„Herzlich Willkommen an der Hochschule Heilbronn“, stand in großen Lettern auf einem Banner vor dem Haupteingang. Eine große Masse an Studenten schwirrte in der Aula herum, manche bereits in kleinen Gruppen – andere noch als Einzelgänger. Nach einer Weile bemerkte ich, dass uns viele mit ihren Blicken taxierten. „Hey Tarik, die gucken uns alle so an. Glaubst du, die wissen, dass wir von der Haft sind?“, fragte ich besorgt fühlte mich unwohl bei dem Gedanken. „Jetzt mach dich nicht so wichtig. Die wissen nichts. Du bist denen doch total egal. Und wenn die es wissen sollten, was soll’s“, erwiderte Tarik. Dass er eher stolz als beschämt über seine Situation war, war kein Geheimnis – das war nun mal seine Welt. Ganz im Gegensatz zu ihm wollte ich raus aus dieser Welt und hinein in jene, in die ich nun meine ersten zögerlichen Schritte wagte. Umso mehr ich die anderen Studenten ansah, desto mehr wurde mir bewusst, weshalb wir auffielen. Oder besser gesagt, weshalb Tarik auffiel. Er trug eine Jogginghose und ein Oberteil mit schwarzer „Security“ – Aufschrift, wobei er den Look mithilfe einer Eastpak-Bauchtasche und einer protzigen Goldkette komplettierte. Wenn die Leute an ihm vorbeiliefen, wurden sie von einer erdrückenden „Joop“ – Parfumwolke weggehauen. Es handelte sich bei Tarik um einen Prototypen der Sorte „Gangster-Kanake“. Doch es schien vor allem die Kombination aus ihm und mir zu sein, welche Aufsehen erregte. Ich hatte mich nämlich so unauffällig wie möglich gekleidet, war jedoch oft mit ihm unterwegs.
Als wir die Räume gefunden hatten, in denen jeweils unser Mathe-Vorkurs stattfinden würde, verabschiedete ich mich von Tarik. Nun war ich komplett auf mich allein gestellt. „Na dann: Action!“, dachte ich mir und begab mich voller Energie und wie immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht in den Seminarraum. Ich war so nervös! Endlich würde ich mich unter Gleichgesinnte begeben. Als ich meinen Blick über die vielen Menschen gleiten ließ, wurde ich von Dutzenden hübscher Gesichter geblendet. Voller Euphorie stand ich vorne an der Tafel, war wie gelähmt, doch mein Mund musste unbedingt etwas loswerden – wollte endlich reden, etwas erzählen – und das Erste, was meinem Gehirn in den Sinn kam, war natürlich ein extrem schlechter Witz: „Hallo Leute, ich bin der Emre! Und auch, wenn es so aussieht, nein, ich bin nicht der Tutor.“ Viele beachteten mich gar nicht, keiner verzog die Miene – doch immerhin schienen sie nicht miteinander zu tuscheln, oder gar über mich zu lachen. Dass das gar nicht lustig war, wurde mir just in dem Moment bewusst, als der Witz gerade erst meine Lippen verlassen hatte. Aber meine Begrüßung hätten sie trotz allem irgendwie erwidern können, dachte ich mir etwas beleidigt. Auch, wenn ich mich grundsätzlich als extrovertiert beschreiben würde, so waren mir derlei Situationen schnell peinlich. Bevor also jemand mein rotes Tomatengesicht sehen konnte, setzte ich mich nach der missglückten Begrüßung in die erste äußere Reihe und versuchte, mich zu beruhigen. Als der Tutor, ein Student aus dem höheren Semester, den Raum betrat, schaute ich mich schnell nach einem Stift und Papier um. In meiner ersten Reihe befand sich außer mir niemand, also fragte ich in der zweiten Reihe – die recht gut gefüllt war – einfach in die Runde. Eine Studentin reichte mir Stift und Papier rüber, ich bedankte mich. Nach einer kurzen Einführung fing der Tutor an, uns den Stoff zu erklären. Ab da hing ich an seinen Lippen und beging meinen ersten, ganz persönlichen Rausch an diesem Tag.
Der Lernstoff fühlte sich tatsächlich wie eine Droge an. Mein Gehirn schreite förmlich danach, schöpfte alle Kapazitäten aus, die in den letzten Jahren ungenutzt waren – der Tank wurde gerade mit Lernstoff beladen, mein Fuß am Pedal, nun hieß es: „Gas geben!“
Ich konnte es kaum glauben, als bereits die erste Pause anstand. Es war schon lange her, dass sich Zeit so relativ angefühlt hatte – derart schnell war sie seit Jahren nicht vergangen. Ich nutzte erneut die Gelegenheit, um eine etwas lockere Atmosphäre zu schaffen. Ich konnte es einfach nicht ertragen, in einem Raum mit unzähligen Studenten zu sitzen, und keiner wechselte ein Wort mit dem anderen. Ich stand auf, setzte mich mit Schwung auf die erste Tischreihe und wandte mich an meine Mitstudierenden: „Hey Leute, lasst uns doch eine Vorstellungsrunde machen! Ich fange auch an: Ich bin Emre Ates, komme aus dem Raum Stuttgart und studiere Wirtschaftsinformatik im ersten Semester.“ Diesmal hatte ich die volle Aufmerksamkeit der anderen. Manche sahen mich verwirrt an, andere wiederum hatten sogar ein Lächeln im Gesicht – und tatsächlich, einer ganz vorne begann, sich vorzustellen. Die nächste, ein hübsches Mädchen, war zwar auch noch etwas zögerlich, stellte sich jedoch auch mit einem schüchternen Lächeln vor. Ab da lief die von mir initiierte Vorstellungsrunde wie geschmiert und ich war mächtig stolz auf mich, denn ich hatte trotz der anfänglich bescheidenen Situation all meinen Mut zusammen genommen. Der restliche Vormittag verging weniger spektakulär – zumindest für die anderen. Denn ich war noch in meinem extremen Rausch gefangen.
In der Mittagspause fragte mich Nina, die ebenfalls Erstsemester in Wirtschaftsinformatik war und mir die Schreibutensilien ausgeliehen hatte, nach meiner Handynummer, um mich der Wirtschaftsinformatiker WhatsApp-Gruppe hinzuzufügen. Ich zögerte und lief wieder leicht rot an: „Ähm, ich habe mein Handy gerade nicht bei mir.“ Sie war schon dabei gewesen, den Kontakt auf ihrem Handy zu erstellen und wartete geduldig auf meine Nummer. „Wie, du hast dein Handy nicht bei Dir?“ Ich lächelte etwas verlegen: „Ja also, es ist gerade kaputt.“ Sie wollte nicht lockerlassen: „Aber ein Ersatzhandy hast du auch nicht?“ Langsam wurde mir das Ganze unangenehm: „Hmm, nee. Muss ich mir noch besorgen.“ Gerade, als ich dachte, ich hätte es geschafft, hakte sie noch einmal nach: „Aber deine Telefonnummer kannst du mir ja nennen, dann speichere ich die schon mal ein.“ Ich war mir sicher, dass sie dachte, dass ich ihr meine Nummer nicht mitteilen wollte – was jedoch meinem offenen und extrovertiertem Verhalten von heute Morgen widersprechen würde. Ich antwortete: „Ich kenne meine Nummer nicht auswendig. Hab‘ eine neue.“ Endlich gab sie auf. Trotzdem war ich unglücklich darüber, dass ich diese wertvolle Gelegenheit so verstreichen lassen musste. Ich würde mir heute auf jeden Fall ein kleines Ersatzhandy kaufen.
Das nächste unangenehme Ereignis stand allerdings bereits bevor. Nach dem Kurs nahm ich meinen Stundenplan in die Hand und stapfte zum Tutor, nachdem alle den Raum verlassen hatten: „Hey Sebastian, könntest du eventuell hier unterschreiben? Du weißt Bescheid, oder?“ Er sah mich fragend an, als verstünde er nur Bahnhof. „Ne, was soll ich unterschreiben?“ Ich holte tief Luft. In der Zwischenzeit war Tarik in den Raum getreten und lachte sich schlapp. Ich stammelte: „Also: Ich, bzw. wir beide, sind aus der Haft. Also Freigänger. Dürfen studieren und müssen abends aber wieder zurück ins Freigängerheim. Ich brauche einen Nachweis dafür, dass ich heute da war, daher benötige ich deine Unterschrift.“ Sebastian wirkte auf mich so, als könne ihn so schnell nichts schocken, doch das hielt er offensichtlich für einen schlechten Scherz: „Ihr verarscht mich doch, oder?“ Tarik mischte sich ein: „Haha, glaubst du uns das nicht?“ Sebastian konnte es Tarik in seiner Tracht wohl eher abkaufen, aber mich blickte er noch immer an, als erzählte ich ihm einen schlechten Witz. „Ja ok, also ich kann das schon unterschreiben. Aber ich finde das gerade etwas krass. Wo ist denn das Freigängerheim?“ Während er unterschrieb, erklärte ich ihm kurz die Situation und verabschiedete mich schnell. Diese Story würde sicherlich bald die Runde machen. Ich bat ihn trotzdem, das für sich zu behalten, denn noch war es ein wohl gehütetes Geheimnis.
Doch ich selbst hielt mich nicht an meine mir selbst auferlegte Schweigepflicht und gab mein Geheimnis bereits nach einigen Tagen preis. Tarik und ich saßen auf einem Viererplatz in der Bahn von Heilbronn zurück nach Schwäbisch Hall. In letzter Minute stieg eine Kommilitonin zu, die ich im Mathe-Vorkurs kennengelernt hatte. „Hey Sabrina!“, grüßte ich sie freudig. Sie lächelte: „Hey Emre.“ Ich zeigte auf den leeren Platz neben mir: „Setz dich doch zu uns. Das ist der Tarik.“ Sie begrüßte ihn und setzte sich. Der Zug fuhr ab und wir kamen langsam in ein sehr angenehmes Gespräch. Wahrscheinlich schien ich eine gewisse Sympathie und Vertrautheit auszustrahlen, denn sie gestand mir direkt ein Geheimnis. Jedenfalls schien es so, als erzählte sie dies nicht jedermann. Als sie mit ihren Erzählungen begann, rutschte mir das Herz in die Hose. Sie hatte das erlebt, wovor ich selbst große Angst gehabt hatte: Sie hatte kürzlich nicht nur ein, sondern zwei ihrer Familienmitglieder verloren – ihre Eltern. Irgendwie wollte ich ihr zeigen, dass ich sie verstand, obwohl ich mir natürlich bewusst war, dass niemand, der das nicht selbst erlebt hatte, würde nachempfinden können. Ich sagte also etwas, wovon ich dachte, dass es das Richtige in dieser Situation sein würde – ungeachtet dessen, wie es bei ankommen würde: „Hey Sabrina. Schau, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Du dich fühlst. Aber eigentlich kann ich das auch nicht…es ist echt schwer. Keiner wird dich wirklich verstehen können, niemals den Schmerz nachempfinden können, wenn er es nicht selbst erlebt hat. Was ich dir nur sagen kann, ist, dass ich auch eine harte Zeit hinter mir hatte. Ok, es ist nicht ansatzweise zu vergleichen mit dem, was du durchgemacht hast. Aber ich saß die letzten zwei Jahre im Gefängnis und das war eine sehr schwierige Zeit für mich. Keiner kann verstehen, was ich durchgemacht habe. Aber wie gesagt, das ist nicht mit deiner Situation zu vergleichen. Ich bin selbst schuld, dass ich ins Gefängnis gekommen bin. Und mein Gott, man kann das nicht vergleichen mit dem Verlust von Familie. Ich will nur damit sagen, dass es schwierig gerade bei Dir ist, aber dass ich es voll stark von dir finde, wie du weitermachst. Dass du trotzdem studierst, oder gerade deswegen studierst.“ Ich konnte mich in diesem Moment kaum ausdrücken und verfiel in Gestammel. Eigentlich wollte ich ihr nur zeigen, dass ich in ihren Augen irgendetwas Vertrautes sah, etwas Starkes, Zuversichtliches. Dass ich genau dieses Gefühl in meiner Situation gut nachvollziehen konnte – nicht mehr, und nicht weniger.
Lediglich diese Gemeinsamkeit wollte ich aufzeigen. Ich war es falsch angegangen, hatte mich nicht genau ausgedrückt – wie konnte ich es nur wagen, meine Vergangenheit mit ihrer zu vergleichen? Ich schämte mich, als sie mich nach meinen „tröstenden“ Worten ansah, als hätte sie ein Monster gesehen. Das Gespräch brach abrupt ab, ein kühler Wind wehte durch die Sitzreihen und auch ihre Stimme wurde leise, als sie uns fragte: „Seid ihr beide aus dem Knast, oder wie?“ Wir bejahten. „Und was habt ihr gemacht?“ Wir begannen mit unseren Erzählungen. „Und was ist nun euer Plan?“ – „Wir führen unseren Plan gerade aus. Wir studieren.“ Die Fahrt zog sich ab da wie Kaugummi. Ich war erleichtert, als wir ausstiegen. Auch, wenn mich das Gespräch sehr beschäftigte, konnte Tarik mich mit seinen Witzen ablenken. Seinen Humor konnte ich zu 100% teilen und genoss, ungeachtet seiner etwas schwierigen Persönlichkeit, seine Gesellschaft.
Plötzlich fragte ich mich, ob ich mich in der normalen Welt, abseits der Haft, überhaupt noch zurecht finden konnte. Ob ich mich damit abfinden musste, dass ich ein Vorbestrafter war, ein Häftling. Gehörte ich nun einer Minderheit an, die nirgends mehr willkommen war? Doch ich hatte nicht den ganzen weiten Weg aufgenommen, um jetzt zu versagen. Hatte nicht umsonst gekämpft, um jetzt aufzugeben. Hatte nicht meinen Eltern und mir eine gute Zukunft versprochen, um sie nun nicht zu haben. Hatte nicht das Feuer in mir entfacht, um es nun einfach zu löschen. Die Ampel war noch nicht rot, sie war gelb – bremsen war jetzt nicht, mit einem glorreichen Kickdown würde ich die Kreuzung überqueren! Angekommen im Freigängerheim, holte ich mir die Erlaubnis für einen kleinen Stadtausgang. Ich kaufte mir alles, was ich benötigte. Stifte, Block, Mappen, eine Umhängetasche – und auch eine Prepaidkarte. „Ich habe ein altes Smartphone für dich, Bro“, meinte Tarik, als er mir ein iPhone 5 in die Hand drückte. „Wow, das ist doch nicht alt – ich hatte zuvor nur ein iPhone 4“, erwiderte ich verblüfft und bedankte mich – jedoch nicht ohne ihm zu versichern, dass er es gegen Ende der Woche zurück erhalten würde. Am nächsten Tag tauschte ich endlich Nummern mit Nina aus. War nun endlich ein Teil der Wirtschaftsinformatik Erstsemester WhatsApp-Gruppe. Monika, Tran, Namita, Max, Peter und und und … ich lernte sie alle kennen. Stellte mich allen vor. Ich erzählte, ich hörte zu. Verschlang jedes der Worte aus Sebastians Mund, welche mir die mathematischen Grundlagen näher brachten. Ich spürte das Leben, die Herausforderung, meine ganz eigene Entwicklung – fühlte den Asphalt, auf dem ich die ersten Tage so fest wie nie zuvor auftrat, weil mich jeder Schritt in der Freiheit so unendlich glücklich machte. Manchmal schwebte ich jedoch auch.
Denn dann sah ich sie. Wir hatten immer wieder in den Pausen Blicke ausgetauscht. Für sie schwebte ich besonders langsam durch die Flure der Hochschule Heilbronn. Nur um einen ihrer Blicke zu erwischen. Und ich ergriff meine Chance, als sie da war. Der Mathe Vorkurs war vorbei und das Semester würde endlich starten. Ich hatte bereits die letzten zwei Wochenenden bei meinen Eltern verbringen können, doch das gab mir nicht das gleiche extrem erfüllende Gefühl, welches ich in der Hochschule spürte. Voller Motivation im Herzen, lauter Musik in den Ohren und dem iPhone 4 in den Händen – welches das Bundeskriminalamt mir verwanzt zurück geschickt hatte, was mir herzlich egal war – stieg ich aus dem Bus und lief mit den Erstsemestern in Richtung Aula. Dort stand sie. Sie war alleine, das war meine Chance! „Hey, auch ganz alleine unterwegs?“ Sie lächelte mich an, so wie sie es schon einige Male zuvor getan hatte: „Ja, so wie fast jeder hier, oder?“ Ich lachte: „Dann lass uns doch zusammen in der Aula sitzen.“ Sie kam mit mir und wir setzten uns nach ganz oben. „Das ist sowas wie die Loge hier. Hab im Kino mal gearbeitet. Da versucht jeder diesen Platz zu bekommen. Ich bin übrigens der Emre, und du?“, fragte ich sie fröhlich. Sie reichte mir die Hand: „Beyza.“ Wir redeten noch kurz, bevor die Einführungsveranstaltung anfing. Tauschten danach noch Nummern aus. Trafen uns zum Mittagessen und zum Kaffee – öfter, als normale Freunde.
Der klare Vorteil am Mathe-Vorkurs war, dass ich schon einige Kommilitonen kennengelernt hatte. So konnte ich mich direkt in den ersten Vorlesungstagen mit ihnen unterhalten, während die „Neuankömmlinge“ sich noch in der Findungsphase befanden. So extrovertiert wie ich war, wollte ich aber natürlich alle kennenlernen. Mit allen sprechen, mich mit allen austauschen. Ich hatte solch einen Hunger nach sozialen Kontakten! Es entwickelten sich Gruppen, doch ich gehörte keiner an. Wobei das nicht ganz stimmte. Ich verstand mich mit jedem, war irgendwie teil jeder Gruppe. Für mich überraschend, kam ich mit dem Stoff sehr gut mit. Die Professoren waren allesamt kompetent und mit der Zeit wussten sie Bescheid, wenn ich mit meinem Stundenplan angetanzt kam und nach der obligatorischen Unterschrift bat: „Und, alles gut soweit?“ fragten sie mich manchmal. Aber ich erzählte ihnen nicht viel: „Alles gut! Und vielen Dank, dass ich an Ihrer Vorlesung teilnehmen darf!“ Ich gab mir besonders viel Mühe, und jeder bzw. jede sah, wie sehr ich ihnen an den Lippen hing. Wenn sie Vorurteile hatten, dann würde ich dafür sorgen, dass diese erloschen! Ich würde es ihnen spätestens am Ende des Semesters zeigen – doch bis zur Prüfungsphase war es noch ein gutes Stück und ich wollte mehr „Stoff tanken“, mehr Lernstoff einsaugen!
Und die Studenten, meine Kommilitonen, sie sahen mich auch. Doch alles, was sie sahen, war dieses Stück Papier, dass ich nach jeder Vorlesung beim Professor vorzeigte. Eines Tages sprachen sie mich darauf an: „Emre, was musst Du da unterschreiben lassen?“, Tran war der Neugierigste und nach mir der Extrovertierteste von allen. Ich stand mit einer Gruppe Kommilitonen, die ich nun besser kennengelernt hatte, vor der Tür. Sie hörten alle gespannt zu, als ich zu der Erklärung ansetzte: „Jungs, mein Vater, der ist politischer Flüchtling. Ich muss hier immer unterschreiben lassen, damit das Regierungspräsidium weiß, dass ich hier bin. Sonst muss ich nämlich zurück in die Türkei.“ So schnell, wie ich mir diese Erklärung aus dem Hut gezaubert hatte, so schnell kauften sie sie mir auch ab. Ich war gespannt, wie schnell sich das herumsprechen würde.
Doch lange musste ich nicht warten. Am nächsten Tag kam Nina zu mir: „Emre! Hab gehört, du bist Flüchtling?“ Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. „Wer hat das denn erzählt?“, fragte ich zurück. Sie wurde etwas verlegen: „Naja, das sagen hier alle.“ Mein Grinsen wurde breiter. Ich muss gestehen, dass es Spaß machte, zu wissen, dass man über mich redete: „Das stimmt nicht. Ich bin ehrlich zu dir. Ich komme aus der Haft. Bin im Freigängerheim und muss deswegen unterschreiben lassen, weil ich nur zum Studieren aus der Haft raus darf.“ Sie kniff die Augen zusammen. Offensichtlich glaubte sie mir nicht: „Ach was, als ob.“ Ich lachte los: „Haha, natürlich stimmt das nicht. April, April!“, rief ich. Es war tatsächlich der erste April und der vermeintliche Witz kam an. Sie lachte. „Und ich dachte schon“, rief sie erleichtert. Trotz ihrer Erleichterung wollte ich das Ganze schnellstmöglich auflösen. „Ganz ehrlich – die Story mit der Haft stimmt. Nicht die mit dem Flüchtling. Oder ist mein Deutsch echt so schlecht?“ Nun hatte ich sie endgültig verwirrt. Irgendwie schien sie auch wütend. Sie drehte sich weg und rief: „Ach, ich frag dich einfach morgen nochmal.“ Ich nickte, und machte mich weiter auf den Weg.
Langsam fühlte ich mich wie ein kleiner Star. Und so langsam fühlte ich mich auch so wohl mit meinen Kommilitonen, dass ich den Entschluss fasste, jedem Fragenden die Wahrheit zu erzählen. Max erzählte ich es, als er mein altes iPhone 4 sah und sich fragte, wieso ich noch das uralte iOS draufhatte. Meine Erklärung, „haben mir die Bullen so zurückgeschickt“, kaufte er mir nicht ab. Tran erzählte ich es, als ich schon zum dritten Mal seiner Einladung, bei ihm daheim zu chillen, nicht nachgekommen war. Meine Erklärung, „hey Tran, würde echt gern bei Dir chillen. Aber ich darf nicht weg vom Campus. Muss zurück in die Haft“, kaufte auch er mir nicht ab. Nina erklärte ich es nochmals – nach dem ersten April, wohlgemerkt – wonach sie es mir wirklich abkaufte. Mehmet, ein türkischer Student, mit dem ich öfter zu tun hatte, wollte einen Beweis sehen. Ich zückte meinen Freigängerheim-ausweis. Auch Mehmet glaubte mir nicht. „Das ist doch sowas von gefälscht.“ Ich sah den – zugegebenermaßen wirklich stümperhaft aussehenden Ausweis – an und erklärte ihm grinsend: „Stimmt. Aber das Ding ist einfach schief einlaminiert, aber ich habe das so von der JVA bekommen.“ Als wir eines Tages auf die Idee kamen, beim Döner um die Ecke zu essen, rief ich beim Freigängerheim an. Aber auch, als ich mir die Erlaubnis vor allen anderen telefonisch einholte, glaubte mir niemand.
Ich saß in dieser Vorlesung ausnahmsweise ganz hinten, denn der Dozent wirkte auf uns Studenten so, wie Pummeluff auf die anderen Pokémon – es war zum Einschlafen. Peter und Tran saßen zu meiner Rechten und flüsterten: „Emre, wir glauben immer noch nicht, dass du aus dem Knast kommst.“ So langsam hatte ich es dann doch satt, allen beweisen zu wollen oder zu müssen, dass ich nicht log. Einerseits bereute ich es, das überhaupt mitgeteilt zu haben, andererseits tat die Aufmerksamkeit, die ich nach langer Zeit nun dadurch bekam, sehr gut. Also zückte ich mein Handy: „Schau mal, Peter. Ich gebe jetzt ‚Cem Ates Computerbetrug‘ in Google ein, und da wird ein Artikel von der BILD Zeitung kommen. Mein Bruder hatte nämlich noch mit anderen Jungs Mist gebaut und das kam dann in die Zeitung. Da haben die ihn fotografiert, aber halt mit einem Balken über den Augen.“ Ich zeigte ihm das Foto meines Bruders auf meinem Handy und auch das Foto, welches leider bei dem Artikel der BILD zu sehen war. Er sah sich beide Fotos an und kam zum Entschluss: „Das ist der doch gar nicht.“ Ich schaute ihn an, als hätte er etwas sehr Dummes gesagt: „Willst du mich verarschen? Hätte nicht gedacht, dass so ein schwarzer Balken über den Augen einen so unkenntlich machen kann. Du erkennst da echt keine Gemeinsamkeiten? Komm schon, das ist der doch. Warte, ich schreib dem mal kurz.“ Ich sendete meinem Bruder eine Nachricht: „Hey Cem, wo bin ich gerade? Also, wo übernachte ich zur Zeit?“. Seine Antwort kam prompt: „Was meinst du? Dass du in Haft bist, oder was?“ Ich zeigte Peter den aktuellen Verlauf, zeigte ihm nochmals den Namen meines Bruders. Er begann, der Geschichte Glauben zu schenken. Erzählte sie sogleich Tran, der zu seiner Rechten saß. Von da ab entwickelte das Ganze seine eigene Dynamik. Es verbreitete sich wie Lauffeuer, sie kamen alle wieder. Nach und nach. Sie fragten nach dem Wahrheitsgehalt des Gerüchts, bekamen ihre Bestätigung und zeigten zu meinem Glück weder Abneigung, noch ließen sie andere negative Äußerungen verlauten. Ich bekam Beachtung und alle waren gut mit mir.
Bis auf eine. Sabrina.
Eventuell lag es daran, dass Sabrina schon viel reifer war als die restlichen 19/20-jährigen Studenten. Sie war ungefähr in meinem Alter, also etwa fünf Jahre älter als der Durchschnitt. Sie hatte ganz andere Hürden, Konflikte, Werte und Ziele als der Rest. So schien es mir zumindest. Ich genoss die Bahnfahrten von Schwäbisch Hall nach Heilbronn und wieder zurück. Mal mit Tarik, mal alleine. Aber stets in meine Gedanken, Ziele und Träume vertieft. Die Landschaft raste an mir vorbei und ich konnte Menschen, den Horizont und noch vieles mehr sehen. So fühlte sich die Freiheit an!
Doch dann kam diese eine Bahnfahrt, die mich aus meinen Tagesträumen zerrte. Mir war bereits aufgefallen, dass Sabrina am Bahnsteig einen großen Abstand zu mir hielt und es vermied, mit mir zu sprechen. Ich redete mir stets ein, dass sie mich sicherlich nicht gesehen hatte und deswegen nicht zu mir kam. Dennoch hielt mich irgendetwas davon ab, ihr in solchen Situationen ein gut gelauntes „Guten Morgen!“ entgegen zu trällern. Als ich dann eines Tages am Bahnsteig ankam und sie bereits am Gleis vorfand, fasste ich all meinen Mut zusammen und ging zu ihr hin: „Hi Sabrina!“ Sie erwiderte meine Begrüßung. Ich war fröhlich drauf, so, wie ich es immer war, wenn ich Kontakt zu anderen Menschen hatte – vor allem dann, wenn ich sie gut leiden konnte. Ich wollte einfach nicht glauben, dass Sabrina ein Problem mit meiner Vorgeschichte hatte. Ich redete und erzählte, versuchte, ihre Mimik zu deuten. Als die Bahn am Gleis einfuhr, stieg ich zügig ein, denn ich wollte meinen obligatorischen Fensterplatz. Fröhlich, einen ergattert zu haben, machte ich es mir gerade auf dem Sitz gemütlich, als Sabrina an mir vorbeilief. Ich dachte, dass sie mich nicht gesehen hatte. So blieb der Platz neben mir leer. Ich nahm meine Tasche, stand auf und sah, wie Sabrina in den mittleren Sitzreihen der Bahn Platz genommen hatte. Ich lief in ihre Richtung und rief ihr entgegen: „Huch, Sabrina, du hast mich glaub übersehen …“ Ihre Antwort ließ keinen Zweifel: „Nö, das passt schon.“ So stand ich direkt neben ihr und wartete darauf, dass sie ihre Tasche von dem Sitz neben ihr wegräumte. Doch sie blickte wieder aus dem Fenster und machte keinerlei Anstalten, mir den Platz neben ihr frei zu räumen. Plötzlich wurde mir schlecht und ich errötete. Beschämt ging ich zurück zu meinem Platz und spürte, wie mein Gedankenkarussell wieder anfing. Ich empfand ein Gefühl, welches in den letzten Wochen rar geworden war: ich war unendlich traurig. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Sabrina aufgrund meiner Vergangenheit zu mir Abstand hielt, und das fuchste mich. Ich war mir sicher, dass wir sonst auf einer Wellenlänge gewesen wären. Doch konnte ich ihr das wirklich übel nehmen? War meine Erwartungshaltung, alle sollten meine Vergangenheit einfach so akzeptieren, nicht absurd? Wie hätte ich denn als Unbedarfter auf einen Häftling reagiert? Hatte ich das ganze Thema mit der Haft nicht zu leichtsinnig genommen? Sabrina war an diesem Tag der Grund für eine sinnbildliche Vollbremsung. Ich wollte Gas geben. Ich wollte es allen beweisen, ja. Aber das konnte nicht alles so schnell passieren, wie ich es mir erhofft hatte.
Dieser Weg, er war so unendlich lang. Wenn ich wirklich wollte, dass mich die Leute trotz meiner Vergangenheit akzeptierten, dann musste ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten – musste den Sicherheitsabstand waren. Nur so würde ich sicher am Ziel ankommen. Ich wurde vorsichtig.