nicht retten, mir wurde unwohl und ich lief auch rot an – dies lag viel weniger daran, dass mir mein Status als Häftling nicht gefiel, sondern viel mehr dass ich generell (trotz meiner extrovertierten Art) ein süchterner Typ war, wenn es um hübsche Frauen ging. Wir wurden in einen Raum geführt, in dem sich ein Stuhlkreis befand und wurden auf unsere Plätze verwiesen. Die recht jungen FSJ-ler betraten teils mit Gelächter, teils flüsternd den Raum. Andere wiederum schienen gelangweilt, während wieder andere ihre Blicke nicht von uns lassen konnten. Als alle ihren Platz einnahmen, erzählte die Leiterin des Hauses, woher wir kamen und dass wir uns für alle möglichen Fragen zur Verfügung gestellt hatten. Sie bedankte sich bei Artjom und mir und wies glücklicherweise darauf hin, dass wir unangenehme Fragen nicht beantworten müssten und dass das kein Verhör sein wird. Da die JVA wohl vom Pfarrer repräsentiert wurde, gab er eine kurze Erklärung, wie es in der JVA Schwäbisch Hall ablief und was seine Rolle dabei war: „… Außerdem habe ich die Pflicht zu schweigen, wenn sich ein Häftling mir anvertraut…“ Dies löste natürlich gleich die ersten Diskussionen aus und alle wollten wissen, ob es denn nicht doch die ein oder andere Ausnahme gab – die schien es wohl nicht zu geben. Interessant war, dass ich auch erst jetzt davon erfuhr. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich der Pfarrer die Zeit nahm, um die Seelsorge für Häftlinge zu spielen. Auch hatte ich noch nie von einem Mithäftling gehört, der diese Dienste des Pfarrers in Anspruch genommen hatte – vielleicht lag das an mangelndem Vertrauen in den Pfarrer. Welchen Dienst jedoch so gut wie jeder Neuankömmling in Anspruch nahm, berichtete der Pfarrer voller Stolz: „Ihr müsst wissen, die ersten Tage sind für die Inhaftierten die schwersten und sie sind mit den Nerven am Ende. Sie besitzen kein Geld, keine privaten Klamotten und auch sonst kein Hab & Gut. So gut wie alle sind Raucher und der Entzug von Nikotin erschwert ihnen ihre Situation noch mehr. Daher können die Neuankömmlinge einen Antrag auf ein Päckchen Tabak stellen, welches ich ihnen dann bringe. Allerdings müssen sie das zum späteren Zeitpunkt zurückzahlen bzw. beim nächst möglichem Einkauf ein Päckchen Tabak kaufen und mir zurückgeben. Dieses Prinzip funktioniert in der Regel sehr gut.“ Während er fortfuhr und seine Gutmütigkeit bis ins letzte Detail ausführte, kam es mir wie ein Geistesblitz: An meinem ersten Tag in der JVA Schwäbisch Hall war ich auch mit den Nerven am Ende, doch unglücklicherweise war ich kein Raucher, brauchte aber Schokolade als Nervennahrung. Während der Pfarrer meinem Zellenkollegen ein Päckchen Tabak brachte, ging ich leer aus und bekam nicht einmal eine Tafel Schokolade. Bei dem Pfarrer, den ich um eine Tafel Schokolade gebeten hatte, handelte es sich genau um jenen, der nun zu meiner Linken saß und davon erzählte, wie er die Anfangszeit der Neuankömmlinge etwas erleichtern würde. Am liebsten hätte ich ihm just in diesem Moment das Ganze unter die Nase gerieben, aber dies wäre höchst unangebracht gewesen. 

Dass ich eine extrovertierte Person war, wurde allen spätestens dann klar, als der Pfarrer mir das Wort übergab und ich sofort loslegte von meiner Tat, meiner Verhaftung, den ersten Wochen und die darauffolgenden Monate zu erzählen. Mal gab es staunende Blicke, mal Gelächter und natürlich auch gelangweilte Gesichter waren zu erkennen. Der Pfarrer musste mich ab einem bestimmten Punkt unterbrechen, da ich sonst wohl noch den ganzen Tag geredet hätte. Die FSJ-ler waren dran, mir Fragen zu stellen. Positiverweise wurde mir oft am Anfang der Fragen mitgeteilt, dass sie meine Tat nicht „sooooo schlimm“ finden würden und sie das Urteil heftig fanden. Auch wenn ich meine Tat nicht klein reden wollte, so erfreute es mich, dass ich hier nicht ins Kritikfeuer geraten war und nicht hart verurteilt wurde – das war meine größte Angst gewesen. Die ersteren Fragen waren absehbar gewesen: „Wird man im Gefängnis eigentlich schwul? Immerhin sieht man nur Männer.“ Das löste Gelächter aus und auch ich musste grinsen: „Also um erstmal klarzustellen, ich bin nicht homosexuell. Und nein, man wird nicht schwul. Ich weiß nicht, wodurch man schwul wird oder ob das in den Genen liegt. Aber ganz ehrlich, ein paar Jahre ohne Frauen wird man es wohl aushalten können. Außerdem gibt es ja noch die Selbstbefriedigung. Der Knast ist kein Ort, in dem Männer zu Homosexuellen transformiert werden.“ Der junge Mann, der mir die Frage gestellt hatte, wollte es genauer wissen und amüsierte sich wohl dabei, den Rest der Truppe zum Lachen zu bringen: „Aber irgendwann gehen einem doch die Fantasien aus? Man weiß doch dann nicht mehr, wie ein Frauenkörper aussieht.“ Ich sah den Pfarrer an und musste bei dem Gedanken, dass die Frage ihm wohl unangenehmer war als mir, schmunzeln: „Ich sag nur Samstagabend um 23:00 Uhr Sport1 – da sind alle Häftlinge still in ihren Zellen und ‚beschäftigt‘.“ Das Gelächter hörte gar nicht mehr auf und da kam schon der nächste junge Mann und knüpfte an die Frage an: „Ist das nicht unangenehm, wenn man die Zellenkollegen dabei sieht?“ Alle hörten aufmerksam zu, die Antwort schien die meisten zu interessieren: „Natürlich ist es das, aber das macht keiner. Das ist auch der Hauptgrund, wieso Einzelzellen bevorzugt werden – damit man eben seine Ruhe hat, wenn man sich selbst befriedigt. Diejenigen, die in Zwei- oder Viermannzellen sind, müssen einen Kompromiss eingehen. Das heißt, dass hin und wieder einer der Zellenkollegen nicht zum Hofgang geht und dafür alleine in der Zelle seine Ruhe hat. Wir wussten immer, dass sich derjenige gerade selbst befriedigt, wenn er auf den Hofgang verzichtete – zumindest in den meisten Fällen traf dies zu.“ Den Gesichtern war zu erkennen, dass die Antwort zwar sinnvoll erschien, doch etwas enttäuschend war. Die Jugendlichen schienen sehr fixiert auf die sexuellen Themen zu sein und es war nur eine Frage der Zeit, bis die ultimative Frage kam: „Wie ist das mit der Seife unter der Dusche?“ Mittlerweile fand ich die Frage bzw. das Klischee so schwachsinnig, dass ich sie am liebsten nicht beantwortet hätte, aber ich wusste noch ganz genau, dass mein erstes Mal unter der Dusche auch von dieser Angst geprägt war: „Also erstens, es gibt eigentliche keine Duschseife, die man fallen lassen kann. Jeder hat ein Shampoo oder eben Flüssigseife. Aber das ist eine berechtigte Frage, ich hatte am Anfang auch große Angst, unter der Dusche vergewaltigt zu werden. Aber die Angst ist total unbegründet. Zumal ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand einen hoch bekommt, wenn er nicht homosexuell ist. Und diejenigen, die homosexuell sind, werden von den anderen Häftlingen ausgestoßen. Es geht sogar so weit, dass fast alle mit Unterhosen duschen. In Schwäbisch Hall unterteilen sich die Duschen in die der Türken und die der Russen. Während die Russen und Deutschen eher nackt duschen, sind Türken, sowie Kurden und Albaner stets mit Unterhose anzutreffen. Ich muss zugeben, dass ich nun seit gut zwei Jahren nur mit Unterhose geduscht habe und es sich mittlerweile nicht mehr seltsam anfühlt.“ Eine kurze Stille kehrte ein und wurde durch die nächste Frage, diesmal von einem Mädchen, unterbrochen: „Sorry, wenn ich das so sage. Aber du siehst gar nicht aus wie ein Häftling. Ganz im Gegenteil. Ich dachte immer, im Knast sind so Muskelpakete, die tätowiert sind und voll respektlos reden.“ In der Tat entsprachen weder Artjom, noch ich diesem Klischee. „Also ich bin mal ganz ehrlich, das Klischee stimmt und das Bild, dass du von einem Häftling hast, passt auch in den meisten Fällen. Ich bin mal so frech und behaupte einfach, dass der Herr Pfarrer hier uns ausgewählt hat, da wir quasi Vorzeigehäftlinge sind. Ihr habt mit uns die Normalsten aus der Haft bekommen. Ich meine, schaut euch den hier an, der sieht 1000 mal mehr nach einem Häftling aus als ich“ – ich deutete auf einen jungen Mann im Publikum, der von der Optik her in das Klischee passte und alle fielen in ein Gelächter. Die letzten Fragen befassten sich dann mit den weiteren Konsequenzen meiner Tat: „Musst Du das ganze Geld eigentlich zurückzahlen? Das wäre ja total scheiße.“ Ich überlegte kurz und merkte, dass ich mir dazu noch gar nicht viele Gedanken gemacht hatte: „Hmm, das ist eine gute Frage. Die Deutsche Bahn hat nach Rechtskraft meines Urteils drei Jahre Zeit, Zivilklage einzureichen und das Geld von mir zu fordern. Bisher haben sie das nicht getan. Ich hoffe, dass sie es auch in Zukunft nicht tun werden. Aber aktuell habe ich ganz andere Probleme und habe mich noch nicht wirklich damit beschäftigt. Was ich Schlaumeier aber getan habe, ist der Deutschen Bahn einen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Aber um ehrlich zu sein hoffte ich einfach, dass ich damit Sympathie-Punkte beim Gericht bekomme – die haben mich aber sicherlich durchschaut.“ Etwas errötete ich schon, als ich realisiert hatte, was ich da von mir Preis gab. „Und darfst Du noch Bahn fahren?“, wollte sie noch zum Abschluss wissen: „Auch gute Frage. Weiß ich nicht. Wäre aber wirklich blöd, wenn ich die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr nutzen dürfte.“ Gerade als ich dachte, mein Auftritt sei vorbei und der Pfarrer das Wort an Artjom übergeben wollte, fiel ihm eine ins Wort: „Dürfen wir noch wissen, welche Strafe du bekommen hast?“ Ohne weit auszuholen und den Grund der Höhe des Strafmaßes zu erklären, indem ich z.B. nichts von meinen kleinen Vorstrafen erzählte, nannte ich die Zahl: „3 Jahre 9 Monate beträgt meine komplette Strafe. Ich muss jedoch nur 2 Jahre 6 Monate absitzen, da ich als Ersttäter in der Haft bei 2/3 der Strafe entlassen werden darf und der Rest zur Bewährung ausgesetzt wird.“ Wieder fing das Geflüster an, einigen schoss es wie eine Bombe aus dem Mund: „Ohaaaaa, das ist ja mal viel!“ Um ihnen nun kein falsches Rechtsempfinden zu geben, erläuterte ich doch noch, dass die Strafe zurecht war, dass da mehrere Faktoren eine Rolle spielen und sich alles im Rahmen des Strafgesetzbuches bewegt hat. Das war nun ein guter Übergang für den Auftritt von Artjom, dies sah auch der Pfarrer ein und blickte ihn an: „The stage is yours“. Interessant fand ich, dass ich Artjoms Story selber noch nicht gehört hatte.

Er war genauso alt wie ich und ein Russe, der aber von seiner Ausdrucksweise, Artikulation und auch Auftreten her eher einem Deutschen glich – dennoch hörte man heraus, dass er kein gebürtiger Deutscher war, was man auch unschwer am Namen erkennen konnte. Er saß wegen mehrfachen Einbruchs und erklärte, wie er sich in die Wohnungen und Häuser fremder Menschen begab, in dem er die Fenster aufbrach – was nach seiner Erklärung ein Kinderspiel sei, vor allem wenn die Fenster nur gekippt seien. Es gab nicht viel zu erzählen und sonst referierte er auf meine Aussagen, wenn es um die Haftbedingungen ging. Die FSJ-ler schienen auch nicht weiter zuhören zu wollen und wurden unruhig, eine streckte ihre Hand hoch und wollte wohl eine Zwischenfrage stellen: „Ich finde das total asozial, was Du gemacht hast. Einfach in fremde Häuser einbrechen. Das von deinem Kollegen finde ich auf irgendeine Weise noch ok verglichen mit deiner Tat. Wie kann man nur so drauf sein wie Du?!“ Genau vor so einem Vorwurf hatte ich Angst gehabt und nun musste es Artjom am eigenen Leib spüren – er tat mir etwas leid, aber wir waren eben Kriminelle. Man darf natürlich nicht alle über einen Kamm scheren, aber im Endeffekt war meine Tat weder schlechter, noch besser. Ich wollte mich nicht einmischen, wurde dennoch leicht rot, da die Kritik unangenehm war. Ich musste aufpassen, dass ich später in meiner Freiheit niemandem davon erzählte. Wenn sich alle gegen mich wenden und mich verstoßen würden, wäre das alles andere als gut, zumal ich sicher war, dass ich mich bessern würde bzw. wenn nicht sogar schon gebessert hatte. Noch unangenehmer wurde es, als auch nach seinem Strafmaß gefragt wurde und seine Antwort, die eigentlich nur ein verlegener Seufzer auf die vorherige Frage war. Er nannte ein Strafmaß von zwei Jahren und drei Monaten, und das als Wiederholungstäter. Letztendlich musste er wohl nur 9 Monate absitzen und hatte den Rest auf Bewährung bekommen. 

Der Pfarrer beendete das Gespräch und hielt eine Abschlussrede. Die Verantwortlichen der FSJ-ler bedankten sich bei uns und wir verabschiedeten uns. Auf der Rückfahrt fühlte ich mich erschöpft. Es war nicht einfach, offen mit seinen Fehlern umzugehen – auch wenn ich im Vergleich zu Artjom nicht so viel, oder fast gar nichts einstecken musste. Glücklicherweise lud der Pfarrer uns noch auf ein Essen im griechischen Restaurant ein. Wir freuten uns riesig auf die leckeren und duftenden Speisen: „Wenn die Leute nur wüssten, was für einen Luxus sie mit dem ganzen Essen haben.“ Erwähnte Artjom noch während er ungeduldig seinen Teller aufaß. 

Zurück im Bauernhof angekommen, begegnete mir der nächste Konflikt. Herr Kuhn bat mich schon wieder in sein Büro und erklärte mir, dass ich in der Kanalisation arbeiten müsse. Ich war schockiert. Ich kannte diese Arbeit. Zwei unserer Häftlinge wurden morgens von einem stinkenden Typen abgeholt, der Kanalreiniger war. Den ganzen Tag hatten sie nichts anderes zu tun, als in die Kanalisation zu steigen und irgendwelche Scheiße sauber zu machen – das war bei Weitem schrecklicher als die Tätigkeit auf dem Bauernhof, zumal ich langsam Gefallen daran empfand, im Stall zu arbeiten. Ich wusste ganz genau, wieso Herr Kuhn mich ausgewählt hatte: Ich konnte einfach nie Nein sagen und ich wollte unbedingt studieren. Ein „Nein“ hätte entsprechende negative Folgen nach sich ziehen können. Wollte ich das Risiko tatsächlich eingehen? Ohne etwas zu sagen, ging ich hoch und Herr Kuhn spürte bereits, dass ich wohl etwas Bedenkzeit brauchte. Als ich mich meinem Zimmer näherte, hörte ich bereits das Gelächter der drei Jungs und wurde etwas wütend, dass sie mit allem durchkamen. Als ich das Zimmer betrat kam Luigi auf mich zu, warf seinen Arm um meine Schulter und sagte: „Mein Freund, du wirst an Silvester mit uns Vodka trinken!“ Ich verneinte und war zudem sauer, dass die wohl Alkohol reingeschmuggelt hatten. Ich musste noch etwas stark bleiben, das waren die letzten Meter. Das Freigängerheim wartete auf mich. Das war das was mich ausmachte, der Wille, um meine Zukunft zu kämpfen. Die Jungs sollten mich bloß aus Allem raushalten. Als der letzte Tag des Jahres nun anstand und wir einige Stunden mit offenen Türen verbringen konnten, bevor wir abends eingeschlossen werden würden, packten die Jungs ihren Alkohol aus und betranken sich. Mir war Silvester nie wichtig gewesen, ich hatte es auch nie gefeiert und sah keinen Grund darin gerade heute das Neujahr zu feiern. Anders erging es den Mithäftlingen eine Zelle weiter, sie hatten es vermasselt: Es war noch nicht sehr viel Zeit verstrichen, seit unsere Türen offen waren, da kam ein ganz lauter Schrei aus ihrer Zelle: „Hilfe! Hilfe! Ich sterbe! Hilfe!“ Ich hatte noch nie einen Mann so laut schreien hören. Er schreite weiter „Mein Arm fällt ab, ich verliere meinen Arm! Hilfe!“ Sein Zellenkollege schien vor Panik auch zu schreien. Schnell standen wir alle auf und rannten in die Zelle. Beide lagen auf dem Boden aber es war kein Blut oder dergleichen zu sehen. Tarik lachte: „Die Idioten haben Spice genommen.“ Keine Sekunde später kam Herr Kuhn und ein weiterer Beamte, sie schlossen uns sofort in unsere Zellen ein.

Im Laufe der Nacht hörte ich die Schreie immer noch, bis irgendwann mehrere Fußstapfen zu hören waren, Stimmen der Beamten und schließlich, es war noch nicht Neujahr, da waren die Schreie der beiden Mithäftlinge plötzlich weg. 

„Frohes Neues, Bro“, Tarik drehte sich um und schlief wie ein großer Bär ein.

„Frohes Neues…“