„Der Weg ist das Ziel“ – so sagt man stets. Und oft merkt man erst aus der Retrospektive, dass es so ist. Während meines mir unendlich lang vorkommenden Wegs war mir dies noch nicht bewusst gewesen. Vielmehr plagten mich Ungewissheit, Trauer und Angst. Angst davor, dass ich mir all das Gute verspielt hatte, was ich immer wollte. Trauer darüber, dass es so kommen könnte, wie ich es nie wollte. Oft spürte ich deshalb einfach nur eine mich durchströmende Kälte auf meinem Weg. Doch auch die Freude leistete mir glücklicherweise hin und wieder Gesellschaft, und oft überkam mich eine Wärme, die mir seltsam vertraut war. Ich sah endlich das Licht am Ende des Tunnels und hörte, wie die Freiheit nach mir rief.

Das Ende meines Wegs war nahe und das fühlte sich gut an. So war ich den ganzen Tag über in Aufbruchsstimmung gewesen und dementsprechend fühlte ich mich etwas seltsam – so als wolle mir jemand oder besser gesagt etwas sagen, dass heute ein guter Tag war. Dass ich belohnt würde für meinen Weg. Mein Vater fuhr mich nach dem Besuch zurück zum Bauernhof, sodass wir ganze zwei Stunden nur für Vater-Sohn-Gespräche hatten. Wir sprachen viel, es gab so viele Probleme zu lösen, um unser ungesundes Verhältnis doch noch eines Tages heilen zu können. Doch dies war ein anderer Weg, den wir noch gehen mussten, und so würde er, nachdem er mich abgesetzt hatte, alleine wieder nach Hause fahren. Und ich würde beginnen, mich wieder mit meinen Alltagssorgen im Freigang zu beschäftigen: mein Studium, meine Zukunft. 

Am Bauernhof angekommen, verabschiedete ich mich also von meinem Vater, dem es in der Tat schwer fiel, wieder zu gehen. Nachdem er sich losgelöst hatte, meldete ich mich sofort bei Herrn Kuhn und blickte ihm hoffnungsvoll in die Augen. Er drückte mir einen Brief in die Hand, welcher mich jedoch im ersten Moment ziemlich enttäuschte: Der Absender war nicht die Hochschule, wie ich es mir so sehr erhofft hatte, sondern das Regierungspräsidium. Ich begab mich in mein Zimmer und begrüßte Tarik. Knapp erzählte ich ihm von dem Wochenende, während ich es mir auf dem Bett gemütlich machte. Schließlich begann ich, den dicken Brief zu lesen. Ich konnte kaum fassen, wie knapp ich davon gekommen war. „Alter, Tarik, das ist so krass! Die haben echt mit dem Gedanken gespielt, mich abzuschieben. Die Entscheidung, dass ich bleiben darf, ist sehr knapp ausgefallen. Ich realisiere jedes Mal aufs Neue, was ich mit meiner Tat alles riskiert habe.“ Tarik schien das irgendwie egal zu sein, er hatte wohl gerade Probleme mit seiner Freundin.

Während ich versuchte einzuschlafen, machte sich abermals die Angst in mir breit. Gerade, als ich so sicher war, dass nun endlich das Studium anfangen würde, war mir nochmals vor Augen geführt worden, dass ich mir bei nichts sicher sein durfte. Meine Freude war so zerbrechlich. Beinahe hätte es mich auf einen komplett anderen Weg verschlagen – weg von Deutschland, in die Türkei. Auch mit der Hochschule Ravensburg hatte ich es mir vermasselt. Meine deutsche Staatsangehörigkeit hatte ich zudem verloren. Was wäre, wenn es nun mit dem Studieren im Freigängerheim nicht klappen würde? Ich hatte gar keinen Plan B, keinerlei Alternativen. Ich hatte ob meiner Hilflosigkeit plötzlich das starke Bedürfnis, nach Hilfe zu rufen. Doch wer könnte mir schon helfen? Ich war es stets gewohnt, Allah anzubeten. Ihn zu bitten, mir zu helfen. Doch wäre es nicht verlogen, einen Gott anzubeten, ohne an irgendeine Religion zu glauben? War es nicht verlogen, nur dann Gott anzubeten, wenn man etwas von ihm wollte? Oder war es am Ende sogar eine Art Geben und Nehmen? Ich gebe ihm Respekt, Furcht, Liebe, Angst … und im Gegenzug erhört er meine Gebete? Oder waren wir einfach nur stets in seiner Schuld, da er uns das Leben schenkte? War es denn überhaupt ein Geschenk? Für Geschenke erwartet man doch keine Gegenleistung, also warum sollte Gott eine solche erwarten? Meine Gedanken plagten mich mal wieder und auch, wenn die Antworten zu den Fragen unangenehm ausfielen, so wusste ich, dass es nur einen Weg gab, mich in gewohnter Weise sicher und geborgen zu fühlen: „Lieber Gott, Allah, oder welches Wesen du auch immer bist. Ich weiß nicht, ob es dich gibt. Auch nicht, ob Religion wirklich dein Ding ist. Aber bitte gib mir die nötige Kraft, die Geduld, die Ausdauer und die Stärke, um das Ganze durchzustehen – lass mich die letzten Meter auf diesem Weg nicht im Stich. Ich werde dich nicht enttäuschen!“ Als ich dieses Gebet leise vor mich hin flüsterte, wurde mir bewusst, dass Gott es womöglich gar nicht gehört hatte. Aber jemand anderes Wichtiges hatte es zur Kenntnis genommen. Dieser jemand war niemand anderes als ich selbst. Die letzten Jahre hatte ich nicht in einem Gefängnis verbracht, sondern in meinem ganz persönlichen Tempel, in meinem eigenen Kloster, in meiner Moschee, in meiner Kirche – in meinem Kopf. 

Der Februar kam und war im Begriff, wieder zu gehen. Nichts geschah, bis auf die Tatsache, dass die Anspannung in mir anstieg, und in diesem Moment gesellte sich noch ein nagendes Hungergefühl dazu. Tarik hingegen schien recht locker damit umzugehen, dass auch er noch keine Rückmeldung zu seiner Bewerbung bekommen hatte. Er hatte sich für Maschinenbau beworben, doch sicherlich nicht mit der Intention, diesen Studiengang auch abzuschließen. Es ging ihm wohl vielmehr um die Freiheit, die er als Student bekommen würde. Für mich war das ganz anders. Meine komplette Zukunftsplanung hing von dieser für mich lebensrettenden Zusage ab. So war es kein Wunder, dass ich regelrechte Freudensprünge machte, als Herr Kuhn mir einen großen DIN A4 Umschlag in die Hand drückte. Absender war die Hochschule Heilbronn! Mein Herz fing an, wie wild zu pochen, aus meinen Händen strömte der Schweiß, Schmetterlinge tobten in meinem Bauch – solche Gefühle hatte ich zuletzt in meiner Pubertät empfunden, als ich mich in ein Mädchen aus unserer Schule verguckt hatte. Ich rannte sofort in mein Zimmer, nahm zwei, drei Stufen auf einmal und vergaß dabei das Atmen. Als ich komplett aus der Puste in meinem Zimmer ankam, die Tür verschlossen und den Briefumschlag förmlich aufgerissen hatte, überflog ich die ersten Zeilen. Sie waren sehr vertraut – ich wusste sofort, worum es sich ging. 

Wenn ich in einem Bewerbungsgespräch mit der Frage konfrontiert werden würde, was denn meine Freunde als meine größte Stärke bezeichnen würden, dann würde ich antworten, dass das Beste an mir meine positive Ausstrahlung ist. Dass ich dazu imstande bin, sofortige Sympathie mit meinem charismatischen Lächeln zu erzeugen und damit ein angenehmes Gefühl beim Gegenüber auszulösen. Ich war ständig lächelnd unterwegs, doch selten breitete sich das Grinsen derart in meinem Gesicht aus, wie in diesem Moment: Ich hatte endlich meine lang herbei gesehnte Zusage bekommen! Es würde nun endlich beginnen – mein Leben. Die Eintrittskarte hielt ich bereits in der Hand, jetzt mussten mich nur noch die „Türsteher“ reinlassen. Mein Hungergefühl war weg, mein von Endorphinen überflutetes Gehirn fokussierte sich nur noch auf das Eine: Ich musste unbedingt die nächsten Schritte einleiten! Sofort suchte ich Herrn Kuhn auf und teilte ihm mit, dass es sich bei dem Brief von Heilbronn um eine Zusage handelte und fragte, welche weiteren Schritte nun vonnöten seien. Er nahm den Brief in die Hand und überflog das Anschreiben ebenfalls, woraufhin er sich an mich wandte. „Herzlichen Glückwunsch, Herr Ates. Weiß denn die Hochschule Heilbronn Bescheid, dass Sie vom Freigängerheim aus studieren werden?“ Auch, wenn ich die Antwort kannte, überlegte ich kurz, warum das relevant sein könnte, bevor ich ihm antwortete: „Ähm, nein. Also, ich habe der Hochschule nichts mitgeteilt. Hätte ich dies tun müssen?“ Herr Kuhn schien etwas entsetzt zu sein, dass ich diese Frage überhaupt stellte: „Natürlich muss die Hochschule das wissen. Sonst macht das Freigängerheim da auch nicht mit.“ Mir wurde schlecht. Dieses Auf und Ab meiner Gefühle war so anstrengend. Ich spürte, wie mich die ganze Energie wieder verließ und das Hungergefühl in Form eines flauen Gefühls in der Magengegend wieder hoch kam: „Soll ich da mal anrufen?“ Herr Kuhn zeigte auf das Telefon. „Wäre keine schlechte Idee.“ Ich wählte die Nummer der Hochschule Heilbronn, welche auf dem Anschreiben vermerkt war. Jedes Tonsignal, das während des Anrufs ertönte, fühlte sich wie eine Achterbahnfahrt an – wie jener Moment, wenn es schnell und steil nach unten geht und man in einem kurzen Momentum der Schwerelosigkeit ist. 

Zum Glück war die Achterbahnfahrt nur von kurzer Dauer, eine Dame ging zügig ran:
„Sekretariat der Hochschule Heilbronn, Frau Müller am Apparat, wie kann ich helfen?“ Ich musste kurz husten, da meine Kehle zwischenzeitlich sehr trocken geworden war: „Hallo, hier Ates. Ich hatte mich bei Ihnen für den Studiengang Wirtschaftsinformatik beworben und habe soeben meine Zusage erhalten, was mich sehr gefreut hat. Allerdings muss ich Ihnen etwas mitteilen, und es klingt etwas seltsam. Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Aber Folgendes: Ich bin seit ca. zwei Jahren im Gefängnis in Schwäbisch Hall und stehe kurz vor meiner Entlassung. Die JVA Schwäbisch Hall hat mir die Möglichkeit gegeben, während der letzten Monate, welche ich im Freigängerheim verbringen werde, mein Studium zu beginnen. Nun wollte ich fragen, ob das in Ordnung ist, oder ob ich da noch was klären muss?“ Ihre Antwort kam schnell und fiel sehr kurz aus: „Ja, das ist kein Problem, solange die JVA zugestimmt hat.“ Ich war überrascht und perplex: „Echt jetzt? Vielen Dank!“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ebenfalls verstand ich auch nicht, wieso die Dame am Apparat nicht verwirrt war – als hätte sie bereits Bescheid gewusst. „Ja, das ist in Ordnung. Sie müssen wahrscheinlich noch ein Gespräch mit der Studiengangs-Assistentin führen. Aber in der Regel passt das.“ Ich hätte weinen können vor Glück: „Ah ja, stimmt. Das steht tatsächlich in meinem Anschreiben drin. Vielen Dank nochmal! Das bedeutet mir sehr viel!“ Ich spürte, wie die Dame am Apparat ebenfalls lächelte: „Dann wünsche ich Ihnen mal viel Erfolg und Willkommen an der Hochschule Heilbronn.“ Meine Motivation stieg wieder ins Unermessliche.

Ich legte auf und blickte Herrn Kuhn grinsend an, der mir allerdings keine weitere Beachtung schenkte und irgendwelche Unterlagen durchblätterte. „Darf ich noch kurz meine Familie anrufen und Ihnen die erfreuliche Nachricht mitteilen?“ Er machte eine eindeutige Handbewegung Richtung Telefon und erteilte mir somit die Erlaubnis. Ich zögerte keine Sekunde und griff erneut nach dem Telefon: Diesmal stieß mein Körper bei jedem Tonsignal jede Menge Endorphine aus – so viel Glück hatte ich seit langem nicht gespürt. Meine Mutter ging ran: „Anne! Ich bin’s, Emre.“ Ich konnte spüren, wie ihr himmlisches Lächeln ihr Gesicht zierte: „Oglum, wie schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?“ Ich holte tief Luft: „Blendend Mama, blendend! Ich habe eine Zusage von der Hochschule Heilbronn erhalten! Wir müssen nur noch mit der Studiengangsassistentin reden.“ Meine Mutter reagierte wie erwartet mit Freude, setzte jedoch noch den religiösen Unterton in ihre Antwort: „… Insallah wird das mit Allahs Erlaubis passieren.“ Auch, wenn mich mittlerweile solche Aussagen störten, so konnte mich dies nicht daran hindern, dem in alter Gewohnheit ein „Amin“ hinzuzufügen. 

Mit Herrn Kuhn vereinbarte ich, dass ich am Freitag früher zum Ausgang durfte, damit ich zur Hochschule Heilbronn konnte. Dementsprechend musste ich am Sonntag auch früher zurückkommen. Meine Eltern holten mich am frühen Freitagmorgen ab, den Termin mit der Studiengangs-Assistentin hatten wir passend arrangiert. Auf der Hinfahrt bemerkte ich, dass die Aufregung, die ich verspürte, nicht bei meinen Eltern ankam. Sie standen dem Ganzen sogar eher skeptisch gegenüber. Konnten nicht glauben, dass ich mein Studium nun endlich beginnen würde. Einige Unsicherheiten schienen sie ständig zu beschäftigen. Meine Eltern und ich hatten in letzter Zeit einfach viel zu viel Schlechtes erlebt – bezüglich meiner Eltern leider ohne, dass sie eine Schuld traf. Nun war die Zeit gekommen, mich zu beweisen. Meine zweite, dritte, vierte … keine Ahnung, wie viele Chancen ich schon hatte. Aber diesmal war es definitiv die Letzte – noch einen Patzer wollte ich mir selbst nicht erlauben. Um es meinen Eltern, meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten zu beweisen, musste ich es mir erst einmal selbst beweisen. Ich musste zufrieden mit mir sein. Mit meiner Leistung, meinen Zielen und Träumen. Meinen Weg würde von nun an ich selbst bestimmen. So unsicher wie meine Eltern über meine Zukunft waren, so sicher war ich mir, dass eine rosige Zukunft auf mich wartete. Ich hatte mich verändert, verbessert und würde um viele Erfahrungen reicher. Meine Eltern waren sich meiner Veränderung nicht bewusst. Doch ich wusste einfach, dass da draußen mich etliche Veränderungen erwarteten.

An der Hochschule Heilbronn angekommen, empfing mich die Studiengangsassistentin und wir begaben uns in einen der Arbeitsräume. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde ging sie zuerst auf das Inhaltliche des Studiengangs ein und befragte mich hiernach bezüglich meiner abgebrochenen Studiengänge. Erst zum Schluss ging sie auf meine aktuell prekäre Situation ein. Das war das erste Mal, dass ich jemandem außerhalb des JVA-Umfeldes mitteilte, was ich getan hatte. Dabei kam ich mir sehr unwohl und unsicher vor. Ich konnte nicht begründen, weshalb ich den Betrug begangen hatte, meine Entschuldigung fühlte sich unehrlich an. Mir wurde klar, dass ich langsam müde wurde, mich stets hinter Rechtfertigungen verstecken zu müssen (was ohnehin nicht ging und ich auch nicht wollte) – ich wollte nicht mehr durch Worte überzeugen, ich wollte endlich Taten sprechen lassen. Ich machte ihr klar, dass ich mit meiner Vergangenheit abschließen wollte, dass ich nur noch die Zukunft sähe, ich erklärte ihr meine Ziele, meine Werte, meinen Antrieb. Und desto mehr ich redete, umso mehr lächelte sie. Ich wusste, sie sah das Feuer in meinen Augen, und ich wusste, ich hatte mich gut verkauft. Ich spürte die Stärke in mir: So einfach würde mich niemand mehr unterkriegen, so einfach würde ich nicht mehr aufgeben – ich selbst war mein bester Freund, also tat ich auch alles in meiner Macht stehende, damit es meinem besten Freund gut ging. Es klang schon fast nach „Sie haben den Job!“ – als sie mir die Hand reichte und sich für die positiven Vibes bedankte. Sie empfahl mir noch den Mathe-Vorkurs, der zwei Wochen vor dem Studienbeginn startete. „Natürlich werde ich daran teilnehmen“, antwortete ich und verließ grinsend das Zimmer. Dort empfingen mich die fragenden Blicke meiner Eltern. „Der erste Schritt ist getan. Baba, Anne, ihr werdet sehen, ab jetzt geht es bergauf.“ Es gab keine Glückwünsche seitens meines Vaters, kein ‚Gut gemacht!‘, keine Freude, keine Wut, kein Hass – irgendwie nur für mich kaum greifbare Gefühle. Nur Unsicherheiten. „Allah utandirmasin“ – Wortwörtlich übersetzt: „Möge Allah dafür sorgen, dass wir uns nicht schämen müssen.“ Meine Eltern hatten ihr ganzes Leben, ihr Glück, ihre Freude, ihre Angst, ihren Hass, ihren Sinn für Gerechtigkeit und alles, was das Leben ausmachte, in die Hände von Allah gelegt. Ich hingegen wollte mich nicht mehr wie eine Marionette fühlen. Ich wollte Gutes tun, weil ich es wollte – nicht für den Himmel. Ich wollte mich für schlechte Taten schämen, sie bereuen – nicht aus Angst vor der Hölle. Ich wollte einfach menschlich sein, frei sein. 

Das Wochenende daheim verging wie im Flug – jedoch nicht wie ein Flug mit Ryanair, dieser Höhenflug war vielmehr à la First-Class Turkish Airlines. Meine kompletten Gedanken konzentrierten sich auf die Vorbereitung zum Mathe-Vorkus und der Klärung mit der JVA, um rechtzeitig in das Freigängerheim verlegt zu werden. Ich war bereits zurück im Bauernhof und sprach mit Tarik über seine Situation. Er hatte ebenfalls eine Zusage erhalten und wollte am Mathe-Vorkurs teilnehmen. Zu meinem Entsetzen ging mein Mathe-Vorkurs lediglich eine Woche, wohingegen seiner ganze zwei Wochen ging. Doch mein Kurs wurde zwei Mal angeboten. Also ergriff ich die Chance und meldete mich zwei Mal an – Hauptsache, ich durfte raus. Dass es sich zwei Mal um denselben Kurs handelte, der noch dazu nacheinander stattfand, verschwieg ich der JVA. 

Langsam fühlte ich mich gut, wenn ich die Kühe ansah. Ich hatte mich an sie gewöhnt. Dieser Ort als Zwischenstation war schön gewesen. Er glich zwar einem Warteraum, doch die Vorfreude, bald aufgerufen zu werden, fühlte sich atemberaubend an. Wie eine Wiedergeburt. So hatten es mir die Imame und Hocas in der Moschee erzählt: „Bevor ein Mensch auf die Welt kommt, wartet er im Jenseits – wartet, bis er drankommt, und sein Geist in die Gebärmutter seiner Mutter eingehaucht wird. Und alles, was man wusste, gerät in totale Vergessenheit – man kann sich an das Leben zuvor nicht erinnern.“ 

Doch das würde ich nicht zulassen. Alles, was ich hier erlebt hatte, alles, was mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin und in Zukunft sein werde, alles wollte ich niederschreiben. Denn ich wusste, man vergaß nur zu schnell, wie die Zeit hier war. Oft hatte ich es von meinen Mithäftlingen gehört, die schon mehrmals zurück ins Gefängnis gekommen waren, weil sie den Absprung nicht geschafft hatten. Ich konnte es damals nicht verstehen, doch jetzt verstand ich es: Einst hatte ich kurz vor dem Sport, als wir in der Umkleidekabine eingesperrt waren und auf den Wärter warteten, mit einem angeschlagen wirkenden Häftling geredet: „Wieso baust du denn immer noch Mist, wenn du weißt, du kommst sowieso wieder rein? Ich meine, das dritte Mal ist schon heftig. Du hast ja fast ein Jahrzehnt deines Lebens verloren.“ Er sah mich an, wie ein Lehrer einen Schüler ansah, als sei er ein Weiser: „Emre, so gut wie jeder, der einmal im Gefängnis war, kommt wieder rein. Wenn man entlassen wird, dann wird man überschüttet vom Leben, überschütten vor Freude und ist erstmal in einem Rausch. Doch irgendwann, und das passiert sehr schnell, da holen einen die Probleme ein. Die Altlasten, die Neulasten. Irgendwann hat man Sehnsucht nach dem exzessiven Leben, das man zuvor geführt hat. Irgendwann ist das normale Leben nicht mehr genug. Und mit dem Verlangen nach mehr, redet man sich den Knast als nicht so schlimm ein. Erinnert sich an die guten Zeiten in der Haft. Vergisst, wie langsam die Zeit hier vergeht – schaut zurück, schaut aber weg. Ich wünsche Dir, dass du nicht wieder reinkommst. Du siehst mir nach einem ordentlichen Jungen aus – aber die Statistik spricht leider für sich.“ 

Meine letzten Stunden hatten geschlagen. Mein letzter Dienst im Kuhstall, mein letzter Dienst als Gefangener – ich würde nun Freigänger werden. Ich hatte Vieles erlebt an diesem Ort, der meditativ und befreiend für mich gewesen war. Hier hatte ich den Windzug der Freiheit gespürt. Die Geburt der Drillinge war eines der besten Beispiele. Heute arbeitete ich besonders gut, wollte einen guten Eindruck hinterlassen und danach die Leute hier nie wiedersehen. Niemand verabschiedete sich hier mit einem „Auf Wiedersehen“. Als wir fertig mit der Stallarbeit waren, wurden wir vor der Tür vom Anstaltsleiter empfangen. Er wollte von Tarik und mir wissen, wie wir gewährleisten konnte, dass wir uns auch tatsächlich an der Hochschule und nicht irgendwo anders aufhielten. Die Lösung kam von mir wie aus der Pistole geschossen: „Wie wäre es, wenn wir nach jeder Vorlesung eine Unterschrift vom Professor einholen, die bestätigt, dass wir anwesend waren?“ So schnell, wie ich mit dem Vorschlag war, so schnell kam auch die Einwilligung: „Geht klar, der Vorschlag klingt gut.“ 

Tarik und ich packten unsere Sachen, verabschiedeten uns von den übrig Gebliebenen, stiegen in den Transporter und waren innerhalb weniger Minuten vor dem Freigängerheim. Hier begrüßten wir die alten bekannten Gesichter. Das Freigängerheim war ein gewöhnliches Gebäude, von außen schien alles normal zu wirken. Aber auch das Innenleben war völlig normal. Es glich einem Wohnheim. Keine Gitter, keine verschlossenen Türen. Tarik und ich wurden in ein Zimmer gesteckt, das gerade mal Platz für zwei Betten und zwei Schränke hatte. Dies war trotz allem ein Upgrade zu unser vorigen Wohnsituation. Alleine die Matratze glich, im Vergleich zu jenen der JVA, einer weichen, kuscheligen Wolke. Nachdem wir uns eingenistet hatten, klopfte der Freigängerheimsleiter an unserer Tür und bat uns runter in sein Büro. Er erklärte uns, dass wir täglich eine Stunde in die Stadt und drei Wochenenden im Monat daheim verbringen durften. Er erklärte, dass wir zum Wochenbeginn stets unser Geld abholen konnten. In meinem Fall bedeutete dies, dass ich montags 150 EUR abholen und meine wöchentlichen Besorgungen damit machen konnte. Dieser Betrag war sehr hoch für mich. Ich war es die letzten zwei Jahre gewohnt gewesen, mit 130 EUR im Monat auszukommen. Jedoch war im Freigängerheim keine Verpflegung inbegriffen. Außerdem erklärte er uns, dass wir jede Woche unseren Stundenplan ausdrucken und nach jeder Vorlesung die Unterschrift der Professoren bzw. Dozenten einholen müssten. Am Ende der Woche sollten wir dann den unterschriebenen Stundenplan im Freigängerheim abgeben. All dies erläuterte er uns mit großem Nachdruck, der fast schon negativ war. Für mich war all das jedoch sehr positiv und zauberte mir ein Grinsen ins Gesicht, bei dem ich Angst hatte, einen Muskelkrampf an den Backen zu bekommen. Ich konnte die Nacht im Freigängerheim kaum einschlafen. Die Aufregung ging einfach nicht mehr weg. Tarik war überraschenderweise sofort eingeschlafen. Dass allerdings auch er aufgeregt war, bemerkte ich daran, dass er sehr früh auf der Matte stand und sich hektisch zwischen Bad, Küche und unserem Zimmer Hin und Her bewegte. Nachdem wir uns beide frisch gemacht hatten, fiel uns auf, dass wir beide weder einen Block, noch einen Stift besaßen. „Lass uns einfach im Mathe-Vorkurs jemanden fragen“, schlug Tarik vor. „Haha, das ist ja mal ein toller Start. Werden gleich einen schlechten Eindruck hinterlassen. Lass uns dann heute beim Stadtausgang zum Müller oder so.“ Ich schmunzelte zwar, doch in Wirklichkeit war es mir wichtig, von Anfang an Gas zu geben. Wir meldeten uns an der Rezeption vom Freigängerheim ab, erhielten unser „Taschengeld“ und öffneten die Eingangstür. Dieser Moment war unvergesslich für mich. Ich ich hatte mich stets gefragt, wann mein neuer Weg anfangen würde, und wie dieser wohl aussehen würde. Als ich meinen ersten Schritt nach draußen machte, spürte ich genau das, was ich seit meinem ersten Tag im Bauernhof unbedingt wieder spüren wollte: Das Gefühl von Freiheit. Diesmal intensiver, stärker, heftiger. Als wäre ich in Trance, als würde ich aus der Matrix erwachen.

Es war noch dämmrig, als ich wie vom Wind getragen die Gassen Schwäbisch Halls entlang schwebte und die vom Morgentau feuchten Steintreppen hinunter schritt. Runter in ein Paradies aus Bäumen, grüner Wiese und dem Singen der Vögel. Meine Fußstapfen hinterließ ich voller Stolz im Matsch und trat kräftig auf die Kieselsteinen, die sich durch die Schuhsolen hindurch wie eine Massage an den Füßen anfühlten. Ich atmete schnell – das Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich blieb stehen, mitten im Paradies, mitten in diesem wunderschönen Park. Ich atmete tief ein und aus. Ich beruhigte mich. Der Gesang der Vögel begleitete meine angenehmen Gedanken und meine warmen Gefühle. Es fühlte sich an, als würde mein Geist erwachen und sich vom Körper befreien, hoch hinaus in die weite Welt. Ich fing wieder an zu laufen, keinesfalls durfte ich die Bahn verpassen – ach, die gute alte Deutsche Bahn. Sogar beim Gedanken an sie musste ich lächeln! Die Morgendämmerung war wunderschön und die Sonne schien mit mir zu erwachen. Ich war am Bahnsteig angekommen und sah ein paar Leute in ihren Jacken eingekuschelt dort stehen. Sie alle warteten auf die Bahn. Ich konnte es kaum glauben, dass ich mich alleine unter einer Menschenmenge befand – so nah, und doch fühlte ich mich ihnen fern. Dass Tarik die ganze Zeit neben mir gelaufen war, hatte ich total ausgeblendet. Er schien weniger beeindruckt von dem Ganzen hier. Als die Bahn ankam, und das sogar pünktlich, versuchte ich, wie ein kleines Kind als einer der Ersten einzusteigen, um einen Fensterplatz zu ergattern. Ich genoss die Wärme, die den Waggon durchströmte. Ich erblickte Menschen, die ihre Zeitung lasen, hörte Jugendliche, deren Musik so laut lief, dass gleich die Kopfhörer zu platzen schienen, und roch den leckeren Duft von cremigem Kaffee, während ich mich auf den weichen Sitz der Regionalbahn hineinsinken ließ. Die Türen schlossen sich und ich malte mir ein „Tschuu Tschuu“, das normalerweise nur Eisenbahnen von sich gaben, gedanklich aus, als der Zug startete. Ich hatte meine Ausgänge gehabt – ich war schon ein, zwei, drei Mal draußen gewesen. Jedoch nie allein, nie wirklich frei. Meine Eltern mussten stets an meiner Seite sein, ich war quasi immerzu daheim gewesen. Damals jedoch wollte ich das so – ich wollte die Wärme meines Heimes spüren, wieder das Essen meine Mutter kosten, mit meinen Geschwistern streiten und meinen Vater meckern hören. Ich hatte meine Ausgänge daheim verbracht, weil ich noch nicht bereit gewesen war für die Freiheit. Zuerst musste ich die Beziehung zu meiner Familie pflegen, ihnen zeigen, dass sie sich keine Sorgen mehr um mich machen mussten. Ich musste ihnen klar machen, dass ich gewillt war zu studieren, motiviert war, mein Bestes zu geben. Daher war der Freigang heute der aufregendste Freigang, den ich je hatte. Denn dieser Freigang war das Ende eines Traumes. Ich hatte es geschafft, ich konnte endlich studieren – mein Traum wurde wahr. Und ich wusste, mein neues Leben fing genau jetzt an.

„Der Weg ist das Ziel“ – so sagt man stets. Und oft merkt man erst aus der Retrospektive, dass es so ist. Während meines mir unendlich lang vorkommenden Wegs war mir dies noch nicht bewusst gewesen. Vielmehr plagten mich Ungewissheit, Trauer und Angst. Angst davor, dass ich mir all das Gute verspielt hatte, was ich immer wollte. Trauer darüber, dass es so kommen könnte, wie ich es nie wollte. Oft spürte ich deshalb einfach nur eine mich durchströmende Kälte auf meinem Weg. Doch auch die Freude leistete mir glücklicherweise hin und wieder Gesellschaft, und oft überkam mich eine Wärme, die mir seltsam vertraut war. Ich sah endlich das Licht am Ende des Tunnels und hörte, wie die Freiheit nach mir rief.