Wenn ich zurückdenke, kommt es mir so vor, als wären die Tage in der Haft wie im Flug vergangen. Doch in Wirklichkeit entwickelte ich in der Haft ein völlig anderes Zeitgefühl, alles schien in Slow – Motion abzulaufen. Alles dauerte, alles brauchte seine Zeit und der Tag war unheimlich lang. Dies war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich anfangs in Freiheit von Kopfschmerzen geplagt war, denn draußen tickt die Uhr ganz anders. Ich fühlte mich in der Haft wie in einer Zeitmaschine, jeder Mensch draußen entwickelte sich, erlebte Neues, machte die verschiedensten Erfahrungen und wurde erwachsener. Ich jedoch erlebte nichts, jeden Tag dasselbe Gerede, jeder wollte draußen Geld machen, keiner sah etwas Falsches in dem was er getan hatte, jeder hatte Zukunftspläne, kriminelle Zukunftspläne. Ich hatte allerdings keine Zukunftspläne, vielmehr blickte ich in die Vergangenheit. Wer war ich? Was hatte mich zu dem gemacht, was ich heute bin? Warum war ich so? Wie hatte sich mein Leben im Laufe der Zeit entwickelt? Was war der bisherige Sinn, den ich im Leben sah? Ich blickte in die Vergangenheit und sah mich, welcher der Meinung war, nur mit viel Geld Ansehen und Anerkennung zu bekommen. Mit Geld lässt sich alles kaufen, das war mein Gedanke. Aber da wusste ich nicht, dass Gesundheit, Freiheit und wahre Liebe nichts mit Geld zu tun haben. Liebe? Ja, Frauen kann man sich sicherlich mit Geld angeln, ob es dann wirklich die Richtige ist, mag jedem selbst überlassen sein. Doch eins ist sicher, die wertvollste Frau auf der Welt ist die eigene Mutter, man kann sich mit Geld nicht die Liebe der Mutter kaufen. Man kann nicht in ein Restaurant gehen und sagen: „Bringen Sie mir bitte eine Suppe, die soll genauso schmecken wie die von meiner Mutter, und auch mit Liebe gemacht werden. Ich zahl alles, was Sie wollen.“ Das geht einfach nicht, man kann sich kein Parfüm kaufen, das nach der eigenen Mutter riecht, keine Decke, die einen so warm hält wie die Umarmung der eigenen Mutter. Mutter, Vater und Geschwister – Familie, dafür lohnt es sich zu leben, dafür lohnt es sich, Zeit zu investieren, dafür lohnt es sich, zu weinen, zu lachen – nicht für Geld, sondern für die Familie. Zusammen am Tisch sitzen und gemeinsam zu essen, das ist wertvoller als jeder Tisch in einem 5-Sterne-Restaurant. Und nun saß ich auf einem Plastikstuhl, über einen kleinen Holztisch gebeugt, und sah mir die große Einkaufsliste an: „Ich check das nicht, wie bestell ich denn jetzt hier?“
Der Kahlkopf, mein Zellenkollege, Dauerhäftling, erklärte mir alles: “Also, du hast hier auf dem blauen Zettel alle Artikel mit Artikelnummern und den Preisen. Du trägst dann auf dem weißen Zettel hier die Artikelnummer und die Menge ein, die du bestellen willst. Nachher gibst Du dem Beamten dann einfach deinen weißen Zettel ab. Nächste Woche kommt dann das was du bestellt hast. Du darfst halt nur so viel bestellen, wie Du frei verfügbar auf deinem Konto hast … lass mal sehen … ach du Scheiße, Du hast ja übel viel drauf, 190 EUR!“
Mein Vater hatte mir das Geld überwiesen, das war wohl der Höchstsatz den man pro Monat als U-Häftling bekommen durfte. Strafhäftlinge durften so gut wie nichts von außen überwiesen bekommen, denn sie mussten arbeiten gehen. Allerdings dauert es keinen Monat, bis ich dann den am heißesten begehrten Job bekam, welchen man in einer JVA überhaupt bekommen kann. „190 EUR habe ich ja übel schnell ausgegeben, so teuer wie die Waren hier sind, das ist doch unfair. Alleine für Schokolade werde ich bestimmt 50 EUR ausgeben, ich brauch die Nervennahrung, sonst werde ich noch verrückt hier. Wie viel hast Du denn?“
Er hatte nicht einmal einen Einkaufszettel bekommen, ich Idiot hätte gar nicht erst fragen sollen, das war eine Art Einladung: „Ich hab noch kein Geld, aber hab ja schaffen angefangen, im nächsten Zwischeneinkauf habe ich auf jeden Fall Geld. Du, kannst mir eine Dose Tabak bestellen, ich kauf Dir dann im nächsten Einkauf was dafür?“
Ich überlegte nicht lange, es war selbstverständlich für mich, einem Zellenkollegen was zu borgen, immerhin wollte ich nicht 24 Stunden mit einer Person verbringen, der ich einen Gefallen ausgeschlagen hatte. Doch ich irrte mich, die 20 EUR für die Tabakdose bekam ich nie wieder, erneut Lehrgeld, eines von vielen Malen. Das Problem lag hauptsächlich darin, dass der Wert von 20 EUR in meinen Augen viel niedriger erschien, als es in der Haft der Fall sein sollte. In der Haftanstalt ist man mit 100 EUR Einkauf pro Monat schon einer der Reicheren und kann sich, auch, wenn man Raucher ist, ein paar Süßigkeiten leisten. Ich als Nichtraucher war mit 190 EUR also mehr als gut bedient. Doch es gibt Dinge auf der Einkaufsliste, die kann man nicht auf den weißen Zettel schreiben und bestellen:
„Hey Emre, hast Du einen Einkaufszettel bekommen?“ Savas und seine Türken standen vor meiner Zellentür, es war Freizeit, die Türen waren für ein paar Stunden geöffnet.
„Ja, 190 EUR.“ Das war gleichzeitig auch der Eintrittspreis. „Gut, schau mal, du kannst mit uns zusammen kochen und essen, aber wir kaufen alle gemeinsam ein. Gib uns deinen Einkaufzettel, wir kaufen dann Nudeln und das ganze Zeug. Du kannst Dir dann selber was für 50 EUR kaufen.“
Es war eine gute Entscheidung, ihnen meinen Einkaufszettel zu geben, denn somit hatte ich die endgültige Mitgliedschaft bei den Türken ergattert. Eine gemeinsame Kochgruppe hieß automatisch auch: „Dieser Junge gehört zu uns, wir kaufen zusammen ein, wir kochen zusammen, wir essen, lachen und weinen zusammen.“ Im Endeffekt zahlte ich immer etwas mehr als die restlichen Gruppenmitglieder. Hauptsächlich war dies dem geschuldet, dass ich Nichraucher war. Aber es hatte auch seine positiven Seiten, ich konnte abends immer was Gutes essen, auch wenn es meistens Nudeln waren, so schmeckten diese im Gegensatz zum Anstaltsessen. Leider war ich auch immer das Opfer, das abspülen durfte. Es dauert einige Zeit, bis ich da herauswuchs und nicht mehr die Rolle des Neulings hatte, doch diese Zeit fühlte sich lang, sehr lang an. In dieser Zeit hatte ich viele neue, auch schreckliche Personen kennen gelernt, gewöhnte mich an den Haftalltag und bekam wöchentlich Besuche von meinen Eltern. Sie weinten jedes Mal, machten mir Hoffnung und fragten mich, ob es mir gut ginge. Jedes Mal frage ich sie, wie es meiner kleinen Schwester ging, wie es meinem Bruder in der anderen Anstalt ging und machte auch ihnen Hoffnung, dass ich sicherlich bald rauskomme. Diese Zeit war lang, die Hoffnung war da, und dann war sie weg, nämlich als mein Anwalt mich das erste Mal besuchte, nach knapp einem Monat: „Junge, was habt ihr euch bloß dabei gedacht? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Ich habe mit Ihrem Vater geredet, Sie spielen jetzt keine Rolle! Ihr Bruder, er ist noch jung, er muss raus!“ Mein Anwalt hatte einen großen Ordner dabei, meine Ermittlungsakten. „Das heißt … ich mache ein Geständnis?“. Er blätterte in den Akten, holte tief Luft und blies sie wieder aus.

„Ja, genau das heißt es.“