Als meine Mutter und ich endlich daheim ankamen, sprang ich noch schnell unter die Dusche, bevor alle aufstanden. Ich stellte das Wasser auf eine angenehm warme Temperatur und wollte mich gerade in Gedanken verlieren, da fiel mir etwas auf. Ich musste fast laut lachen, als ich sah, dass ich alleine unter der Dusche mit Unterhose duschte. Es war wohl mittlerweile eine Gewohnheit geworden. Schnell zog ich sie aus und warf sie weg, um in meine Gedanken zu versinken. 

Es sind Bilder in meinem Kopf, die so präsent sind wie das Licht, welches meine Augen einsaugen. Bilder in meinem Kopf die sich zu Erinnerungen formen. Erinnerungen an meine Kindheit, die mich so fühlen lassen. Ein Sohn, voller Verzweiflung. Ein Sohn voller Angst. Ein Sohn voller Wut … voller Hass. Wieso fühlt ein Sohn solch negative Gefühle gegenüber seinem Vater, sein Fleisch und Blut? Meine Gedanken hatten sich stets auf mich konzentriert. Wie ich mich fühlte, wie ungerecht alles war und wie ich nach Mitleid schrie. Stets sah ich mich in der Opferrolle, der Schuldige war doch mein Vater. 

Das Gefühl daheim zu sein fühlte sich gut an. Weg vom Besuchsraum, weg von den kahlen Wänden, von den fremden Mithäftlingen. Endlich war ich daheim, in unseren eigenen vier Wänden, bei meiner Familie. Diese Wärme ist unbeschreiblich. Alle Menschen fühlten den Drang danach einer Gruppe zuzugehören, ein gemeinsames Ziel zu haben, eine gemeinsame Art des miteinander Lebens – ein Team. Mein Team, das war meine Familie. Gemeinsam lebten wir das Abenteuer Leben und versuchten alles Mögliche, dass es der Familie gut geht. Meine Mutter war stets für ihre Kinder da. Meine Zwillingsschwester war stets für mich da. Ich war für Cem da. Wir waren alle für die kleine da. Und unser Vater? War er wirklich für uns da? Und vor allem, wer war für ihn da?

Traurig, ich wusste kaum etwas über die Jugend meines Vaters. Ich hatte nie gefragt. Er hatte nie davon erzählt. Aber einiges wusste ich dennoch. In einem sehr kleinen Dorf in der Türkei, weit über die Grenzen Deutschlands weg, über die Balkanländer und weiter als Istanbul – im Herzen Anatoliens, genau dort wurde mein Vater geboren. Er hatte drei ältere Brüder und eine ältere Schwester – somit war er der Jüngste im Team, der Neue. Nun war er da, in einem Dorf, wo Männer das Sagen hatten und Frauen … nicht. In solch einem Fall scheint die Vaterfigur eine enorm wichtige Rolle zu spielen. Mein Vater wuchs ohne Vater auf. Nicht, weil sein Vater verstorben war, nicht, weil seine Eltern geschieden waren, und auch nicht, weil sein Vater im Gefängnis war. Mein Vater stellte sich sicherlich ab einem bestimmten Alter zum ersten Mal die Frage: „Wieso ist Papa nicht da?“ Für seine Mutter war die Frage womöglich einfach zu beantworten: „Naja, uns geht es hier nicht so gut. Dein Vater ist in Deutschland, damit er dort viel Geld verdient und es uns schickt, damit wir hier gut leben können.“ Ob diese Antwort verständlich für meinen Vater war? Und angenommen, er hätte es verstanden, dass sein Vater ihn alleine gelassen hatte, um Geld zu verdienen – würde er es auch nach 18 Jahren des Aufwachsens ohne Vater immer noch verstehen? Vielleicht war die größte Lehre, die er von seinem Vater bekommen hatte, die, dass finanzieller Wohlstand für die Familie wichtiger ist als die Familie selbst.

„Ein richtiger Bengel war dein Vater. Er ist nie still geblieben, stets hat er Mist gebaut und war noch stolz darauf. Dein Vater ist genauso wie Cem. Er war das schwarze Schaf unter den Geschwistern.“, erzählte mir meine Oma einst, als sie zu Besuch war. Sie liebte meinen Vater, egal wie frech er gewesen war. Ich weiß nicht viel darüber, was mein Vater in seiner Kindheit durchgemacht hat. Aber es schien, als hätte er eine schwierige Kindheit gehabt. Da waren Geschichten über Onkels, die ihn verprügelt hatten, politische Aktivitäten, die ihn für einige Tage in die Zelle brachten und er von Polizisten Prügel einstecken musste … Geschichten über die unfaire Behandlung der Kinder. Mein Vater blieb stets leer aus, seine Geschwister wurden bevorzugt. Irgendwann landete die ganze Familie in Deutschland, nur zwei meiner Onkel blieben – nämlich der, dem es gut ging, der das Studium finanziert bekommen hatte, einen Juwelier-Laden vom Vater bekommen hatte, der Verheiratete, dem Ältesten der Brüder. Und auch der mit sieben Jahren verstorbene Onkel blieb.

Die Schwester meines Vaters heiratete einen Imam aus Österreich und zog entsprechend dorthin. Der ältere Bruder heiratete aus der Umgebung, in der auch seine Eltern und mein Vater wohnten. Und so kam es, dass mein Vater eine junge Frau aus der Türkei heiratete und nach Deutschland, zu seinen Eltern holte. Meine Mutter war nun da für ihn, meine Oma war da für ihn – und mein Opa? Nun, er war da – aber nicht für irgendjemanden. Er war da, damit meine Oma für ihn da sein konnte. Er war da, damit mein Vater für ihn da sein konnte. Somit hatte mein Vater nie eine Vaterfigur gehabt. Und er war dabei eine Familie zu gründen, und somit eine Rolle einzunehmen, die er nicht kannte – die er womöglich mit negativen Gefühlen verband. 

Doch eines hatte er wohl gut gelernt. Geld verdienen, sparen und anlegen. Meine Mutter hatte uns Zwillinge frisch bekommen und trotz dessen oder wegendessen arbeitete mein Vater rund um die Uhr. Tagsüber war er am Band und baute Autos, nachts fuhr er Taxi und an Wochenenden ging er anderen Nebentätigkeiten nach – er war ein Arbeitstier. Er legte mehrere Sparkonten an, schloss Lebensversicherungen und Rentenversicherungen ab, kaufte Staatsanleihen, kaufte vorausschauend, in dem er Sonderangebote nutzte – ein richtiger Sparfuchs. Er kaufte Eigentumswohnungen, legte in Aktien an und investierte in Geschäftsideen – ein intelligenter Anleger. Da blieb ihm nicht viel Zeit für seine Familie übrig. Meine Mutter, meine Geschwister und ich kapselten uns immer mehr von meinem Vater ab. Wenn er arbeiten war, waren wir glücklich, locker drauf und konnten uns frei in der Wohnung begeben. War mein Vater zurück von der Arbeit, herrschte eine angespannte Stimmung – jedes Wort hätte gegen einen verwendet werden können. Mein Vater nutzte seine Freizeit, um seine Frau und seine Kinder zur Rede zu stellen. Stets erklärte er, wie gut er sei, was er alles für die Familie tue und wir alles ausnutzen würden, keinen Beitrag zur Familie leisten würden, wir ihn aussaugen würden. Er wollte es unbedingt. Er wollte die Anerkennung, die er endlich verdient hatte. Was war denn so schwer ihn als guten Vater wahrzunehmen, ihn zu respektieren und zu lieben? Warum taten seine Kinder dies nicht? Mein Vater tat nur das, was er von seinem Vater gelernt hatte: Finanzieller Wohlstand für die Familie ist wichtiger als die Familie selbst. Er hatte ein Vermögen aufgebaut und er war ziemlich gut darin. Diese Anerkennung hatte er verdient. Doch zu welchem Preis? War es die Familie wirklich wert? Zwischenmenschlich hatte er seine Kinder und seine Frau regelmäßig schlecht behandelt. Er schrie seine Kinder an, drohte seiner Familie, stand wegen schlechten Noten kurz davor handgreiflich zu werden, versprühte Hass und Wut gegenüber seiner Frau. 

Mein Vater konnte keine Liebe geben, nicht als Vater, doch als Sohn. Er tat alles für seine Eltern. Er war für seine Eltern da, als kein anderer da war. Keiner der Onkel, keiner der Tanten und vor allem keiner der Geschwister. Mein Vater nahm noch das bisschen Liebe und Anerkennung von seinen Eltern mit, was noch für ihn noch übriggeblieben war. Mein Vater war Opfer und Täter zugleich gewesen. Ich wollte nicht auch Opfer und Täter zugleich sein. Sollte ich etwa für meinen Vater da sein und ihm die Anerkennung schenken, die er sich so sehr von seinem Sohn wünschte? 

Dabei wollte ich es doch selber. Ich wollte die Anerkennung meines Vaters. Ich wollte ihn stolz machen. Ich war aber zu schwach dafür, genau wie er. Eines der größten Erfolge eines türkischen Kindes war zu meiner Zeit das Erlangen des Abiturs. Wenn Du nach der vierten Klasse für das Gymnasium empfohlen wurdest, dann warst Du jemand. Schnell sprach sich das unter den Türken rum: „Der Sohn von dem und dem geht auf das Gymnasium!“, „Ich wusste die sind sehr intelligent die Kinder“, „Masallah! Insallah werden unsere Kinder auch so.“ … Wie gerne wollte man dieses Kind sein. Wie gerne wollte man seine Mutter stolz machen, wenn ein Dutzend Frauen zu Besuch kamen und das Tratschen los ging und jeder ihren Sohn bewunderte. Wie gerne wollte man dafür sorgen, dass der eigene Vater erhobenen Hauptes durch die Straßen marschiert und alle türkischen Männer ihn bewundern. Damals war das ein Wettbewerb zwischen den Familien. Die ahnungslosen Kinder machten mit. Unter diesem Aspekt war ich stolz auf mich, dass ich trotz meiner schwierigen Kindheit und meinen Problemen irgendwie das Abitur bestanden hatte. Das war der größte Erfolg, den ich in meinem bisherigen Leben genoss. Die ganze Familie machte sich schick und wir fuhren zu meiner Abschlussfeier. Nach und nach wurden die Abiturienten aufgerufen, manche mit Belobigung, manche ohne … so wie ich. Aber dennoch, mein Name ertönte! Und ich nahm voller Freude meine Urkunde entgegen. Es war einer meiner schönsten Momente und ich war mir sicher, dass mein Vater stolzer nicht sein konnte. Nach der Feier saßen wir alle im Auto und überraschenderweise hatte mein Vater vorgeschlagen auswärts zu essen, in einem Restaurant. Mein Grinsen war breit auf meinem Gesicht zu sehen und so breit es war, so schnell konnte es auch ganz klein werden. Die Verkehrsampel schaltete auf grün und mein Vater fuhr gerade an, als er in den Rückspiegel blickte und mich ansah: „Das nächste Mal bringt mich zu so einer Veranstaltung nur dann, wenn ihr auch eine Belobigung bekommt.“ In diesem Moment zerbrach etwas, was ich so schnell nicht wieder zusammenflicken konnte.  

Diese Gedanken verfolgten mich das Wochenende über. Ich aß gemeinsam mit meiner Familie, wir konnten endlich über meine Haft lachen, konnten glücklich sein, konnten nach vorne blicken – es war Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Das Gefühl Familie konnte ich an diesem Wochenende intensiv spüren. Es war der Sonntagmorgen, ich hatte auf meinem weichen Bett geschlafen wie ein Stein und wachte im Morgengrauen ausgeschlafen auf. Wieder hüpfte ich unter die Dusche und genoss das komplett nackte duschen. Meine ganze Familie schlief noch wie kleine Schäflein, während ich es mir im Wohnzimmer gemütlich machte. Einige Minuten später tauchte plötzlich mein Vater auf. Ich war verwirrt. Es war noch viel zu früh, so wie ich meine Familie kannte, müssten sie noch mindestens drei Stunden schlafen. Ich hatte wohl meinen Vater geweckt oder er kam absichtlich, um ein privates Gespräch mit mir aufzusuchen. Er fing an zu reden. Es schien wohl ein wichtiger Moment für ihn zu sein, dass ich endlich ein Wochenende daheim verbringen konnte. Er brachte seine Freude zu Preis. Das war selten für mich und ich wusste nicht, was ich dabei fühlen sollte. Es fiel mir stets schwer positive Gefühle mit meinem Vater zu verbinden – sie waren mir so unbekannt, ich hatte Angst davor. Nun saß mein Vater vor mir und versuchte dieses unbekannte Gefühl in mir auszulösen. Doch er sorgte, dass es nicht dazu kam. Es war wie früher, nichts hatte sich geändert. Er erklärte, was er nun alles für seine Familie getan hatte, was er vor allem für mich getan hatte und nun … „und nun bin ich allein.“ Mein Vater zog bereits das Taschentuch. Ich war in einer Schockstarre: „Wie meinst Du das Papa? Du bist doch nicht allein?“ Meinen Vater hatte ich selten seine Gefühle ausdrücken sehen und nun beichtete er mir, dass er sich alleine fühlte. „Schau dich doch um? Wer ist für mich da? immer sagt ihr ich sei böse, ihr würdet Angst vor mir haben, ich würde schreien und sei geldgierig. Aber wer ist denn für mich da? Ich mach das alles für die Familie, nur damit es euch besser geht. Aber wer schaut, dass es mir gut geht?“ Ich vergaß stets, dass mein Vater tränen vergießen konnte. Es passierte so selten. Ich hatte ihn mit diesem Mal nun drei oder vier Mal weinen sehen.

Meine Grenzen konnte ich selten überschreiten. Ich war der Mensch, der sich gerne in der Komfortzone behielt. Doch das sollte sich ändern, das hatte ich mir in der Haft vorgenommen. Dass ich so früh bereits einer meiner größten Grenzen übersteigen würde, hätte ich nicht erwartet. Ich teilte ihm etwas mit, nicht weil er es verdient hatte zu hören, sondern, weil ich dadurch auf Besserung hoffte: „Ich bin für dich da Baba.“