Nachdem um 6:00 Uhr vom Beamten gecheckt wurde, ob mein Zellenkollege und ich noch lebten, verbrachte ich erst einmal einige Stunden im Bett. Meine Gedanken schossen umher, all die Fragen, auf die ich keine Antworten hatte, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Zellenkumpane schien das Ganze lockerer anzugehen, als wäre das ein kurzer Urlaubsaufenthalt für ihn. Und tatsächlich war sein Haftaufenthalt für Knastverhältnisse kurz ausgefallen. Obwohl ich den TV bezahlte, befand sich die Fernbedienung bei dem Kahlkopf, ich weiß bis heute nicht, weshalb ich nicht die Initiative ergriff und selber bestimmte, was ich schauen wollte. Vielleicht war mir das zu diesem Zeitpunkt auch egal, ich hatte genug andere Probleme, sodass es mir wohl gar nicht auffiel, dass der Kahlkopf die nächsten zwei Wochen auf meine Kosten lebte, doch dazu in späteren Kapiteln mehr. Der Tag verlief aktionslos, nichts passierte, rein gar nichts. Und dann kam der Hofgang, nachmittags befanden sich dann ca. 80 Häftlinge in einem kleinen, überschaubaren Hof. Zwei Beamte beobachteten die Häftlinge, und zum ersten Mal traute ich mich, auch meine Blicke in die Runde zu werfen. Es fiel mir sofort auf, dass sich viele Gruppierungen nach Nationalitäten kategorisieren ließen. So waren alle Russen beisammen, saßen seltsamerweise alle in gleicher Stellung auf dem Boden. Ich weiß nicht, wie man die Sitzstellung nennt, aber es sah so aus, als würden sie gleich ihr großes Geschäft verrichten. Die Russen schienen einen Großteil der Häftlinge auszumachen, zwar waren die Türken auch gut besetzt, doch schnell erkannte ich, dass es sich dabei viel mehr um Kurden handelte. Ich hatte zwar nie Probleme mit diesen Leuten, doch in der Tat versuchte ich so wenig wie möglich mit ihnen in Kontakt zu geraten, da sie mit Abstand die schlimmsten Taten bezüglich Körperverletzung, versuchten Totschlags, etc. hatten. Doch die Türken und Kurden verstanden sich untypischerweise gut. Es war seltsam mitanzusehen, dass sich zwei verfeindete Gruppierungen so gut verstanden. Bis dato hatte ich noch nie von solchen Gruppierungen gehört oder etwas mitbekommen, doch die einen nannten sich die „Red Legions“, hauptsächlich besetzt mit kurdischen Mitgliedern, die anderen hießen „Black Jackets“, die eher aus einem Mix von Albanern, Türken und ein paar Kurden bestanden. Irgendwie geschah es dann, dass ich mit den Türken abhing, was zwar kein Problem darstellte, doch nach einer gewissen Zeit hatte ich die Befürchtung, in die „Black Jackets“ Bande unbewusst miteingetreten zu sein. Glücklicherweise stellte sich diese Annahme als falsch heraus, da wohl von mir erwartet wurde, dass ich um den Beitritt bitte, was ich selbstverständlich nicht tat.

Also wieder zurück zum Hofgang: Die Türken riefen mich zu sich, drehten mit mir einige Runden, waren jedes Mal auf das neue fasziniert, sodass ich meine Story jedem einzelnen von ihnen nochmals erzählen musste. „Aldaaa, Jungs, der hat die Bahn zerstört ey. Ey kann man das immer noch machen? Du musst mal ganz genau aufschreiben, wie das geht”, meinte einer der etwas älteren unter ihnen. Es war in der Tat so, dass sich hier einige Kriminelle fanden, die dann draußen zusammen krumme Dinge drehten oder sich gegenseitig Tipps, Tricks und Ratschläge gaben. Bei der JVA handelte es sich um eine Art „Summer School for Crime“, alle waren Experten, alle würden es das nächste Mal besser, größer, richtiger machen und am wichtigsten: Niemals würden sie wieder erwischt werden. „Papa, ich habe aus meinen Fehlern gelernt“, teilte ich einmal meinem Vater während des Besuchs reumütig mit. Seine Antwort war ironisch: „Ja, ich bin mir sicher, das nächste Mal lässt Du dich nicht erwischen, jetzt weißt Du ja, was Du falsch gemacht hast.“ Am Anfang hatte ich Angst davor, von den ganzen Muskelpaketen ausgenutzt und ein Paar auf’s Maul zu bekommen, einfach nur, weil ich vergleichsweise dünn und nett war. Doch zumindest wurde ich kein Opfer körperlicher Gewalt, nur ausnutzen lassen habe ich mich in den ersten Monaten mehr als genug.
Nach dem Hofgang gab es direkt Mittagessen, es sah gut aus, es schmeckte schlecht. Nie begriff ich, wieso das Essen nicht auf normale Art und Weise gekocht werden konnte. Ich verlangte nie ein fünf Sterne Menü, auch nichts, was nach dem Essen meiner Mutter oder Oma schmeckt, ich wollte einfach nur nicht beim Essen kotzen müssen. Ich wollte einfach nur satt sein. Doch die Erklärung war ziemlich simpel: Ein Koch war für mehr als ein Dutzend Häftlinge zuständig, die in der Küche arbeiteten und für die Zubereitung des Essens zuständig waren. Als ich später in der Strafhaft sah, was für unhygienische Häftlinge einen Job in der Küche bekamen, kam es mir jedes Mal bei dem Gedanken hoch. Meistens waren aber Häftlinge aus der Schutzhaft, also Vergewaltiger, Verräter oder sonstige Häftlinge, die Probleme mit anderen Häftlingen hatten, in der Küche beschäftigt. Denn die Schutzhäftlinge konnten nicht ohne weiteres einer Tätigkeit im Betrieb nachgehen.
Als dann langsam die Freizeit am Abend näher rückte fragte ich mich, wie ich das mit dem Duschen anstellen sollte. Denn bisher hatte ich den Luxus gehabt, alleine zu duschen, da ich mich in letzter Zeit in der Strafhaft befand und zum Duschen zugelassen wurde, als alle anderen Strafhäftlinge sich in ihren Zellen befanden. Zudem hatte ich kein Shampoo, doch der jüngere Türke, der mir die Chicken Nuggets gebracht hatte, den würde ich fragen. „Freizeit!“, hieß es aus den Lautsprechern und alle Türen öffneten sich automatisch. Gleich gingen die (Freuden-)Schreie  los und es wurde auf einmal still, jeder hörte auf die Durchsage „Coskun, Calik, Fischer, …., bitte ins Büro“. Das waren die Glücklichen heute Abend, die einen Brief oder Sonstiges erhalten hatten. Diese Durchsage machte mich nach einer Weile süchtig, denn den ganzen Tag fragte ich mich, ob mein Name aufgerufen werden würde, und als dann alle paar Wochen mal mein Name während der Durchsage ertönte, fühlte ich mich jedes Mal so, als hätte ich einen 6er im Lotto. Jedes Mal rannte ich zum Büro und holte erfreut meine Post ab. Am Anfang war ich mehr als froh, wenn es sich dabei um Verteidigerpost handelte, nach einer Weile war mir jedoch klar, dass jede Verteidigerpost nur schlechte Nachrichten enthielt. Briefe von meiner Familie hob ich mir für die Zeit nach der Freizeit auf. Nachdem die Tür sich schloss, öffnete ich ganz sanft den Brief und erkannte manchmal die süße Schrift meiner kleinen Schwester, manchmal die schöne Schrift meiner älteren Schwester und manchmal das lustige, gebrochene Deutsch meiner Mutter. Jedes Wort löste Emotionen in mir aus, die Briefe las ich mir mehrmals durch. Enttäuscht war ich darüber, dass ich von keinem einzigen Freund einen Brief bekam, wirklich kein einziger hatte mir geschrieben. Ich wusste nicht, weshalb niemand nach mir gefragt hatte. Doch viele andere Häftlinge teilten dasselbe Leid, wenn nicht sogar Schlimmeres. Ich hörte Häftlinge weinen, ich las Briefe von anderen Häftlingen, und alle weinten aus denselben Gründen: Scheidung, Trennung, Beziehungspause usw.
Heute bekam ich allerdings keinen Brief, er würde sowieso erst einmal vom Amtsgericht kontrolliert und weitergeleitet, dies nahm immer einige Wochen in Anspruch. Also lief ich im Flur umher und huschte in den einen Freizeitraum rein, in dem sich nichts außer ein paar Tischen und Stühlen befanden. Dort waren unsere Türken, es war wohl Friseur-Tag. Alle hatten sich versammelt, waren Oberkörperfrei, einer hatte einen Rasierapparat und schnitt einem nach dem anderen die Haare, wie am Fließband. „Olum, was sind das für Haare? Komm, ich schneid sie dir.“ Ich wusste nicht, ob das eine Falle war und ob er mir eventuell eine Glatze schneiden wollte, ich war stets misstrauisch gegenüber anderen Mithäftlingen. Ich begriff mit der Zeit, dass die meisten keinen Ärger wollten, sondern nur ihre Zeit absitzen und gehen. Später konnte ich die wirklich Gefährlichen mit denen, die nur so tun, gut unterscheiden. Meist waren die Gefährlichen diejenigen, die ruhiger waren.
Er ließ sich viel Zeit beim Schneiden meiner Haare, als würde er alles Millimeter genau bemessen. Und tatsächlich, als ich mich im Spiegel sah, war ich positiv überrascht. Noch nie hatte ich solch einen Haarschnitt gehabt, generell wusste ich nicht, wie ich mit meiner Kopfbehaarung umgehen sollte. Die komplette Hygiene, vom Haarstyle (inkl. Nutzung von Haarwax, und nein, es war kein Kanakenhaarschnitt) bis hin zur Nutzung von Creme, sowie Enthaarung von Schamhaaren, lernte ich in der Haft erst richtig kennen. Denn bei so viel Zeit beschäftigte sich eigentlich so gut wie jeder mit seinem Körper, die einen mit Fitness, die anderen mit Hygiene. Ich konzentrierte mich besonders auf letzteres.
Nachdem ich mich bedankte, kam schon das, was ich vermutet hatte: „Beim Einkauf holst mir dann einen Tabakbeutel“, meinte der Türke. „Geht klar.“ Mir blieb nichts anderes übrig, er hatte ja auch dafür meine Haare geschnitten. Glücklicherweise lieh er mir auch sein Shampoo. Schnell ging ich in meine Zelle, nahm mein Handtuch und huschte in die Dusche. Vier Duschköpfe befanden sich in der Dusche, also war für vier Leute Platz, und es waren drei Leute unter der Dusche. Ich zog mich aus und wollte gerade in die Dusche, als der eine Türke, welcher schon damals meinen Haftbefehl als Erster sehen wollte, mich anschrie: „Alter! Was machst Du da! Geh und zieh Dir was an amina koyiim.“ Ich war geschockt, die hatten alle Unterhosen an. Schnell zog ich meine Unterhose auch an und fragte dann, ob das ok sei. Als ich dann auch unter die Dusche durfte, fingen die an zu lachen: „Haha, alder, hier will keiner deinen Schwanz sehen. Willst du, dass man dich vergewaltigt oder was? Dann geh rüber zur anderen Dusche von den Russen, die duschen immer nackt.“ Ich war eigentlich froh darüber, dass man mit Unterhose duschte: „Ja sorry, wusste ich nicht. Find das mit der Unterhose auch besser.“ Der Türke hieß Savas: „Aber wenn du ‘ihn’ unbedingt sehen willst, ich kann’n dir zeigen!“ lachte er. „Äh, nein man.“ „Haha, oglum ich mach Spaß.“ Ich ließ mir schön Zeit beim Duschen, das war das einzige gute Gefühl, das ich an diesem Tag genießen durfte. Die Freizeit war schnell um, ich konnte gar nicht glauben, dass es sich dabei um drei Stunden gehandelt hatte. Bevor die Zellentür zuging, kam kurz Savas noch in meine Zelle: „Hey, morgen zupfen wir deine Augenbrauen, sonst musst Du McDonalds noch Lizenzgebühren bezahlen!“ Er ging wieder fort, die Zellentür ging mit einem freundlichen Lächeln des Beamten zu. Ich befand mich vor dem Spiegel und dachte mir nur, dass ich erstens schöne Augenbrauen habe, zweitens die Mitte schon etwas zupfen könnte und drittens, dass ich bestimmt nicht so metrosexuelle Augenbrauen haben wollte, wie die sie hatten. Als ich mich in mein Bett legte, wurde mir plötzlich etwas bewusst: Mein Leben lang hatte ich darauf geachtet, kein Haram-Fleisch, also Fleisch, das den islamischen Vorschriften nicht entspricht, zu essen. Doch in dieser Woche hatte ich viel Fleisch von dieser Sorte gegessen. Auch hatte ich meine Augenbrauen bisher nie gezupft, da unser Prophet das anscheinend verboten hatte, doch ich zog das nun in Erwägung. Es war etwas paradox, viele Leute finden in der Haft zu Gott oder Allah, auch ich habe viel in der Haft gebetet, weil ich hilflos war und der Allmächtige der einzige war, der mich hätte hören können. Aber noch nie in meinem Leben war ich so nicht-muslimisch und unreligiös unterwegs, wie während meiner Haftzeit. Und das, obwohl ich zuvor streng religiös erzogen wurde. Ob dies nun etwas Positives oder Negatives ist kann jeder selbst beurteilen, ich will da keinem zu nahe treten. Ich weiß nur, dass mein Leben nach der Haft nicht dasselbe ist wie das Leben davor. Die größte Änderung, die ich in der Haft vollzog, war die religiöse Überzeugung.